„Marsch für das Leben“ in Berlin: Der gegenseitige Wunsch nach Abtreibung
In Berlin, Köln und Zürich demonstrierten fundamentale Christ:innen und Rechte gegen Schwangerschaftsabbrüche – in Berlin so wenige wie zuletzt 2004.
Die Gegendemonstrant:innen sind zuerst da. Hunderte Queerfeminist:innen stehen am späten Samstagvormittag auf dem Europaplatz im Schatten des Berliner Hauptbahnhofs. Sie halten blaue und violette Transparente in die Höhe, einige sitzen an Biertischen unter Pavillons und basteln Schilder. „Abort the Patriarchy“ und „My Body, My Fucking Choice“ steht darauf.
Wie seit mittlerweile 15 Jahren mobilisierte auch in diesem Jahr das Bündnis „What the Fuck“ zusammen mit der Initiative „Make Feminism a Threat“ gegen den „Marsch für das Leben“. Auf einer weiteren Kundgebung des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung wurde ebenfalls für das Recht auf körperliche und reproduktive Selbstbestimmung und für sicheren Zugang zu Gesundheitsversorgung demonstriert. Laut Organisator:innen stellten sich insgesamt rund 2.000 Menschen auf Gegendemonstrationen und bei Blockadeaktionen den Abtreibungsgegner:innen aus dem christlich-fundamentalistischen und rechten Milieu entgegen.
„Ich bin aus Sorge um den grassierenden Antifeminismus und die zunehmende Einschränkung von Abtreibungsrechten weltweit gekommen“, sagt eine Demoteilnehmerin der taz. Bevor sie weitererzählen kann, endet das Gespräch abrupt, die Aufmerksamkeit der Menge richtet sich auf einen Mann: Der rechtsextreme Streamer, Ex-NPD-Mitglied Stephan Böhlke hat sich unter die Leute gemischt und filmt sie. Als eine Demonstrantin ihn mit Wasser bespritzt, wird er handgreiflich, die Polizei muss einschreiten.
Der Marsch beginnt
Auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs, auf dem Washingtonplatz, beginnt um 13 Uhr schließlich in sengender Sonne der „Marsch für das Leben“; zeitgleich finden in diesem Jahr erstmals auch Kundgebungen in Köln und Zürich statt. Organisiert vom Bundesverband Lebensrecht (BVL) bringt die Lebensschutz-Szene dabei jährlich antifeministische Akteur:innen aus dem christlich-fundamentalistischen, rechtskonservativen und dem rechtsklerikalen Milieu sowie der extremen Rechten zusammen.
Rund 2.000 Menschen aus ganz Deutschland haben sich laut Polizeiangaben bei dem Marsch in Berlin versammelt, um gegen Schwangerschaftsabbrüche und Sterbehilfe zu demonstrieren – deutlich weniger als in den Jahren zuvor. Neben einigen Familien mit Kindern sind vor allem eine große Zahl an Männern anwesend, unter ihnen auch katholische Priester. Grüne Ballons schweben über dem Platz vor dem Hauptbahnhof, weiße Kreuze wurden rechts neben der Bühne errichtet, „im Gedenken an durch Abtreibung Getöteten“. Rings um die Versammelten haben Organisationen aus dem Lebensrecht-Milieu Stände aufgebaut, darunter die Aktion Lebensrecht für Alle (Alfa), die Christdemokraten für Leben und die Stiftung für das Leben.
Auch die AfD-Politikerin Beatrix von Storch und ihr Ehemann Sven von Storch sind zugegen, ebenso wie der AfD-Politiker Vadim Derksen und die CDU-nahe Lebensrechtlerin Mechthild Löhr. Außerdem sind der katholische Erzbischof von Regensburg, Rudolf Voderholzer, und Weihbischof Matthias Heinrich aus Berlin gekommen. Dazu, dass sie zusammen auf einer Veranstaltung mit prominenten AfD-Politiker:innen stehen, wollen sich die katholischen Kleriker jedoch gegenüber der taz nicht äußern. Nicht öffentlich in Erscheinung trat hingegen die zuvor erwartete französische Aktivistin Marie-Lys Pellissier, die in Frankreich „Marche pour la vie“ organisiert.
Stattdessen feiert BVL-Vorständin Alexandra Linder in ihren Redebeiträgen den Erfolg der Lebensschutz-Bewegung im Kampf gegen eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. „Wir freuen uns sehr, dass die Politik jetzt aufmerksamer ist als früher“, sagt Linder. Sie erwähnt die gescheiterte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin im Juli sowie die verhinderte Abstimmung im Bundestag zu Paragraf 218. Der jetzigen schwarz-roten Bundesregierung wirft sie vor, im Koalitionsvertrag ein „Narrativ eines angeblichen Versorgungsmangels“ bei Schwangerschaftsabbrüchen zu verbreiten. Die großangelegte und repräsentative Studie zu den „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“ (ELSA) zog Linder dabei ebenfalls in Zweifel.
Bei einer Schweigeminute für alle „durch Abtreibung ums Leben gekommene Kinder“ rief die BVL-Vorständin schließlich dazu auf, auch dem extrem rechten US-amerikanischen Politaktivisten Charlie Kirk zu gedenken, der „in der Wahrnehmung seiner Meinungsfreiheit unter anderem im Bereich des Lebensrecht nicht nur angeklagt, festgenommen oder diffamiert, sondern sogar ermordet worden“ sei. Der rechtspopulistische politische Aktivist und Trump-Vertraute war am 10. September während einer Veranstaltung bei einem Attentat auf ihn getötet worden.
