Linken-Chefin über Zukunft der Partei: „Entfremdung? Das trifft es“
Laut Susanne Hennig-Wellsow hat die Linke das Potential, grüne Themen in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Außerdem möchte sie die individuelle Freiheit stärken.
taz: Frau Hennig-Wellsow, welche Rolle spielt das Thema Klimaschutz für die Linkspartei?
Susanne Hennig-Wellsow: Eine zentrale. Die Bekämpfung des Klimawandels ist die größte Herausforderung, die wir als Gesellschaft zu bewältigen haben, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern global. Und aus Sicht der Linken geht das nur mit einem sozialen Fundament, das es allen Menschen ermöglicht, den notwendigen Wandel mitzugestalten.
Wie erklären Sie dann, dass die Fraktion im Bundestag, zu der Sie ja auch gehören, den Autofan Klaus Ernst im Dezember zum Vorsitzenden des Ausschusses für Klima und Energie bestimmt hat?
Es gab um die Besetzung dieses Ausschusses sehr viele Diskussionen. Janine Wissler und ich hätten als Parteivorsitzende der Linken gern eine andere Person dort gesehen. Die Fraktion hat sich in der Mehrheit für Klaus Ernst entschieden. Er wird zeigen, ob er den klimapolitischen Weg der Partei auch an der Seite von Bewegungen, die sich dem Pariser Abkommen verpflichtet fühlen, gehen wird.
Was erwarten Sie denn konkret von ihm?
Ich fände es gut, wenn er sich mit Fridays for Future, Ende Gelände und anderen Bewegungen auseinandersetzt und hilft, eine Debatte auf den Weg zu bringen, wie unterschiedliche Generationen beim Thema Klimaschutz an einem Strang ziehen können. Und ich habe den Anspruch an ihn, dass wir gemeinsam sehr deutlich machen, dass fossile Energien nicht die Zukunft dieses Planeten sind.
Dazu gehört ja dann auch Erdgas.
Und das meine ich auch.
Klaus Ernst und andere in der Linksfraktion werben aber offensiv für die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2. Die Linkspartei drückt sich um eine klare Position herum. Im Wahlprogramm wurde Nord Stream 2 nicht erwähnt.
44, ist gemeinsam mit Janine Wissler seit Februar 2021 Bundesvorsitzende der Partei Die Linke. Sie ist Diplom-Pädagogin und ehemalige Eisschnellläuferin.
Im Wahlprogramm fordern wir ein Erdgasausstiegsgesetz und den Rückzug des Staates aus Investitionen, die der fossilen Energiegewinnung dienen. Das heißt also, wer für Nord Stream 2 wirbt, muss gleichzeitig ein Ausstiegsszenario formulieren.
Ist es aus Ihrer Sicht notwendig, dass Nord Stream 2 den Betrieb aufnimmt?
Für die Energieversorgung brauchen wir die Trasse und diese Erdgaslieferungen grundsätzlich nicht. Das ist aktuell allerdings schwierig zu vermitteln, da mit der Verknappung von Gas die Energiepreise steigen.
Tausende Linke haben einen offenen Brief gegen die Wahl von Ernst unterschrieben. Wie ist die Stimmung in der Partei, nachdem die Fraktion sich für ihn entschieden hat?
Erwartbar unterschiedlich. Die einen sagen, mit der Personalie wird eine politische Entscheidung getroffen, die nicht der Klimapolitik der Linken entspricht. Und andere sagen, jetzt lasst ihn doch erst mal machen.
Es gab über die Linke hinaus enttäuschte Reaktionen von Menschen und Organisationen, die der Linken nahestehen, wie zum Beispiel Carola Rackete und Fridays for Future. Kann der Fall Ernst langfristig zum Bruch zwischen der Linkspartei und solchen Bewegungen führen?
Nein, das sehe ich nicht. Die Grünen in der Ampel werden wahrscheinlich die von ihnen versprochenen Klimaziele nicht erreichen können. Das ist bedauerlich in der Sache. Zugleich liegt darin eine Aufgabe für die Linke. Denn viele Menschen glauben an die Linke. Daran, das wir eine wesentlich radikalere Klimapolitik machen könnten, weil wir eine gesellschaftliche Perspektive in den Mittelpunkt rücken und nicht einfach weitermachen wollen in einem grünen Kapitalismus. Und wir können uns keinen Ausfall der Partei Die Linke leisten. Die Nominierung und die Wahl von Klaus Ernst spiegelt vor allem eine Form von Entfremdung in den politischen Zielsetzungen und der Strategie zwischen Partei und Fraktionsspitze wieder.
