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Lockdown in ShanghaiRealität schlägt Propaganda

Fabian Kretschmer
Kommentar von Fabian Kretschmer

Das Festhalten an „Null Covid“ ist der größte innenpolitische Fehler von Xi.

Coronatest auf offener Straße in Shanghai Foto: Chen Si/ap

E s ist ein ungeheuerlicher Satz: In Chinas reichster Stadt herrscht Hunger. Der nicht enden wollende Lockdown in Shanghai zwingt die 26 Millionen Bewohner in existenzielle Not. Mindestens ebenso ungeheuerlich ist auch die Reaktion der Zentralregierung in Peking, die die unmenschlichen Ausgangssperren angewiesen hat. Und Generalsekretär Xi Jinping hüllt sich in Schweigen.

Der 68-Jährige schickt Militärstreitkräfte, um die „soziale Stabilität“ zu wahren. Doch das brutale Vorgehen kann nicht verschleiern, was Chinas Staatsführung seiner Bevölkerung derzeit antut: Sie pfercht die Infizierten in riesige Quarantänezentren ein, wo sie zu Tausenden ausharren. Ihre zurückgelassenen Haustiere werden aus Angst vor dem Virus vom Nachbarschaftskomitee auf offener Straße niedergeknüppelt. Und selbst Kleinkinder werden im Fall einer Ansteckung von ihren Eltern getrennt.

Über allem steht ein unbeschreibliches Ohnmachtsgefühl, eingesperrt in der eigenen Wohnung vollkommen von staatlichen Essenslieferungen abhängig zu sein. Mehr als eine Tüte Gemüse für die gesamte Woche kommt bei den meisten Leuten jedoch nicht an. Wer seine Vorratskammer nicht vor dem Lockdown ordentlich gefüllt hat, muss seinen Gürtel nun enger schnallen. Selbst Unternehmensvorstände und Millionärssöhne versuchen derzeit verzweifelt, auf dem Schwarzmarkt etwas Reis oder Brot zu ergattern.

Erinnerungen an Mao Tse-tung

Doch in einer solchen Situation ist auch ihr Geld nutzlos. Das Chaos ruft bei den Leuten dunkle Erinnerungen wach: In den 60er Jahren löste Staatsgründer Mao Tse-tung mit seiner fehlgeleiteten Industrialisierungspolitik die größte Hungersnot des 20. Jahrhunderts aus. Und nun sorgen sich ausgerechnet die Bewohner in der reichsten Metropole Chinas erneut um ihre drei Mahlzeiten am Tag.

Das blinde und dogmatische Festhalten an „Null Covid“ ist Xi Jinpings bisher größter innenpolitischer Fehler in seiner zehnjährigen Amtszeit. Xi hat ein repressives Klima der Angst erschaffen, in dem offenbar niemand in seinem Führungszirkel es wagt, das Offensichtliche auszusprechen: dass die Lockdown-Politik angesichts der Omikron-Variante nicht mehr die Lösung, sondern Teil des Problems ist.

Grund für die ausbleibende Kritik sind die totalitären Unterdrückungsmaßnahmen der Staatsmacht und der Zensurapparat der Parteiführung. In den Fernsehnachrichten findet das Leid von Shanghai schlicht nicht statt, und selbst die verzweifelten Hilferufe der Bewohner in den sozialen Medien werden umgehend gelöscht.

Stattdessen wird die Schuld wie immer beim Ausland abgeladen: Nach deutschen Schweinshaxen und norwegischem Lachs sind es diesmal südkoreanische Textillieferungen, die den Corona-Erreger nach Shanghai gebracht haben. Es ist erschreckend, wie sehr die systematische Desinformation der chinesischen Regierung bei den Leuten verfängt. Nur die Betroffenen in Shanghai werden der Partei nie wieder über den Weg trauen.

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Fabian Kretschmer
Korrespondent in Südkorea
Seit 2024 Korrespondent für die koreanische Halbinsel und China mit Sitz in Seoul. Berichtete zuvor fünf Jahre lang von Peking aus. Seit 2014 als freier Journalist in Ostasien tätig. 2015 folgte die erste Buchveröffentlichung "So etwas wie Glück" (erschienen im Rowohlt Verlag), das die Fluchtgeschichte der Nordkoreanerin Choi Yeong Ok nacherzählt. Betreibt nebenbei den Podcast "Beijing Briefing". Geboren in Berlin, Studium in Wien, Shanghai und Seoul.
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7 Kommentare

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  • Das Versagen liegt offensichtlich darin, dass die Tüten nicht groß genug sind:

    "Mehr als eine Tüte Gemüse für die gesamte Woche kommt bei den meisten Leuten jedoch nicht an."

