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Menschen auf der FluchtWeder Druckmittel noch Handelsware

Gastkommentar von Sam Zamrik

Die Flüchtenden an der belarussisch-polnischen Grenze werden als eine Art biopolitische Waffe benutzt. Die EU hat vergessen, dass sie es mit echten Menschen zu tun hat.

Flüchtende an der polnisch-belarussischen Grenze und ein ehrenamtlicher Helfer Foto: Jakub Kaminski/imago

F lüchtende sind kein Druckmittel, mit dem man andere bedrohen kann. Wir sind keine Handelsware, mit dem man seine Menschlichkeit messen kann. Die Politik hat vergessen, vielleicht schon seit mehreren Jahren, dass es MENSCHEN sind, die sich an den ach-so-souveränen Grenzen Europas reiben. Vielleicht war die Politik sich dessen nie bewusst – wirft man einen Blick auf die griechischen Inseln, liegt dieser Eindruck nahe.

Mit der Türkei hat die EU damals einen guten Deal für sich selbst gemacht, als sie einige Milliarden Euro an Erdoğan zahlte, um uns zurückzuhalten. Das hat für etwa drei oder vier Jahre funktioniert, und die Mitte- und Rechtsparteien haben darüber lange Zeit gejubelt. Jetzt aber ist es anders.

Die Art und Weise, wie die EU die wenigen Tausend Migranten behandelt, die derzeit an der polnisch-belarussischen Grenze festsitzen, wirkt wie eine sehr deutliche Drohung und Bedrohung. Als seien diese Migranten bis an die Zähne mit kulturellen Minen und ideologischen Raketen bewaffnet, die das glorreiche westliche sozioökonomische Bergmassiv erschüttern werden. Polen und Deutschland rüsten ihre Grenzen auf und überwachen sie, um nicht noch mehr von uns hereinzulassen.

Sie wollen damit einen Racheplan Putins und Lukaschenkos vereiteln. Dieser Plan besteht darin, Geflüchtete in die EU zu schleusen. Als seien die Kriege in Syrien, Irak, Jemen, Libyen, Afghanistan oder anderswo auf der Welt schon vorbei! Als gäbe es keine Gründe mehr für Massenflucht! Sie dürfen nicht vergessen, dass wir nicht verschwunden sind, nur weil Sie eine Weile nichts von uns gehört haben – unsere Verhältnisse haben sich nicht verändert.

Sam Zamrik

ist ein in Damaskus geborener Lyriker, Übersetzer und Musiker, der auf Englisch und Deutsch literarisch schreibt. Er arbeitet als Gast-Kurator für das Archiv der Flucht am Haus der Kulturen der Welt. Im Herbst 2022 erscheint seine Lyriksammlung „Sophistry of Survival“ im Hanser Berlin Verlag. Daneben ist er in der Untergrund-Musikbewegung „New Wave of Syrian Metal“ aktiv sowie Manager und Texter der Metal-Band „Eulen“.

Wenn wir nicht an euren Grenzen sterben, sterben wir anderswo unter Diktatur und Hunger. Das Problem ist: Wir werden so behandelt, als wären wir so oder so fast tot und die Hilfe, die uns angeboten wird, wird als Großzügigkeit verstanden. Das ist aber eine weitere Ebene der Entmenschlichung, die nicht einmal die Tatsache berücksichtigt, dass es sich hier in erster Linie um Menschen handelt, die vor Krieg und Ausbeutung geflohen sind, Menschen mit individuellen Motiven und Kämpfen.

Als wären wir schon fast tot

Es handelt sich also um Lebewesen, die Traumata erfahren haben und nun hier erneut bis in den Tod traumatisiert und gefoltert werden. Wir werden jetzt nicht nur als Geflüchtete behandelt, auch nicht nur als eine wirkliche Seuche, die entweder verborgen oder bekämpft werden muss, sondern als biopolitische und bioökonomische Waffe, die von außen auf Europa gerichtet ist. Dies hat schwerwiegende Folgen.

The Guardian berichtete, dass Polen den Ausnahmezustand über seine Grenzen verhängt hat, ein Grenzregime, das sich schon vollständig militarisiert hat, um unbewaffnete, unterernährte, schlaf-, wärme-, und hilflose, fast nackte Menschen von der Einreise abzuhalten. Deutschland, nach Horst Seehofer, ist völlig bereit, dabei zu sein. Es sei eine europäische Pflicht, die Grenzen aufzurüsten.