Sie sprechen von Entfremdung zwischen Partei und Fraktion. So ernst ist es?
Ja, das trifft es. Man könnte auch formulieren: eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Funktion der Linken in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft und ihre Herausforderungen. Wir werden aber daran arbeiten, dass der Abstand kleiner wird und nicht größer. Miteinander reden ist das A und O.
Welche gesellschaftliche Perspektive soll die Linke in den Mittelpunkt rücken? In einem Strategiepapier schreiben Janine Wissler und Sie, es gehe nicht mehr nur um die gerechte Verteilung von Reichtum, es gehe um eine andere Art des Arbeitens und Wirtschaftens.
Mehr Verteilungsgerechtigkeit lässt sich mit politischen Mitteln auch im Kapitalismus erreichen. Wir, die Linke, wollen perspektivisch eine andere Gesellschaft, eine solidarische Gesellschaft, die tatsächlich ihre Wirtschaftsweise verändert, die gerecht miteinander umgeht, die nicht alles dem Profit unterordnet. In der es darum geht, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.
Die Idee eines grünen Kapitalismus, wie sie die Ampel verfolgt, bedeutet doch, dass wir die derzeitigen Wirtschaftsstrukturen und die gesellschaftlichen Strukturen beibehalten. Diese fußen aber auf einem haltlosen Wachstum, sie spalten die Gesellschaft in arm und reich und sie gehen mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen einher.
Das Problem ist doch: Im Alltag traut sich die Linke im Bundestag noch nicht mal ein Ja oder Nein zu einer Impfpflicht in Pflegeheimen zu, sondern enthält sich. Wie soll man der Linken dann zutrauen, dass sie tatsächlich eine ganze Gesellschaft verändern kann?
Dass wir nicht an dem Punkt sind, das sehe ich auch. Aber Fakt ist, dass wir jetzt eine Partei sind, die sich neu aufrappelt, die eine Idee davon hat, was dieser Gesellschaft fehlt. Und das sind Solidarität, Freiheit, Gleichheit.
Solidarität und Gleichheit o.k. Aber Freiheit? Kaum eine Gesellschaft hält individuelle Freiheitsrechte so hoch wie unsere. Mit der FDP ist zudem eine Partei in der Regierung, die sich als Garantin für diese sieht.
Wir sind der komplette Gegenpol zum Freiheitsbegriff der FDP. Freiheit bei der FDP heißt zugespitzt: Jede und jeder kann machen, was sie oder er will. Staat und Gesellschaft sind notwendige Übel. Andersherum wird ein Schuh draus: Erst eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft ermöglicht individuelle Freiheit für jede und jeden. Dort sind wir aber noch nicht.
Wir als Linke sagen, wir wollen die individuelle Freiheit für jede und jeden garantieren. Und wir wollen die Voraussetzungen dafür stärken. Das bedeutet, wir brauchen ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit. Diejenigen, die auf ganz viel Geld sitzen, sollen davon etwas abgeben, damit es Freiheit für alle geben kann. Wir brauchen auch andere Beschäftigungsbedingungen, um allen mehr politische Teilhabemöglichkeiten zu ermöglichen. Wer den ganzen Tag malocht, geht nach Feierabend nicht mehr in eine Stadtratssitzung oder zur Parteiversammlung.
Janine Wissler und Sie haben angekündigt, die Linke neu aufstellen zu wollen. Was ist denn Ihrer Meinung nach schief gelaufen, warum klebt die Linke bei 5 Prozent?
Aus meiner Sicht gibt es eine Vielzahl von Ursachen. Das ist zum Beispiel das bisherige Verhältnis zwischen Partei und Fraktion. Dazu kommt unsere Kommunikation. Wir erreichen Bauch und Herzen von Menschen nicht, eventuell noch die Köpfe. Und das hat etwas mit unserer gesellschaftlichen Verankerung zu tun. Die hat in den letzten Jahren immer stärker abgenommen. Wir hatten zeitweise zwar viele Eintritte, aber wir haben es nicht vermocht, die Parteistrukturen in Ost wie West nachhaltig zu erneuern. Dazu kommt, dass wir viele Konflikte nicht geklärt haben.
