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Lockerungen bei Corona-MaßnahmenHemdsärmelige Obergrenze

Manfred Kriener
Kommentar von Manfred Kriener

Mehr als fragwürdig: Der willkürlich festgelegte Grenzwert von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner ist eine gefährliche Beruhigungspille.

Mund- und Nasenschutz macht es möglich: Zahlreichen Lockerungsmaßnahmen treten in Kraft Foto: dpa

D as Koordinatensystem der Corona-Krisenbewältigung hat sich geändert. Und mit ihm die Bildsprache. Statt atemloser Patienten auf Intensivstationen und provisorisch gestapelter Leichname sind wir jetzt verstärkt mit der Jeremiade krisengebeutelter Firmenchefs und Tourismusmanager konfrontiert, dazu die unvermeidlichen Blechhalden unverkäuflicher Autos auf den Hinterhöfen der Automobilkonzerne. Bis auf die Kommastelle wird der Absturz der Wirtschaft in 2020 hochgerechnet. Minus 6,3 Prozent. Die große Drohkulisse.

Nicht weniger unseriös als die 6,3-Prozent-Rechnung ist der jetzt festgelegte Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen, der von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten als Obergrenze festgelegt wurde. Wird sie gerissen, müssen die Lockerungsmaßnahmen zurückgenommen werden. Der Wert gilt für jeden einzelnen Landkreis. Die Größe, die Einwohnerdichte, die Altersstruktur, die Testintensität – spielt dabei alles keine Rolle. Das zeigt schon, wie hemdsärmelig diese Regelung daherkommt.

Für die Metropolen mit hoher Einwohnerdichte wie Berlin, München oder Hamburg wären die 50 eine Katastrophe. Für kleine Landkreise reicht dagegen schon ein einziger Infektionsherd, um über die Obergrenze hinaus zu schießen.

Berlin hatte zu schlimmsten Zeiten der Infektionswelle einen Höchstwert von 37. Bei 22 war der verschärfte Lockdown in der Hauptstadt eingeleitet worden. München hatte zuletzt einen Infektionsrate von 21. Würde sie sich verdoppeln, es würde gemäß der 50er-Regel nichts passieren.

Es sei vollkommen schleierhaft, wie der viel zu hohe Wert zustande gekommen ist, bringt es der Bundesverband der Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens auf den Punkt. Das Robert-Koch-Institut hat eilig erklärt, am Zustandekommen nicht beteiligt gewesen zu sein. Kritik kommt von allen Seiten – vergeblich.

Jede Infektionswelle hat einen kleinen Anfangsherd

Kaum ist der Wert veröffentlicht, tauchen drei Landkreise rotmarkiert auf der Deutschlandkarte auf: Coesfeld, Greiz und Steinburg haben die 50 überschritten. Und was passiert? Fast nichts.

In Greiz will Landrätin Schweinsburg die Lage weiter beobachten. Die dortigen Ausbrüche werden mit Blick auf die betroffenen Alten- und Pflegeheime als nur „einrichtungsbezogen“ schöngeredet. Als würde nicht jede große Infektionswelle auf einen kleinen Anfangsherd zurückgehen. Das ist ja gerade das Wesen einer Epidemie.

Die Landrätin erklärt ungeniert, man könne Wirtschaft und Gastronomie „keine weiteren Blockaden aufbürden“. Es mache „wenig Sinn, bei uns alles zu verbieten, was wenige Kilometer weiter möglich ist“. Deutlicher kann man die 50er-Regelung – kaum dass sie in Kraft getreten ist – nicht in die Tonne treten.

Die Landräte stehen unter gewaltigem Druck und trauen sich nicht, mit harten Maßnahmen zu intervenieren, weil sie ihre lokale Wirtschaft nicht abwürgen wollen. Klar ist auch, dass kein Landkreis deutschlandweit als hochinfektiöses Virusnest gebrandmarkt werden will. Es geht um Ansehen und um Scham. Um die Infektionszahlen zu schönen, können notfalls auch die Tests heruntergefahren werden.