„Natürlich nicht mit Schusswaffengebrauch, aber mit den anderen Möglichkeiten, die es ja auch gibt“, sagte Seehofer. Und dann heißt es, Belarus solle aufhören, das Leben von Menschen in Gefahr zu bringen? Ist das ernst gemeint? Diejenigen, die Menschen in Not die Durchreise gewähren, bringen ihr Leben in Gefahr? Nicht diejenigen, die sie draußen sterben lassen? Auch nicht diejenigen, die sie zu geschlossenen Grenzen drängen?

Dann muss sich die EU wirklich als eine unmenschliche Institution begreifen – oder man kann das auch anders verstehen: Wer sich in einem Ausnahmezustand befindet, wird entmenschlicht—in diesem Fall, wer nicht Eu­ro­päe­r:in ist (was das auch immer bedeuten soll), ist kein Mensch und daher unwürdig. So ist es, ob es uns komplett bewusst ist oder nicht: Mit diesen Tatsachen lebt je­de*r Flüchtende.

Mbembe nannte das Nekropolitik, und dies ist eines ihrer unverblümtesten Gesichter. Die Nekropolitik ist die Ausübung der höchsten Befugnisse, über die ein souveränes Land oder eine Union verfügt. Sie bedeutet, dass Deals und Geschäfte über die Verletzlichkeit und Sterblichkeit von Menschen, die in einen Ausnahmezustand versetzt werden, gemacht werden dürfen.

Für einen geflüchteten Menschen beginnt der Ausnahmezustand oft schon in ihren Heimatländern, da der Ausnahmezustand das beste politische Mittel für eine Regierung ist, ohne Rechenschaftspflicht zu handeln und alle Arten von Gräueltaten zu begehen. In Syrien zum Beispiel bedeutet das willkürliche Verhaftung und gewaltsames Verschwindenlassen von normalen Bürgern aus ihrem Alltag.

In Polen bedeutet das eine erzwungene Rückführung von Einreisenden, ohne sie über ihr Ziel zu informieren sowie ein Blackout der Medien. Ausgenommen aus der Sphäre der Menschenrechte zu sein bedeutet, dass es keine Regierung oder offizielle Behörde gibt, die für den geflüchteten Menschen kämpft. Wenn er oder sie getötet oder ausgebeutet wird, wird diese Tötung und Misshandlung problemlos legal.

Missbrauch als biopolitische Waffe

Das hört nicht auf, wenn eine Grenze überschritten wird, es endet nicht mit einem Antrag oder einem Dach über dem Kopf. Wir bleiben darin, bis wir sterben oder eine andere Staatsangehörigkeit erhalten. Dennoch, innerhalb dieses ganzen Spektrums der Sterblichkeit, in dem wir leben, ist das, was die EU jetzt vorschlägt, die hässlichste Seite und die näheste zum vollen Tod.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist – die Tatsache, dass wir als biopolitische und bioökonomische Waffe gegen die EU eingesetzt werden; dass die EU lieber Ressourcen spart, um uns draußen zu halten, anstatt uns als Menschen zu behandeln; oder dass wir nirgendwo anders legal hin dürfen. Das Problem ist immer vielfach. Jetzt ist es noch komplizierter geworden: Wenn man als bioökonomische Waffe benutzt wird, infiziert das den ganzen Diskurs darüber.

Lesung mit Sam Zamrik

Der syrische Lyriker Sam Zamrik liest am Mittwoch, 17.11.2021, im Roten Salon der Volksbühne in Berlin zusammen mit Abdalrahman Alqalaq eigene Gedichte und Texte.

Ak­ti­vis­t*in­nen werden zu Verbrecher*innen, Hel­fe­r*in­nen werden zum Menschenhändler*innen, Geflüchtete herein zu lassen wird zu einem Anschlag oder einer Gefahr – einer Gefahr, für die Europa bereit zu sein scheint, in einen Krieg zu ziehen, jetzt, nachdem sie nochmal ihre souveränen Muskeln spielen lässt. Sind Sie bereit, in einen Krieg zu ziehen? Wenn nicht, erheben Sie bitte die Stimme und schreien: KEIN DRUCKMITTEL! KEINE HANDELSWARE!

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21 Kommentare

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  • Auch Christen wie Herr Seehofer können in die Hölle kommen.

