March for Science: Wissenschaft geht auf die Straße
Weltweit protestieren Forscher am Wochenende gegen das Leugnen wissenschaftlicher Fakten. In Deutschland wird in 20 Städten demonstriert.
Wissenschaft geht auf die Straße. Am Samstag finden unter dem Motto „March for Science“, dem Marsch für die Wissenschaft, weltweit Demonstrationen für die Freiheit der Forschung statt. Während sich in den USA die Aktionen gegen den wissenschaftsfeindlichen Kurs der Trump-Regierung richten, geht es bei den Kundgebungen in Deutschland darum, den Nutzen der Forschung für Gesellschaft und Demokratie in die Öffentlichkeit zu tragen.
Die Besonderheit der Aktionen in Deutschland: Es ist eine spontane Graswurzelbewegung, die von Forschern und Wissenschaftsfreunden in privater Initiative geschultert wird.
Tanja Gabriele Baudson, Bildungsforscherin an der TU Dortmund, hat zusammen mit dem Bochumer Komponisten und Regisseur Claus Martin die Sache ins Rollen gebracht. „Der Anlass war für uns der Politikwechsel in den USA“, erklärt die Wissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Begabungsforschung gegenüber der taz. Ein Präsident an der Macht, für den die Klimaforschung und ihre Faktensammlung nur Hirngespinste und „Fake News“ der Chinesen sind – „das hat uns sehr besorgt gemacht“, sagt Baudson. Zumal sich der Populismus auch in anderen Ländern verbreitet.
Kurzum griffen Baudson und Martin die in der US-amerikanischen Wissenschaft kursierende Idee eines öffentlichen Marsches am traditionellen „Earth Day“ (22. April) auf und schlugen sie für Deutschland vor. „Am 29. Januar richteten wir unser Twitter-Account ein und hatten am gleichen Tag 100 Interessenten, die mitmachen wollten“, erzählt Baudson. Die Idee traf ein Bedürfnis.
Zielrichtung der Wissenschaftsmärsche ist nicht Wissenschaftspolitik, sondern Gesellschaftspolitik, vor allem: Demokratiepolitik – die Grundlagen demokratischer Strukturen zu sichern und ihre Bedrohung abzuwehren. „Wir wollen in einer Demokratie leben, in der gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage von Entscheidungen sind – und nicht bloß gefühlte Wahrheiten“, schreiben die Initiatoren auf der Internetseite „March for Science Deutschland“ als eine der Zielsetzungen. „Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der Lügen sich nicht mehr lohnen, weil die Menschen sie durchschauen. Wir wollen, dass der Populismus und seine sogenannten alternativen Fakten keine Chance haben.“
„Das Prinzip der Wissenschaft“
„Das Prinzip der Wissenschaft, Dinge kritisch, kompetent und offen zu hinterfragen, muss die Grundlage unseres Handelns bleiben“, unterstreicht der Geowissenschaftler Franz Ossing, der zu den Organisatoren der Protestdemonstration in Berlin gehört. Das zweite große Signal bei diesem Marsch gehe in die Wissenschaftsgemeinschaft selbst hinein: „ ‚Steht auf und artikuliert euch! Forschung und Wissenschaft sind Teil unseres Lebens.‘ Das wollen wir bewusst machen“, ergänzt Claudio Paganini, ebenfalls vom Berliner Team.
In knapp zwanzig deutschen Städten wird es am Samstag zu Kundgebungen kommen. Darunter Bonn, Dresden, Freiburg, Göttingen, Greifswald, Hamburg, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Stuttgart und Tübingen. Auch in Österreichs Hauptstadt Wien ist eine Kundgebung angemeldet. Selbst auf der Nordseeinsel Helgoland will eine – mutmaßlich kleinere – Gruppe von Wissenschaftsfreunden demonstrieren.
„Wir sind wahnsinnig überrascht, wie viele Gruppen sich gebildet haben“, sagt Anstoßgeberin Baudson im Rückblick. „Wir hätten nie gedacht, mit unserem Zweipersonenteam so etwas loszutreten.“
Wie viele Menschen werden auf die Straße gehen? „Wir schätzen, dass es bundesweit mehr als 10.000 sein werden“, wagt Baudson eine Prognose. Es können auch 20.000 werden, wenn das Wetter mitspielt. München rechnet mit 3.000 Teilnehmern. In Berlin wurden beim Ordnungsamt 1.000 Demonstranten angemeldet – eine Wattezahl, keiner hatte je eine solche Veranstaltung organisiert.