Der Deutsche Landkreistag pocht jedenfalls auf Beinfreiheit und wehrt sich bei erkennbaren Infektionsherden gegen Maßnahmen für die Allgemeinheit. Wenn dann noch Kanzleramtsminister Braun via Talkshow souffliert, es gebe bei Überschreiten der 50 keinen Automatismus für die Rücknahme der Lockerungen, dann wird der Grenzwert endgültig zur Farce.

Er ist nicht mehr als eine Beruhigungspille. Mit womöglich heftigen Nebenwirkungen. Weit wichtiger als die 50er Obergrenze bleibt die Reproduktionszahl. Sobald sie wieder an mehreren Tagen die 1,0 übersteigt, wird der absurde Wettstreit um die Lockerungsübungen gestoppt. Dann müssen die Landräte an Merkel und RKI-Chef Wieler übergeben.

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Manfred Kriener
Manfred Kriener, Jahrgang 1953, ist Umweltjournalist und Autor in Berlin. Themenschwerpunkte: Klima, Umwelt, Landwirtschaft sowie Essen & Trinken. Kriener war elf Jahre lang taz-Ökologieredakteur, danach Gründungschefredakteur des Slow-Food-Magazins und des Umweltmagazins zeozwei.. Zuletzt erschienen: "Leckerland ist abgebrannt - Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur". Das Buch schaffte es in die Spiegel-Bestsellerliste und wurde von Umweltministerin Svenja Schulze in der taz vorgestellt. Kriener arbeitet im Journalistenbüro www.textetage.com in Kreuzberg.
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20 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Da sind sie wieder, die TAZ-lesenden Lehrer, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, und andere Arbeitnehmer, denen das (Un)Wohl ihrer prekär arbeitenden Nachbarn am Allerwertesten vorbei gehen kann, da sie ihr A14 Gehalt selbst während des Untergangs des Abendlandes erhalten würden. Es geht um Existenzen, und das millionenfach, liebe Leute. Das da über Lockerungen diskutiert wird, ist nur normal.

  • Nöö - bei mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche geht demnächst mindestens in Baden-Württemberg, in Bayern, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen irgendwo die Klappe wieder zu. Im reinen Ländervergleich gibt es - Stand heute - außer Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt kein einziges Bundesland mit weniger als 100 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Wo es sich bei den kommenden Neuinfektionen nicht ohnehin um klar abgrenzbare lokale Hotspots handelt, werden 50 Fälle/100.000/Woche doch schon recht schnell erreicht sein. Die Obergrenze von 50 ist eher eine Wildcard für den nächsten Lockdown - nur diesmal zielgenauer.

    www.rki.de/DE/Cont...us/Fallzahlen.html

  • Ja, der Grenzwert ist hemdsärmelig, aber das waren die anderen Festlegungen auch.



    Die Antworten auf Corona können aber nur lokal erfolgen, dafür unterscheiden sich die Gegebenheiten zu stark. Wichtig ist es, die vorhandene Testkapazität auszunutzen um Risikopunkte monitoren zu können und außerdem nichtgenutztes Equipment diesen zuzuführen, um die Gefahrenherde zu entschärfen. Hier müssen sich die Verantwortlichen zusammensetzen. Brachliegende Testkapazität und Altenpfleger mit selbstgebastelten Masken etc. sind ein Unding.

  • Eins ist klar: die große Einigkeit über die Notwendigkeit drastischer Maßnahmen "bröckelt", und viele basteln sich wieder ihre eigene Sicht auf die Dinge.

    Es wird oberlehrerhaft klingen, aber ich fürchte, wir sehen u.a. den Graben zwischen denen die die Gefahren exponentieller Entwicklung verstanden haben, und denen die dies entweder nicht begreifen, oder nicht begreifen wollen.