  • Wenn ich das lese, dann wird mir ganz übel – es stört mich, dass "die Politik" sich in Grundsätzlichkeiten verliert, einen Schuldigen sucht (natürlich ist das Lukaschenko, keine Frage!) und den Blick auf den nächsten, zwingenden Schritt verliert. Ja, „prinzipiell“ ist dsa Erpressung, aus "Prinzip" muss man das Verhalten Lukaschenko anprangern – aber konkret muss man den Menschen helfen. Grenzübertritt ermöglichen, Asysl-Verfahren in Polen einleiten, den Menschen helfen.

    Menschlichkeit ist mir persönlich wichtiger als dieses "Prinzip". Während die Philospophen noch diskutieren, leiden dort Menschen. MENSCHEN!!!

  • "Die Flüchtenden an der belarussisch-polnischen Grenze werden als eine Art biopolitische Waffe benutzt. Die EU hat vergessen, dass sie es mit echten Menschen zu tun hat."



    Die EU ist Schuld?



    Putin und Lukeschenko benutzen Flüchtlinge unter totaler Menschenverachtung als Waffe - und sind dann angeblich noch freundlich?



    Wie wäre es denn, wenn Putin und Lukaschenko sich in menschenwürdiger Weise um die Flüchtlinge (und ihre eigene Bevölkerung) kümmern würden? DAS wäre lobenswert. Passiert aber nicht.



    Und warum wird ihnen das nicht zum Vorwurf gemacht?



    Herr Zamrik, warum?

    • @Mainzerin:

      Danke für Ihren Antwort.

      Nein, sie sind gar nicht freundlich. Sie sollen dafür auch nicht geehrt werden.

      Russland und Belarus sind beides Diktaturen, die direkt an der Gründe und Situationen beteiligt sind, die uns dazu bringen, aus unseren Ländern zu fliehen. Ich dachte, dass das ja selbstverständlich ist.

      Wenn wir vor Assad fliehen, fliehen wir auch vor der Hegemonie Russlands. Die Tatsache, dass uns das nicht erlaubt wird, stärkt nur die Position solche Diktaturen.

      Russland, Assad, und co. haben eine vollständige Autorität über uns, und wenn wir davor fliehen wollen, werden wir weiter entmenschlicht. Da gibt es auch keine anderen legalen Wegen, dies anders zu tun.

      Wohin sollen wir denn?

    • @Mainzerin:

      Vllt weil weder Belarus noch Russland ständig mahnend den Zeigefinger heben um auf Menschenrechte zu verweisen?

      • @Badmonstercat:

        Wollen Sie damit sagen, dass Putin und Lukaschenko moralisch besser da stehen in ihren Menschenrechtsverletzungen, weil sie offen zugeben, dass das zu ihren politischen Methoden gehört?



        Denn, sorry, natürlich würden die beiden sich absolut lächerlich machen, wenn sie mit dem Zeigefinger auf die Menschenrechte verweisen würden.



        Aber moment mal - ist es nicht genau DAS, was die beiden gerade gegenüber Polen und der EU versuchen?

  • Der Autor ist persönlich betroffen. Ok.



    Ja, die Kriege auf der Welt sind nicht vorbei und werden es nie sein.

    Aber die jetzigen Migranten konnten anscheinend recht einfach ausreisen und haben mit einem Visum ein neues Land gefunden. Ein Land, welches bei allen Defiziten, (noch) nicht als repressiv gegen Migranten bekannt ist.

    Damit erlischt die Begründung für eine Weiterreise.

    Zumal der Autor gerne die "EU" anführt. Aber die Migranten möchten gar nicht in die EU. Sie möchten nach D. Vielleicht noch ein paar wegen Verwandtschaft nach GB oder Schweden.

    • @fly:

      Danke für Ihren Antwort.

      Nein, das können wir nicht. Belarus stellt nur Touristenvisa aus, und die sind mit hohen Preisen verbunden, für die die Menschen ihr letztes Geld ausgeben. Und selbst dann erwartet die belarussische Regierung von ihnen, dass sie entweder in die EU weiterreisen oder nach Syrien zurückkehren. Das ist keine so große Wahl, oder?

      Und ja, ich spreche vor allem von der EU, denn sie ist die höhere Instanz in Sachen Menschenrechte und Asylrecht und hat Vorrang vor nationalen Gesetzen. Die Tatsache, dass Deutschland die EU anführt, ist nicht mein Problem oder das der Migranten.

      Danke nochmal.