  • Mir scheint, der Autor verwechselt No-Covid mit zero-Covid (Null Covid). DIe offizielle Politik ist an sich No-Covid, d.h. jegliche Infektion werden sofort eingedämmt.

    Die olympischen Spiele haben gezeigt, dass das auch funktionieren kann.

    Offensichtlich gab es ein Versäumnis, rechtzeitig genug zu handeln und Maßnahmen vorzubereiten, einen Ausbruch frühzeitig einzufangen, bevor er sich weiter ausbreitet.



    Nur dadurch kam es jetzt zu einem verbreiteten Lockdown, wobei die Infektionszahlen jetzt in der Tat ein Ausmaß erreicht haben, bei dem eine Elimination schon sehr fraglich ist. Dies ist der chinesischen Regierung anzulasten, denn die wesentlichen Vorgaben kommen von ganz oben.

  • China ist generell eine Gefahr solange dort keine Demokratie ist. die WHO hatte schon jahre vor C19 vor der gefahr duch die vermischung von lebensmittel und Tiermärkten gewarnt. Falls es denn ein Zufall sein sollte das ausgerecht Wuhan der einzige ort in China mit Level 5 labor betroffen war. Fazit: Der nächste Virus kommt bestimmt und wer dann nicht kreusresistent ist vielleicht auch hin.

  • Über das Sommerhalbjahr ist China die größte noch mittelbar vom Coronavirus ausgehende gesellschaftliche Gefahr; für alle Länder, deren Industrien von Lieferungen aus China abhängig sind.

    Zusammen mit der kriegsinduzierten Energiekrise und der dadurch weiter befeuerten, aber zunächst durch zu lange Untätigkeit der EZB schon außer Kontrolle geratenen Inflation sieht es mittelfristig für die Gesellschaft derzeit so düster aus, wie es abgesehen von der Ü80-Generation wohl noch keiner erlebt hat.

  • Das ist wohl, gelinde gesagt, eine sehr westliche Sichtweise und Wunsch zugleich.

    Ei WeiWei hat neulich im Interview gesagt, das die Chinesen verwundert darüber sind, das wir in Deutschland so viele Menschen an Corona sterben lassen.



    Und das wir mitleidig belächelt werden.

    Die Chinesen sind insgesamt mit erheblich weniger Einschränkungen durch die Pandemie gekommen, und konnten ihr Leben zeitweise ohne jegliche seuchenbedingte Maßnahmen genießen. Und haben, trotz ihrer vielfach höherer Bevölkerung, nur einen Bruchteil der Toten zu beklagen, die uns durch die gescheiterte Pandemiebekämpfung durch Und und Länder auferlegt wurden.



    Die Diskos waren dort die meiste Zeit geöffnet – wieso sollte dies jemand der Regierung irgendwie übel nehmen?

    Der Wunsch des Authors, hier ließe sich mal eine Überlegenheit des Westens dokumentieren, klingt daher eher nach Hybris.

    • @neu_mann:

      Von Leuten aus China klingt die Stimmung bei weitem nicht so positiv.

      Für das letzte Jahr ja, für die jetzige Situation nein.

      Und nein, 300 Tote pro Tag in Deutschland klingt nicht nach Überlegenheit des Westens. Es klingt eher danach, als würde es für China jetzt auch hart werden.

  • > Wer seine Vorratskammer nicht vor dem Lockdown ordentlich gefüllt hat

    Das zeigt fehlendes Verständnis dafür, dasts eine gefüllte Vorratskammer in China eben nicht die Norm ist. Laut twitter.com/realse...512734595485106179 ist es für die Chinesen die Aufgabe und ein großer Teil der Legitimation der Regierung, dafür zu sorgen, dass immer Essen verfügbar ist.

    > Things are quite bad in Shanghai. China has a long and ugly history of famine, displacement, and civil unrest. The social contract we have is basically; no more of that, and a steady improvement in quality of life, and we won't quibble too much about the path that takes us there. — twitter.com/realse...512734595485106179

    Dass es diese Nachricht gibt zeigt auch, dass auch die Zensur Meldungen über Hunger nicht ersticken lassen kann.