Tiefschläge für Selbstbestimmung
Auf der anderen Seite der Spree, vor dem Paul-Löbe-Haus, ist zur gleichen Zeit die Kundgebung des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung in vollem Gange. Deren Teilnehmer:innen tragen grüne Halskrausen, das Symbol der feministischen Streikbewegung in Argentinien, und Rote Regenschirme, das Zeichen für den Widerstand gegen Diskriminierung und Kriminalisierung von Sexarbeiter:innen. An der Aktion beteiligt sind Frauenzentren und Beratungstellen wie Pro Familia, die Omas gegen rechts, Ärzte der Welt, sowie Mitglieder der Linke-, SPD-, und Grünen-Fraktion.
„Seit dem letzten Jahr hat sich vieles verändert“, sagte die frauenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Ulle Schauws, vor dem Paul-Löbe-Haus. Die durch CDU und FDP verhinderte Abstimmung zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und Abschaffung von Paragraf 218 sei ein „grandioser Tiefschlag“ gewesen. Der Paragraf regelt, dass Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich illegal und nur in Ausnahmefällen straffrei sind. „Was uns aber gelungen ist, ist, dass wir mit vereinten Kräften die Stimmung in diesem Land gekippt haben“, so Schauws. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage im Auftrag des Bundesfrauenministeriums (BMFSFJ) im April ergab, dass 80 Prozent der deutschen Bevölkerung die Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen für falsch halten.
Stephanie Schlitt, stellvertretende Vorsitzende des Bundesverband Pro Familia, würdigte in diesem Zuge auch Frauke Brosius-Gersdorf, die „im Auge des Sturms dem ganzen Land erklärt hat, warum das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch geändert werden muss und auch geändert werden kann“. Deren Diffamierung, so eine Sprecherin des Bündnisses „What the Fuck“, habe der „Lebensschutzbewegung“ Aufwind gegeben.
Eine großangelegte und konzertierte Kampagne gegen die Verfassungsrechtlerin hatte dazu geführt, dass der SPD-Kandidatin trotz vorheriger Wahl im Richterwahlausschuss im Plenum die nötige Mehrheit fehlte. Maßgeblich an der Kampagne gegen Brosius-Gersdorf war CitizenGO beteiligt gewesen. Die konservative Pro-Life-Organisation mit Sitz in Spanien, wird vom Kreml sowie konservativen Organisationen aus den USA finanziert. Ein Bericht des Europäischen Parlamentarischen Forums für sexuelle und reproduktive Rechte, zeigte kürzlich, dass viele Antiabtreibungsnetzwerke in Europa tiefe Wurzeln in den USA haben. Die christliche Rechte in den USA gab demnach seit 2019 jährlich rund 22 Millionen Dollar für europäische Organisationen aus, die gezielt Frauenrechte untergraben.
Internationale Vernetzung
„Die,Lebensschutzbewegung’ hat ihre Vernetzungen in den letzten Jahren verstärkt – sowohl international, als auch in Deutschland“, sagt die Sprecherin von „What The Fuck“. „Hierzulande haben sie eine starke Lobby mit Einfluss auf Bildung und Gesetzgebung.“ Es gehe ihnen also nicht mehr nur um ein vollumfängliches Abtreibungsverbot, sondern auch darum, mit Falschinformationen im Internet Hetze gegen trans* Menschen, queere Bildungsarbeit und die Ehe für alle zu betreiben.
Fast zeitgleich setzen sich schließlich die Demos für und gegen ein Abtreibungsverbot auf ihren unterschiedlichen Demonstrationsrouten in Bewegung. Die Demonstrant*innen für ein liberaleres Abtreibungsrecht tragen einen Uterus im Knast aus Pappmaché, andere Plakate mit der Aufschrift: „Flinta* sind keine Brutkästen“ oder „Weg mit §218“. In Bezug auf CSU-Chef Markus Söder, der in der vergangenen Woche Deutschland ohne Auto, Chemie und Maschinenbau mit einer „Frau ohne Unterleib“ verglichen hatte, steht auf einem Plakat auch: „Unterleib ist keine Metapher, Herr Söder, sondern Selbstbestimmung“.
Die Abtreibungsgegner:innen wiederum halten während des „Marsch für das Leben“ rund um den Berliner Hauptbahnhof vorgefertigte Schildern in die Höhe, auf denen heißt es: „Abtreibung ist Unrecht“, „No Children – no Future“, „Menschenwürde kennt kein Alter“ und „Inklusion beginnt vor der Geburt“. Beim Einbiegen in die Luisenstraße geht es für sie dann kurz nicht weiter: Gegendemonstrant:innen verhindern mit einer Sitzblockade auf der Demoroute das Weiterkommen; die Fundamentalist:innen müssen im Spalier passieren, bis kurze Zeit später die Blockade von der Polizei geräumt wird.
Bis zum Ende des Marsches und der Kundgebung kommt es immer wieder zu kleineren Störaktionen von Seiten der Gegendemonstrant:innen. In Gruppe stehen Pro-Choice-Aktivist:innen am Straßenrand entlang der Route und rufen oder singen „My Body, My Choice“, „Eure Kinder werden so wie wir, eure Kinder werden alle Queer“ und „Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben“.
Zumindest einen Teilnehmer beim „Marsch für das Leben“ konnten sie auf diese Weise augenscheinlich überzeugen: Dieser änderte plötzlich seine Meinung zur Abtreibung und rief in die Richtung der Feminist:innen: „Na hätten sie euch mal lieber abgetrieben!“
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