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Literarische StadtspaziergängeHeimlich mit Literatur versorgt

Am 1. Dezember vor 300 Jahren wurde Anna Louisa Karsch geboren. Sie gilt als erste Dichterin, die von ihrer Kunst leben konnte.

Ausschnitt aus einem Porträt von Anna Louisa Karsch, gemalt von Karl Christian Kehrer 1791 Foto: wikimedia commons

Januar 1751, es ist ein harter Winter. Anna Louisa Karsch kann sich in dieser Zeit gerade noch ein Bündel Holz leisten, um ihren Kindern etwas Wärme zu spenden. Es reicht nicht mal für warme Kleidung. Ihr versoffener zweiter Ehemann ist keine Hilfe. Der erste hat sie schwanger sitzen lassen.

Zehn Jahre später hat Karsch eine Privataudienz beim Preußenkönig Friedrich II. Er will die Dichterin kennenlernen, von der alle sprechen.

Anna Louisa Karsch, das ist die Geschichte eines unmöglichen Lebens. In ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, sieben Kinder zur Welt gebracht, drei davon verloren. Und doch eine Karriere als Schriftstellerin gemacht. Am Ende konnte sie von ihrer Kunst leben. Als erste Frau in Preußen. Eine Sensation für die damalige Zeit.

Am 1. Dezember wird ihr 300. Geburtstag gefeiert. Feiern ist vielleicht zu viel gesagt. In Berlin hat das Literaturforum im Brechthaus eine kleine Veranstaltungsreihe zu ihren Ehren angesetzt. Die Berliner Autorin Annett Gröschner hat pünktlich zu ihrem Jubiläum ein Buch über Karschs Gedichtreihe „Die Spazier-Gaenge von Berlin“ veröffentlicht. Im Wallstein Verlag erscheint eine neue Edition ihrer Briefe und Gedichte und das Gleimhaus in Halberstadt hat eine Ausstellung organisiert. Großartig, dass es das gibt. Dennoch viel zu wenig, für eine solche Frau. Karschs Biografie klingt wie ein Märchen, aber wirklich märchenhaft ist daran wenig.

Karsch muss sich durchbeißen. Sie muss gefallen, bitten und betteln. Sie muss sich gegen Strukturen durchsetzen, in denen jemand wie sie – eine Frau aus armen Verhältnissen – nicht vorgesehen ist. Anders als viele ihrer privilegierten männlichen Kollegen braucht sie mehr als nur ein außergewöhnliches Talent: mehr Durchsetzungskraft, mehr Wohlwollen, mehr Anpassungsfähigkeit – und mehr Glück.

Gastwirtstochter aus der Provinz

Alles begann damit, dass ein Großonkel die sechsjährige Anna Louisa zu sich nimmt. Er bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Aufgewachsen ist sie als Gastwirttochter in der schlesischen Provinz. Bildung war für Mädchen wie sie nicht vorgesehen. Die Mutter holt sie zurück, damit sie im Haus mithilft. Aber ein Rinderhirt mit erstaunlichem Hang zu Büchern versorgt sie heimlich mit Literatur.

Danach eine Durststrecke. Sie wird mit fünfzehn Jahren verheiratet, bekommt vier Kinder, der Ehemann verlässt sie. Sie ist die erste geschiedene Frau in Preußen. Der zweite Ehemann ist ein gewalttätiger Säufer, der sie dreimal schwängert. 1755 zieht die Familie nach Glogau. Zu diesem Zeitpunkt ist Karsch 33 Jahre alt. Für eine Frau in dieser Zeit ein schon weit fortgeschrittenes Alter.

In einem ihrer vielen Briefe schreibt sie, dass sie in ihrer ersten Ehe begonnen habe, am Spinnrad Kirchenlieder umzudichten. Später beginnt sie, Gelegenheitsgedichte für Festlichkeiten in adeligen und bürgerlichen Kreisen zu verfassen. Ihr Talent spricht sich rum. Und als sie mit Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 Lobeshymnen auf den Preußenkönig Friedrich II. schreibt, spricht man sogar in Berlin von ihr. Ihre Kunst verhilft ihr zu neuen Kontakten. Zum Teil so mächtig, dass es ihr darüber gelingt, ihren verhassten Mann in den Krieg schicken zu lassen.

Einer ihrer Förderer, Rudolf Gotthard Baron von Kottwitz, lädt Anna Louisa Karsch und ihre einzige verbliebene Tochter Caroline Luise nach Berlin ein. Sie wird triumphal empfangen. „Sobald man hörte, die Karschin sei angekommen, so eiferte auch alles, was Geschmack haben wollte, um die Wette, dieses Wunder von Frau zu sehen“, sollte die Tochter später schreiben.