  • Glücklich der Mensch auf dieser Welt, der nicht vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit flüchten muss. Die Worte von Herrn Zamrik gehen unter die Haut. Es ist beschämend für die gesamte EU, mit welch brachialen Methoden gegen Menschen vorgegangen wird und ja, auch mit welch kriegerischer Sprache die "Verteidigung" der EU-Grenzen gegen Menschen verlangt wird. Es ist zum Verzweifeln. Was kann man denn noch tun außer spenden, demonstrieren, fordern...

    • @Henni:

      Anstatt mit "Wir haben Platz" zu demonstrieren, einfach mal diesen Satz individualisieren "Ich habe Platz"! Bei mir hat ja auch ein schwuler Syrer ein Jahr lang mitgelebt, auch habe ich einem Iraker die Chemotherapie in Istanbul bezahlt, ich kann es mir natürlich auch finanziell leisten. ABER warum mache ich nur etwas, die meisten demonstrieren nur mit diesen Sinnlos-Plakaten rum. Internationale Solidarität ist das eher weniger. Naja.

    • @Henni:

      Danke für Ihr Antwort.

      Wir als Geflüchteten Menschen haben gar keine Politische Vertretung. Wenn Sie, als Staatsangehörige, Ihre Stimme für uns erheben, dann sollte es Hoffnung für uns geben. Aber sich weiterhin objektivieren und als Handelsware benutzen zu lassen, ist definitiv nicht der richtige Weg.

      Danke nochmal.

    • @Henni:

      Was wir noch machen können?



      Abgesehen davon das wir nicht frustriert schweigen?



      Ich glaube das ist schon eine Menge wert.

      Ständig darauf aufmerksam zu machen das es sich um Menschen handelt, es nicht stehen lassen wenn z. B Rechte bei spon etc die Kommentare übernehmen wollen.

      Klar bewirkt das erstmal nicht so viel und hilft den Menschen vor Ort auch nicht.

      Es bewirkt allerdings langfristig durchaus etwas. Mehr Menschen halten dagegen, hoffentlich irgendwann genug um die politischen Entscheidungen zu beeinflussen.

      • @Badmonstercat:

        Das ist ja alles wunderschön kostenlos und mit keinem (auch finanzielle) Aufwand verbunden. Hauptsache, man fühlt sich gut. Habe ein tolles Beispiel hier bei mir in Pankow. Bei mir im Vorderhaus lebt in einer Einzimmer-Wohnung ein junger Mann aus Afghanistan. ICH bin der einzige, der den mal zum Kaffee einlädt, letzes Weihnachten habe ich dem meine "Hutzelstube" (erzgebirger Volkskunst) gezeigt. KEINEM der in unserem Haus wohnenden Westler (alle natürlich super Öko und immer nur Bio-Laden) ist es auch nur eingefallen, dem mal als Person zu begegnen. Beim Praktischen hört es dann ganz schnell wieder auf. Ich erspare mir die Bewertung.

  • Irak und Libanon führen keine Flüge mehr durch. Damaskus auch nicht. Bleibt Istanbul. 90% der Flüchtenden hat keinen Anspruch auf Asyl. Wer als Kurde in die EU ausreisen möchte, kann sich bei den Konsulaten melden.

    • @Kappert Joachim:

      Danke für Ihren Antwort.

      Sind Sie Richter? Sie Sind ein Asylbewerber? Haben Sie jemals geflüchtet?



      Wenn nicht, dann sehen Sie bitte von solch pauschalen Aussagen ab.

    • @Kappert Joachim:

      "90% der Flüchtenden hat keinen Anspruch auf Asyl"



      Auch das ist schon ein Skandal wenn man Menschenrechte und minimale humanitäre Standards ernst nimmt.

      • @Ingo Bernable:

        Genau das sind aber die "Menschenrechte und minimale humanitäre Standards ".Der Flüchtlingsbegriff wird in der sogenannten Genfer Konvention definiert. Die werden Sie gewiss kennen.



        Darauf bezieht man sich weltweit ,auch die EU ,auch Deutschland.Wo ist da der Skandal?

  • Punktlandung. Chapeau!



    Grüße aus Norddeutschland

  • Ak­ti­vis­t*in­nen werden zu Verbrecher*innen, Hel­fe­r*in­nen werden zum Menschenhändler*innen!

    Geht's noch?

    • @GMNW:

      Willkommen in der Realität