Wie sich die Linke zur EU verhält, zum Beispiel.
Richtig. Aber auch in der Frage, wie wir mit Migration umgehen und welches die richtigen Mittel sind, um die Coronapandemie zu bekämpfen. Eine Partei, die Bedeutung haben will, die von sich behaupten will, sie ist für die Menschen wichtig, weil sie deren Leben zum Besseren verändern kann, die muss auch genauso handeln. Und das bedeutet, Entscheidungen zu treffen und konsequent vorzugehen.
Sie waren eine derjenigen, die im Bundestagswahlkampf sehr stark auf das Thema Regierungsbeteiligung gesetzt haben. War das vielleicht auch ein Fehler?
Ich halte es nicht für falsch. Ein Fehler war, dass wir nicht schon über viele Jahre hinweg deutlich gesagt haben, wir sind bereit, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Und das hat sich auch in dieser Wahl niedergeschlagen. Und dann gab es natürlich auch gegenläufige Entwicklungen wie die Afghanistanentscheidung im Bundestag.
Ein Teil der Linken hat sich enthalten, einige haben zugestimmt und andere dagegen. Was wäre am besten gewesen?
Aus meiner Sicht hätten wir dem Einsatz ausnahmsweise zustimmen müssen. Es gab in der Bevölkerung wenig Verständnis dafür, warum man einer Evakuierungsmaßnahme nicht zustimmen kann. Es gibt sicher politische Gründe, warum man das noch sehr viel differenzierter betrachten kann. Aber im Wahlkampf sind Zwischentöne selten vernehmbar. Da wäre ein klares Signal für die Rettung der Menschen in Not angebracht gewesen.
Warum wurden eigentlich keine Konsequenzen aus diesem verkorksten Wahlkampf gezogen? Die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion bleiben im Amt, obwohl Dietmar Bartsch Spitzenkandidat war. Und der Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler, der den Wahlkampf gemanagt hat, macht ebenfalls weiter.
Der jetzige Parteivorstand ist erst seit Februar im Amt. Wir haben damals eine sehr schwierige Aufgabe übernommen, die jetzt noch größer geworden ist, nämlich die Neuaufstellung der Partei. Ich habe aber darüber nachgedacht, ob ich persönliche Konsequenzen ziehe.
Was hat Sie bewogen weiterzumachen?
Dass ich in dieser Situation nicht gehen und einen noch größeren Scherbenhaufen hinterlassen kann. Weil wir Vorsitzenden es sind, die den Prozess einer Neuaufstellung organisieren müssen. Ob wir das schaffen, das wird sich über die nächsten Monate zeigen. Aber wenn ich feststelle, dass ich nicht die Richtige dafür bin, dann werde ich auch nicht an meinem Amt kleben. Das ist so. Und das würde ich auch allen anderen empfehlen.
Woran messen Sie, ob Sie die Richtige sind?
Der entscheidende Punkt ist, ob es uns gelingt, die Partei in eine neue Zeit zu führen und ob es uns gelingt, die Herzen der Genossen neu zu entfachen. Nur wenn wir das schaffen, werden wir in der Gesellschaft Begeisterung für unsere Ideen entfachen können. Die Europawahl 2024 wird entscheidend sein für uns.
Wie wollen Sie die Stimmung denn bis dahin heben?
Ich habe keine fertigen Antworten. Wir werden uns darüber vergewissern, welche Rolle die Linke hier und heute spielen kann und muss. Der Bundesparteitag in Erfurt im Juni soll erste Antworten geben. Und der Parteitag 2023 muss dann definitiv auch eine Strategie für die nächste Bundestagswahl und personelle Entscheidungen auf den Weg bringen.
Wie wichtig ist es in diesem Prozess der Neuaufstellung, dass Partei und Fraktion an einem Strang ziehen?
Sehr wichtig. Wir haben ja im Parteivorstand schon darüber diskutiert, dass wir auf dem Parteitag 2023 auch eine Empfehlung für die Besetzung der nächsten Fraktionsspitze und damit auch für die SpitzenkandidatInnen 2025 abgeben werden.
Dann werden diese wohl andere sein als die derzeitigen?
Mit großer Wahrscheinlichkeit ja.
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