Ein Sack voller Flöhe
„Ich habe seit fünfundzwanzig Jahren Kommunikation für die Wissenschaft gemacht“, sagt Ossing, der bis zum vorigen Jahr die Pressestelle am Geoforschungszentrum in Potsdam leitete. Aber eine solche Bewegung habe ich bisher noch nicht erlebt.“ Auch viele Nichtwissenschaftler engagieren sich. Die wichtigste Organisationsaufgabe der letzten Tage: „Den Sack voller Flöhe hüten“, sprich: die Initiativbereitschaft der vielen unter einen Hut bringen.
Aber auch: gewisse Interessenszugriffe in Schranken weisen. Der „March for Science“ versteht sich als „überparteilich und überinstitutionelle“ Aktivität und keine Veranstaltung des Wissenschaftssystems. Die großen Forschungsorganisationen und zahlreiche Hochschulen haben zwar Grußadressen geschickt und zur Teilnahme aufgerufen. Aber die Finanzierung von Plakaten und Lautsprechern müssen und wollen die „Marschierer“ selbst leisten.
Das ist nicht ganz einfach, wie der Spendenaufruf auf der Crowdfunding-Plattform Startnext zeigt: Von den angepeilten 15.000 Euro sind bis gestern erst knapp 9.000 Euro eingegangen. Unterstützung gibt es auch von einigen Stiftungen, wie der Giordano-Bruno-Stiftung und der Klaus-Tschira-Stiftung. Die Volkswagenstiftung übernimmt in Berlin die Kosten für den Bühnenaufbau.
Die Politik hat daher Gaststatus. In Berlin, nach dem Marsch von der Humboldt-Universität zum Brandenburger Tor, wird zwar der Regierende Bürgermeister Michael Müller ein Grußwort geben, und auch führende Wissenschaftspolitiker wie die Präsidenten der Helmholtz- und Leibniz-Forschungsgemeinschaften werden einen Auftritt haben. Aber im Mittelpunkt steht die gesellschaftliche Verankerung von Wissenschaft, wie Franz Ossing hervorhebt: „Dies ist kein Marsch der Wissenschaftler, sondern ein Marsch für die Wissenschaft“.
Faire Arbeitsbedingungen
Auch die zuständige Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt „das Kernanliegen des weltweiten Marschs: Freiheit von Forschung und Lehre“. Die Beschäftigtenvertreter mahnten allerdings auch die entsprechenden Rahmenbedingungen an, wie „auskömmliche Finanzierung und faire Beschäftigungsbedingungen“. Insofern gebe es auch in Deutschland Grund zu Sorge, mahnte GEW-Vize Andreas Keller: „Wenn neun von zehn wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem Zeitvertrag abgespeist werden, bleibt das nicht ohne Folgen für die Kontinuität und Qualität sowie Kritik- und Innovationsfähigkeit wissenschaftlicher Arbeit.“
Auf Folgewirkungen der Demos hoffen auch Wissenschaftsjournalisten. So hat die Wissenschaftspressekonferenz (WPK) ihre Mitgliederversammlung am Samstag zeitweilig in die Bonner Kundgebung verlegt. Der frühere Leiter des Magazins Bild der Wissenschaft, Rainer Korbmann, äußerte die Erwartung, „dass der 22. April keine „Eintagsfliege“ bleibt, sondern dass er „tiefgehende Veränderungen in den Köpfen der Wissenschaftler und der Wissenschaftskommunikatoren auslöst“. Denn dort herrsche immer noch die Ansicht vor, „Wissenschaftskommunikation diene vor allem dazu, Forschungsergebnisse möglichst verständlich und attraktiv den Nichtwissenschaftlern nahezubringen“.
In seinem Blog „Wissenschaft kommuniziert“ hält Korbmann dagegen: „Das ist zu kurz gesprungen: Ihre wahre Rolle für die Gesellschaft spielt Wissenschaft erst dann, wenn es ihr gelingt, neben den Fakten auch das konstruktive kritische Denken in die gesellschaftliche Debatte einzubringen.“
Auch der Berliner Bildungsjournalist und zwischenzeitliche Kommunikationschef der Helmholtz-Gemeinschaft, Jan-Martin Wiarda, sieht im „March for Science“ „einen hervorragenden Anlass, die Wissenschaftslenker beim Wort zu nehmen: Steckt mehr Geld in institutionenübergreifende Aktionen!“ Sein Vorschlag an die Präsidenten der Wissenschaftsorganisationen: „Lasst eure Forscher den Bürgern nicht so viele Vorträge halten, sondern setzt sie mit den Bürgern an einen Tisch.“ Das mache auch den Wissenschaftlern mehr Spaß, „und der Rest ergibt sich dann von ganz allein“.
Der Marsch für die Wissenschaft: ein demokratischer Spaziergang mit offenen Ausgang. Man darf gespannt sein, welche Langzeitwirkungen von ihm ausgehen. „Citizen Science“ wird politisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?