Leitlinien russischer Politik: Moskau kämpft gegen die „Unmoral“
Der Kreml präsentiert eine Liste „traditioneller Werte“, die verteidigt werden müssten. Das passt auch zur aktuellen Isolationspolitik Russlands.
Ein Smiley mit einem Kokoschnik, dem typischen russischen Kopfschmuck, stellt solche Fragen wie: „Verurteilen oder begrüßen Sie den Kult des Kollektivismus?“ oder „Heißen Sie die Einigkeit von unterschiedlichen Völkern gut?“. Bei „richtig“ beantworteten Fragen verwandelt sich der Kokoschnik in eine Pickelhaube, sie explodiert. „Gratulation! Russland erwartet eine hochmoralische Zukunft!“
Die Moral, sie spielt bei den politischen Entscheidungen des Regimes in den vergangenen Jahren eine immer größere Rolle. Mit ihr werden Konzertabsagen erklärt, wird Aufklärungsunterricht an den Schulen verboten, Kritik am Kreml erstickt. Im Juli vergangenen Jahres hatte Russlands Präsident Wladimir Putin unter die Nationale Sicherheitsstrategie seine Unterschrift gesetzt. Natürlich spielte auch hier die Moral eine große Rolle. Sie müsse gestärkt werden, um den russischen Staat vor seinen Feinden zu schützen. Seine Untergebenen mussten weitere Ideen ausarbeiten, die über kurz oder lang in Gesetze gegossen werden dürften.
Das russische Kulturministerium legte nun eine Liste mit „traditionellen russischen Werten“ vor, die die Grundlagen staatlicher Politik bilden sollen. Der Patriotismus und der Dienst am Vaterland finden sich darin genauso wieder wie eine starke Familie, der Vorrang des Spirituellen vor dem Materiellen, der Kult des Kollektivismus wie auch hohe moralische Ideale.
„Fremde Ideen“ werden ebenfalls aufgezählt: der Kult des Egoismus, der Kult der Freizügigkeit und der Kult der Unmoral. Bedroht seien die „russischen Werte“ von Terroristen, Extremisten und den USA samt ihrer Partner. Werde der Staat seine „traditionellen Werte“ nicht schützen, sei die russische Staatlichkeit in „höchster Gefahr“, schreibt das Kulturministerium – und schlägt einen Ausweg aus der möglichen Misere vor: die Schaffung neuer Gesetze, die „Schädliches“ bestraften.
Angst vor weiteren Verboten
Die Liste passt in die Isolationspolitik des Kremls. Das Regime sieht sich von Feinden umzingelt und vermittelt nach außen den Eindruck, sich ständig verteidigen zu müssen.
Die Werte, die das Ministerium als richtig aufführt, sind ein Wunschtraum, der in der Gesellschaft kaum gelebt wird. „Es ist zum Schämen“, sagt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew im russischen Online-TV-Sender Doschd und bezeichnet das Dokument als „Abhaken von Aufgaben irgendwelcher untalentierter Beamter“. „Sie hätten Gleichgültigkeit als unseren wichtigsten Wert hinschreiben sollen, er äußert sich im Zynismus, den wir pflegen, um einfach überleben zu können.“
Viele Russ*innen nehmen die Äußerungen des Ministeriums zum Anlass, um ihre eigenen Listen der „traditionellen Werte“ aufzuzählen: „Wo ist eigentlich die Trunksucht hin, die russischste aller russischen Werte?“, fragt ein User bei Vkontakte, dem russischen Pendant zu Facebook. Eine andere fürchtet um das Vergessen von „Pelmeni“, den russischen Teigtaschen.
Auf Twitter finden sich Werte wie „Stillhalten, jede Eigeninitiative meiden, bloß keinen Streit nach außen tragen und alles ertragen – denn wenn er liebt, dann schlägt er. Das ist Tradition, noch was hinzuzufügen?“, fragt einer, der in seinem Profil angibt, Moskauer Metro-Konstrukteur zu sein.
Sarkasmus ist eine gängige Methode in Russland, um sich seiner Sorgen zu entledigen. „Bildungsreformen, die traditionelle Werte nicht berücksichtigen, Reformen in der Wissenschaft und Kultur, die traditionelle Werte nicht berücksichtigen, sind große Gefahren“, heißt es im Dokument des Ministeriums. „Wird es bald noch mehr Verbote geben?“, fragen sich nicht nur einige Filmemacher*innen, Schriftsteller*innen und Theaterregisseur*innen.
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