Das ganze Porträt: Anna Louisa Karsch, gemalt von Karl Christian Kehrer, 1791 Foto: wikimedia commons

Karsch stößt in das Herz der geistigen Elite Preußens vor. Sie verkehrt in den besten Kreisen, wird herumgereicht. Zwei Jahre später hat sie ihre Audienz beim Preußenkönig.

Zeit des Umbruchs

Wie war diese Karriere möglich? „Karsch kam zugute, dass sie in einer Zeit des geistigen Umbruchs lebte, in der man auf der Suche nach neuen Kunstkonzepten war“, sagt Ute Pott, Direktorin des Gleimhauses in Halberstadt, wo am 2. Dezember eine Ausstellung zu Anna Louisa Karsch eröffnet. Ein neues Künstlerideal wurde gesucht. Nicht mehr der kultivierte Umgang mit althergebrachten ästhetischen Regeln war von Bedeutung. Gesucht wurde vielmehr ein Genie, das frei von jedem Regelwerk die Kunst aus sich selbst herausschöpft.

Karsch bot dafür die perfekte Projektionsfläche. Der Berliner Ästhetikprofessor Johann Georg Sulzer schrieb 1761 in einem Brief über sie: „Es hat sich hier im Reich des Geschmacks eine neue und wunderbare Erscheinung gezeigt. Eine Dichterin, die bloß die Natur gebildet hat und die, nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht.“

Anders als viele ihrer männlichen Kollegen braucht sie mehr als nur außergewöhn­liches Talent

Sie wurde bestaunt – aber auch begafft wie eine Zirkusattraktion. Die Karschin selbst war sich der Problematik dieses „Wunderkind-Status“ durchaus bewusst: Es fehle ihr nicht „an Gesellschaften“, schreibt sie in einem Brief. Man suche sie nur zu oft, aber „diese Zerstreuungen sind für mich weder nützlich noch angenehm, man will seine Neugierde befriedigen, man gafft mich an und klatscht mit den Händen und ruft ein Bravo, als wenn alle meine Reden kleine Zaubersprüche wären“.

Bald wird der Hype um sie hinterfragt. Der Philosoph und Dichter Karl Wilhelm Ramler schreibt 1761: „Wo sie ist, fallen Verse von ihr heraus; sie ist ein unerschöpfliches Füllhorn von Poesie. In allen ist etwas Gutes […] Nur dass sie die Kunst noch nicht gelernt hat.“

Karsch wird für die Berliner literarischen Kreise „zum Experiment“, sagt Karsch-Kennerin Ute Pott. Als 1763 ihr erster Poesie-Band „Auserlesene Gedichte“ publiziert wird, überwiegen die kritischen Stimmen. Karsch merkt schnell, in welchen „Zwiespalt“ sie da geraten sei, und macht „autobiographisch gefärbtes Schreiben zu ihrem Markenzeichen“, so Pott. „Hier durfte ‚die Natur‘ sich wieder zeigen.“ Auf einige Briefe lässt sie zuerst Tränen tropfen, bevor sie mit dem Schreiben beginnt.

Annett Gröschner, „Die Spazier-Gaenge von Berlin“. Verlag Berlin Brandenburg, 30 S., 8 Euro

„Plötzlich Poetin“. Anna Louisa Karsch – Leben und Werk. Hg. Ute Pott, Wallstein Verlag, 289 S., 24 Euro

Karsch weiß, wie wichtig solche Selbstinszenierungen sind. Auf dem Spiel steht nicht weniger als ihre Existenz. Der erfolgreiche Verkauf ihres ersten Gedichtbands sicherte ihr zwar ein bescheidenes Einkommen, das Geld bleibt trotzdem knapp.

Von der Audienz beim Preußenkönig 1763 erhofft sie sich eine monatliche Unterstützung, vielleicht gar ein Haus. Doch der König speist sie mit Almosen ab. Sein Nachfolger, Wilhelm Friedrich II., ist großzügiger: Er baut ihr 1789 ein Haus am Hackeschen Markt in Berlin. Zwei Jahre vor ihrem Tod am 12. Oktober 1791 zieht sie ein. Eine späte Erfüllung.

Anna Louisa Karsch sei „Role Model und Alb zugleich“, sagt die Berliner Autorin Annett Gröschner auf einer Veranstaltung des Literaturforums im Brechthaus zum 300. Geburtstag der Schriftstellerin. Role Model, weil sie eine der wenigen Frauen ihrer Zeit war, die von ihrer Kunst leben konnten. Ein Alb, weil sie das nur schaffen konnte, weil andere, vor allem Männer, es ihr erlaubten. Eine Erkenntnis, die noch heute auf zu viele Frauen zutrifft. Talent allein reicht nicht. Am Ende muss es oft immer noch zuvorderst Männern gefallen.

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