Menschen und Gegenstände: Putins Tisch für 599 Euro
Sicher, am Design von Putins Tisch müsste noch gearbeitet werden. Aber so eine Aura der Unnahbarkeit wäre auch im Arbeitsleben wünschenswert.
E ntschuldigen Sie, heute habe ich nicht viel Zeit, ich muss zu Ikea, da gibt’s jetzt Putins Tisch für schlappe 599 Euro. Na ja, natürlich nicht wirklich. Von skandinavischem Design ganz zu schweigen, ist dieser Tisch so weit entfernt wie die Menschen, die an ihm sitzen, voneinander. Weißer Pomp auf drei plumpen Säulen wird sicher nie ein Klassiker – obwohl Putins Empfangstisch eigentlich die wichtigste Voraussetzung für gutes Design erfüllt.
Form follows function, die Form folgt der Funktion: maximale Distanz zu den verhassten westlichen Kollegen. Andererseits lässt der Trumm-Tisch Putin selbst auch relativ klein aussehen, was noch von der für seine Oberkörperlänge ungünstigen Sitzhöhe unterstrichen wird. Der Bärentöter Putin sitzt am eigenen Tisch immer ein bisschen wie ein Junge bei den Schularbeiten.
Aber angenommen, Ikea oder Ligne Roset würden noch etwas am Design tüfteln, dann wäre so ein Tisch auch für mich interessant. Eigentlich möchte ich nur dann aus dem Homeoffice ins Büro zurückkehren, wenn mir und allen anderen so ein Tisch als Arbeitsplatz im anscheinend nicht totzuhustenden Großraumbüro bereitgestellt wird. Was für Vorteile das hätte, wird mir erst jetzt – Danke, Putin! – bewusst. Vorbeischlendernde Mansplainer etwa müssten schon tief Luft holen, um mir die Lage im Nahen Osten zu erklären – und im Zweifel würde ich sie gar nicht hören auf die Entfernung. Ja, es wäre eigentlich nur die Fortsetzung vieler Gespräche mit anderen Möbeln – jeder redet unbehelligt vor sich hin!
Die schiere Distanz eines solchen Tischs verschaffte einem nicht nur genug personal space, was ja in Zeiten von Corona Gold ist, sondern auch etwas, das Rilke so beschreibt: „So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten, voller Erscheinung, aus der Ferne an“ – eine Aura im Benjamin’schen Sinne. Benjamin verwendet den Begriff, um das Spezifische eines Kunstwerks zu beschreiben, das sich durch seine Unnahbarkeit und Einmaligkeit auszeichnet und dadurch, dass es an einen Ort gebunden sowie in die Geschichte eingebettet ist. Allerdings ist diese Aura aber etwas, das durch die Reproduzierbarkeit von Bildern perdu ist. Demnach könnten nur Scholz oder Macron Putins Aura am langen Tisch gespürt haben, uns, die wir nur die Bilder sehen, bleibt die Erfahrung verwehrt.
Wie weit sitzen solche Männer von ihren Gefühlen entfernt?
Die Frage ist: Möchte Putin ein Kunstwerk sein oder nur signalisieren, was eh alle wissen: dass ihm völlig wumpe ist, was sein Gegenüber zu sagen hat? Würde, das ist ja wie mit großen Autos, verleiht ihm der große Tisch jedenfalls nicht. Und wenn es ihm tatsächlich darum geht, gehört zu werden, schießt er sich mit dem Tisch selbst in den Fuß, denn am anderen Ende würde zumindest ich gar nicht mehr hören, was er sagt.
Aber die Unnahbarkeit, die mit dieser Aura kommt, die würde ich mir – so gut ich einander hören auch finde – schon bisweilen wünschen. Gegen Kollegen bei früheren Arbeitgebern, die sich gern mal sehr dicht hinter meinen Stuhl gestellt oder mir gleich ungefragt die Schultern massiert haben, hätte Putins langer Tisch auch nicht geholfen – allerdings ließen die sich eh mit einer hochgezogenen Augenbraue vertreiben.
Aber das echte, fiese Patriarchat, gegen das ich mir und allen Frauen mehr Unnahbarkeit wünsche, ist, woran mich heute auch das SZ-Magazin erinnert, immer noch überall. Noch immer wird in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von einem Mann getötet, meistens ist es ihr Partner oder ihr Ex. Ich frage mich, welcher überdimensionale metaphorische Tisch liegt zwischen den kleinen süßen Jungs, die auf den Spielplätzen rumflitzen, und solchen Typen?
Klar, jeder Erwachsene ist selbst für sein Verhalten verantwortlich, aber bei dieser Datenlage fragt man sich schon, was da schiefläuft. Wie weit sitzen solche Männer von ihren eigenen Gefühlen entfernt? Warum hat ihnen niemand gesteckt, dass sie auch ohne Monstertisch, ohne Freundin, ohne Weltmacht ganz okay sind? Dann könnten wir alle hübsch an Nierentischchen sitzen, entspannt wippend auf unseren geschmackvollen Breuer-Stühlen, wie echte Erwachsene.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen