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Leitlinien russischer PolitikMoskau kämpft gegen die „Unmoral“

Der Kreml präsentiert eine Liste „traditioneller Werte“, die verteidigt werden müssten. Das passt auch zur aktuellen Isolationspolitik Russlands.

Die gute alte Trunksucht – auch eine russische Tradition? Hier in einer Kneipe im Jahr 1991 Foto: Sepp Spiegl/imago

Moskau taz | „Alle Hoffnung ruht auf Ihren Schultern: Wenn Sie es schaffen, richtige Ideen von den falschen zu unterscheiden, schützen Sie Russland vor seinen Feinden und deren zerstörerischen und fremden Idealen.“ Das Spiel, dass das russischsprachige Nachrichtenportal Meduza seine Le­se­r*in­nen spielen lässt, ist auf Ironie gebaut.

Ein Smiley mit einem Kokoschnik, dem typischen russischen Kopfschmuck, stellt solche Fragen wie: „Verurteilen oder begrüßen Sie den Kult des Kollektivismus?“ oder „Heißen Sie die Einigkeit von unterschiedlichen Völkern gut?“. Bei „richtig“ beantworteten Fragen verwandelt sich der Kokoschnik in eine Pickelhaube, sie explodiert. „Gratulation! Russland erwartet eine hochmoralische Zukunft!“

Die Moral, sie spielt bei den politischen Entscheidungen des Regimes in den vergangenen Jahren eine immer größere Rolle. Mit ihr werden Konzertabsagen erklärt, wird Aufklärungsunterricht an den Schulen verboten, Kritik am Kreml erstickt. Im Juli vergangenen Jahres hatte Russlands Präsident Wladimir Putin unter die Nationale Sicherheitsstrategie seine Unterschrift gesetzt. Natürlich spielte auch hier die Moral eine große Rolle. Sie müsse gestärkt werden, um den russischen Staat vor seinen Feinden zu schützen. Seine Untergebenen mussten weitere Ideen ausarbeiten, die über kurz oder lang in Gesetze gegossen werden dürften.

Bedroht seien die russischen Werte von Terroristen und den USA samt ihrer Partner

Das russische Kulturministerium legte nun eine Liste mit „traditionellen russischen Werten“ vor, die die Grundlagen staatlicher Politik bilden sollen. Der Patriotismus und der Dienst am Vaterland finden sich darin genauso wieder wie eine starke Familie, der Vorrang des Spirituellen vor dem Materiellen, der Kult des Kollektivismus wie auch hohe moralische Ideale.

„Fremde Ideen“ werden ebenfalls aufgezählt: der Kult des Egoismus, der Kult der Freizügigkeit und der Kult der Unmoral. Bedroht seien die „russischen Werte“ von Terroristen, Extremisten und den USA samt ihrer Partner. Werde der Staat seine „traditionellen Werte“ nicht schützen, sei die russische Staatlichkeit in „höchster Gefahr“, schreibt das Kulturministerium – und schlägt einen Ausweg aus der möglichen Misere vor: die Schaffung neuer Gesetze, die „Schädliches“ bestraften.

Angst vor weiteren Verboten

Die Liste passt in die Isolationspolitik des Kremls. Das Regime sieht sich von Feinden umzingelt und vermittelt nach außen den Eindruck, sich ständig verteidigen zu müssen.

Die Werte, die das Ministerium als richtig aufführt, sind ein Wunschtraum, der in der Gesellschaft kaum gelebt wird. „Es ist zum Schämen“, sagt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew im russischen Online-TV-Sender Doschd und bezeichnet das Dokument als „Abhaken von Aufgaben irgendwelcher untalentierter Beamter“. „Sie hätten Gleichgültigkeit als unseren wichtigsten Wert hinschreiben sollen, er äußert sich im Zynismus, den wir pflegen, um einfach überleben zu können.“

Viele Rus­s*in­nen nehmen die Äußerungen des Ministeriums zum Anlass, um ihre eigenen Listen der „traditionellen Werte“ aufzuzählen: „Wo ist eigentlich die Trunksucht hin, die russischste aller russischen Werte?“, fragt ein User bei Vkontakte, dem russischen Pendant zu Facebook. Eine andere fürchtet um das Vergessen von „Pelmeni“, den russischen Teigtaschen.

Auf Twitter finden sich Werte wie „Stillhalten, jede Eigeninitiative meiden, bloß keinen Streit nach außen tragen und alles ertragen – denn wenn er liebt, dann schlägt er. Das ist Tradition, noch was hinzuzufügen?“, fragt einer, der in seinem Profil angibt, Moskauer Metro-Konstrukteur zu sein.

Sarkasmus ist eine gängige Methode in Russland, um sich seiner Sorgen zu entledigen. „Bildungsreformen, die traditionelle Werte nicht berücksichtigen, Reformen in der Wissenschaft und Kultur, die traditionelle Werte nicht berücksichtigen, sind große Gefahren“, heißt es im Dokument des Ministeriums. „Wird es bald noch mehr Verbote geben?“, fragen sich nicht nur einige Filmemacher*innen, Schrift­stel­le­r*in­nen und Thea­ter­regis­seu­r*in­nen.

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9 Kommentare

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  • Je größer die Bigotterie der Herrschenden, desto länger ihre "Liste der traditionellen Werte".

    (Gilt nicht nur für Russland).

    • @Barbara Falk:

      Heute wurde von einem russischen Militärgericht der 16jährige Nikita Uwarow aus der sibirischen Kleinstadt Kansk zu 5 Jahren Haft wegen Terrorismus verurteilt. Der Staatsanwalt hatte neun Jahre gefordert. Seine Tat: Als aktiver Minecraft-Spieler diskutierte er einem Telegramm-Chat mit zwei gleichaltrigen Mitspielern u.a. ein Spielszenario, in dem ein Gebäude des FSB (Geheimdienst) konstruiert werden sollte, um es (in dem Computerspiel) die Luft zu sprengen. Die Anklage wertete das als Training für geplante terroristische Anschläge. Bei „Tatbegehung“ war Nikita 14 Jahre alt. Er verbrachte elf Monate in Untersuchungshaft in einem Erwachsenengefängnis. Seine beiden „Mittäter“ wurden freigesprochen, weil sie geständig waren und „mit den Ermittlern kooperiert“ haben. Nikita hat keine Schuld eingestanden. In seinem letzten Wort vor Gericht sagte er: „Ich habe ein reines Gewissen ... Ich bin kein Terrorist... Ich möchte einfach nur fertig lernen, einen Abschluss machen und dann möglichst weit weg von hier.“

      meduza.io/feature/...l-pyat-let-kolonii

  • Russland hat ein Problem: es ist nicht sonderlich produktiv. Traditionelle Werte tragen ihren Teil dazu bei. Die Korruption ist einer der größten Wirtschaftszweige im Land geworden. Hier lebt die Tradition zweifelsohne. Auch dass der Staat über den Gesetzen steht gehört dazu. Wie anders könnte der Zar seiner Macht Ausdruck verleihen? Angst macht Macht. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Menschen fürchten. Und so macht man halt Jagd auf alles, was die Angst mindern könnte. Diese Bedrohungsrhetorik gehört zum Standardinstrumentarium jedes autoritären Regimes. Nur wer sich fürchtet ist gefügig. Und wer keine Angst hat ist ein ausländischer Agent der durch unrussisches Verhalten auf sich aufmerksam gemacht hat. Ganz sicher ist ein Verräter wer so traditionellen Werten wie Korruption, Willkür, Verfolgung der Opposition etc. den Kampf angesagt hat.

  • Spätestens jetzt muss doch auch der sentimentalste Linke begreifen, dass dieser Staat keine linke Solidarität verdient.

  • Nun, je mehr Russland sich bedroht fühlt und Angst vor Umstürzen hat, desto mehr wird es sich abnabeln und verhärten.



    Wandel durch Annäherung wäre ein Rezept gewesen...

    • @Kartöfellchen:

      Je mehr Angst ein Regime vor der eigenen Bevölkerung hat desto repressiver dessen Politik, desto mehr Widerstand aus der Bevölkerung, desto mehr Angst...

      Manchmal ist ein Land für seine Innenpolitik selbst verantwortlich, auch wenn das nicht in ihr Weltbild passt.

    • @Kartöfellchen:

      "Nun, je mehr Russland sich bedroht fühlt und Angst vor Umstürzen hat, desto mehr wird es sich abnabeln und verhärten."



      Dann sollte man dem Putin-Regime wohl viel Erfolg bei der Verfolgung von Oppositionellen wünschen.



      "Wandel durch Annäherung wäre ein Rezept gewesen..."



      Als ob man das nicht angeboten und versucht hätte. Russland könnte wenn es gewollt hätte heute genauso in den Westen integriert sein, vielleicht sogar EU-Mitglied, wie andere ex-Blockstaaten auch. Aber das hätte eben auch den Wandel vorausgesetzt, konkret also eine offene Gesellschaft und fortgesetzte Demokratisierung.

      • @Ingo Bernable:

        Ein Land muss ja nicht zwingend EU-Mitglied sein. Die Schweiz ist es nicht und GB ist es nicht mehr. Auch eine Integration in den Westen und die Nato ist ebenfalls nicht zwingend. Russland ist groß genug, eine selbstständige Rolle zu spielen. Das ist ja auch nicht entscheidend.

        Entscheidend ist der Weg dort zu friedlicher Koexistenz mit den Nachbarn, Menschenrechten, Demokratie, Bürgergesellschaft und Minderheitenschutz.

        Ich denke, vorausgesetzt Russland "marschiert" nicht in die Ukraine ein (andernfalls hat dazu Biden das Nötige gesagt und Scholz hat da nicht widersprochen) und die Teilmobilmachung an deren Grenzen wird nachhaltig zurückgenommen, könnte grade eine für Moskau gesichtswahrende diplomatische Lösung (incl. der Krimfrage) für Putin auf die Dauer paradoxerweise zu einem großen Problem werden, da ihm dann künftig das zentrale Thema fehlt.



        Die demokratische Opposition würde so aus der patriotischen Pflicht zur Vasallentreue befreit und könnte wieder in breiterem Ausmaß Fuß fassen...

        ...nur mal so einige alternative Gedanken zu einer erfreulicheren Entwicklung.

  • Super! Russland hält noch konservative Werte hoch und verbreitet sie sogar in der Welt. Angriffskrieg ist wahrscheinlich auch so ein guter alter Wert.