    Wenn wir bei neuem Anstieg rechtzeitig gegensteuern wollen, müssen wir uns daran orientieren, wohin die Entwicklung in den nächsten Wochen wahrscheinlich führen wird. Wenn es wieder zu exponentiellem Anstieg kommt (und warum sollte das nicht?), dann können in den 2-3 Wochen, bis eine neue Maßnahme wirkt, sehr viele Menschen sterben.

    Das wird natürlich von einigen wieder als Panikmache verstanden, aber ich empfehle nur, sich nochmal die Geschichte mit dem Schachbrett und den Reis- (oder Weizen-)körnern vor Augen zu führen, z.B. hier: de.wikipedia.org/wiki/Sissa_ibn_Dahir

    Wenn wir dieses Lernpensum bis jetzt nicht flächendeckend erreicht haben, dann müssen wir uns wohl auf weitere Wellen einstellen müssen, die bei einem höheren Startwert als die erste Welle also auch schlimmer ausfallen werden. Lasst uns weitere Coronakrankenhäuser bauen. Die Zeit ist vielleicht schon knapp.

    PS: Gibt es eigentlich schon Informationen, wie genau der Berliner Senat die Obergrenze handhaben will?

    • @Stephan Herrmann:

      Schon die Idee einer "Obergrenze" ist Unsinn. Jede vermeidbare Infektion ist eine zuviel, da jeder Infizierte weitere Menschen infizieren kann. Je weiter man die Zahl der Infizierten drückt, desto einfach wird es, das ohne drastische Maßnahmen kontrollieren zu können.

      Die einzig sinnvolle Zahl ist "so wenig wie möglich". Mit einer Obergrenze schreiben wir einfach pauschale Maßnahmen für alle Zeit fest (bis zu einer Impfung). Das kann nicht das Ziel sein.

  • "Dann müssen die Landräte an Merkel und RKI-Chef Wieler übergeben"



    Wieso an Merkel übergeben? Sie entwickelt sich gerade von der Problemlöserin zum Problen, schließlich ist dieser faule Kompromiss unter ihrer Führung zustandegekmmen.



    Warum wird, selbst in dieser Zeitung, Merkel immer alles positive zugeschrieben, auch wenn andere daran mitgewirkt haben, an den negativen aber haben immer andere Schuld, auch wenn sie als Bundeskanzlerin doch die Hauptverantwortung trägt?

  • Immerhin ein erster konkreter Anhaltspunkt, ein Kompromiss, besser als die wagen Vorgaben vorher. Wie die Überlastung des Gesundheitssystems muss vermieden werden, oder ähnliches...



    Die Betechnungsgrundkage der Reproduktionszahl wurde erst kürzlich geändert, ist daher keine wirklich feststehende Größe.



    Die Anzahl der tatsächlich aktiv Infizierten sinkt seit Tagen



    Inzwischen weniger als 5000 bei über 13 Millionen Einwohner in Bayern. Also nicht einmal jeder 2500 ist akut infiziert.

  • Das die TAZ bei dieser Hysterie so kritiklos mitmacht verwundert mich sehr.



    Der Stillstand der Industrie wird lapidar mit "Blechhalden" tituliert.



    Es ist davon auszugehen, und jetzt schon sichtbar, dass im weiteren Verlauf mehr Menschen WEGEN Corona sterben als an Corona.

    Wo ist der kritische Blick hier??

    • @lulu schlawiner:

      tja - bei vielen TAZ Lesern kommt eben das Gehalt aufs Konto.

      • @Monika Frommel :

        Na wenigstens eine nachvollziehbare Rückmeldung.



        Aber mal im ernst, mir ist unheimlich wegen der Vereinheitlichung des Denkens hier.

  • Wenn es einen lokalen infektionsherd gibt, dann muß der isoliert werden, und nicht die ganze Bevölkerung eingesperrt werden. Da hätten ja Regionen mt Krankenhäusern die A--Karte

  • Da jeder Versuch erneuter Maßnahmen genug aufgehetzte Irre endgültig durchdrehen lassen würde, wird uns politisch nichts anderes übrigbleiben, als das erst so schlimm werden zu lassen, bis die sich wieder unter ihre Steine verkriechen und die Politik so richtig unter Handlungsdruck steht.

    Offenbar muss es erst schlimmer werden, bevor es wieder besser werden kann. Erst wenn auch ohne Schließungen keiner mehr konsumieren mag, wird jeder verstehen, dass das kein Kampf gegen die Regierung ist, sondern gegen eine Pandemie.

    • @Mustardman:

      "..dass das kein Kampf gegen die Regierung ist, sondern gegen eine Pandemie."



      Das trifft die Sache super gut. Danke für die klaren Worte.

    • @Mustardman:

      Mir bereiten die Proteste auch zunehmend Sorgen. Jedoch sollten wir uns davon die Wahrnehmung nicht verzerren lassen. Die "Vernünftigen" distanzieren sich und gehen deshalb nicht auf die Straße.



      Letztendlich ist der Protesthaufen nur eine kleine, wenn auch recht laute, Minderheit.

  • "Es sei vollkommen schleierhaft, wie der viel zu hohe Wert zustande gekommen ist..."

    So schleierhaft ist es nicht. Merkel wollte einen Punkt festlegen, ab dem erneute Verschärfungen in Kraft treten müssen. Die Lockerungsfanatiker wollten so etwas nicht. Heraus kam ein typischer Merkel-Kompromiss. Es gibt eine Festlegung, aber sie ist in der Praxis bedeutungslos.

  • Es läuft momentan einiges schief. Corona wird zumindest in den ÖR nur noch verharmlosend dargestellt. Virologen und Epidemiologen kommen momentan kaum noch vor. Sogar Fakes werden verbreitet. So hat das ZDF in der 19 Uhr heute Sendung vom 9.5. gemeldet, dass die Zahl der Neuinfektionen weiter sinkt. Das Gegenteil ist aber richtig, sie steigt seit mehreren Tagen. Und es ist kein Zufall, dass 14 Tage nach der ersten Lockerungswelle die Zahlen wieder steigen.

    Die Rheinische Post schrieb am 7.5.:

    "Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland stieg nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) den zweiten Tag in Folge spürbar an. Heute morgen überschritt diese Zahl mit 1284 neuen Fällen im Vergleich zu gestern wieder die Tausender-Marke. Am Mittwoch hatte das RKI 947 Neuinfektionen registriert. Am Dienstag mit 685 neuen Fällen und am Montag mit 679 Neuinfektionen waren die Zahlen noch deutlich niedriger gewesen."

    Für Risikogruppen wird es jetzt wirklich gefährlich.

    • @Rolf B.:

      Und wie genau sind denn die Tests mittlerweile?

    • @Rolf B.:

      Vielleicht bion ich ja blind, ich kann's auf jeden Fall nirgends finden:



      Warum wird denn die Zahl der Tests nicht in Relation zur Zahl der "Neu"-Infizierten gesetzt.



      Mehr Tests - mehr "Neu"-Infektionen.

      "Neu" in Anführungszeichen, weil kein Mensch - auch die Experten nicht - weiß, wie neu diese Infektion wirklich ist.

  • " Sobald sie wieder an mehreren Tagen die 1,0 übersteigt, wird der absurde Wettstreit um die Lockerungsübungen gestoppt. Dann müssen die Landräte an Merkel und RKI-Chef Wieler übergeben."

    ist das die Vereinbarung der Ministerpräsidenten oder ist es so gemeint, das es es so sein sollte/müsste?

    • Manfred Kriener , Autor des Artikels,
      @nutzer:

      Es ist so gemeint, dass der Druck dann so stark wird, dass wieder die Bundesregierung und ihre Berater intervenieren müssen.



      Manfred Kriener