LehrerInnenmangel in in Hessen: Lehr- oder Leerstellen?

Im Wahlkampf setzen Parteien gerne auf Bildungsthemen. In Hessen ist das nicht anders. Doch wer den Schulalltag kennt, fühlt sich kaum ernst genommen.

Großplakate mit Wahlwerbung an einer dicht befahrenen Straße

Sehen Sie, wie sehr Bildung im Vordergrund steht? Wahlplakate in Frankfurt am Main Foto: Arne Dedert/dpa

FRANKFURT AM MAIN taz | Hessischen Wahlplakaten ist anzusehen, dass Parteien um die breite Unzufriedenheit mit Schulen wissen. „Zeit für 12.500 neue Lehrer“, findet die SPD. „Mit den Kleinen Großes bewegen“ möchten die Grünen und „Gute Bildung von Anfang an“ die Linke. Die AfD – die wie kaum eine andere Partei wissenschaftliche Erkenntnisse leugnet – plakatiert vor der Landtagswahl am 8. Oktober: „Bildung schützt vor grüner Ideologie.“ Und auch die FDP setzt auf Populismus: „Vom Gendern kommen auch keine neuen Lehrer-innen“.

Die CDU, die hier seit einem Vierteljahrhundert regiert und derzeit den Kultusminister stellt, erklärt: „Die wichtigste Bank Hessens: die Schulbank.“ Ein Superlativ, der gerade in Frankfurt wie Satire wirkt. Hier beläuft sich der Sanierungsbedarf für Schulen auf 2,5 Milliarden Euro. Es gibt davon vor allem zu wenige.

Wer den Schulalltag kennt, fühlt sich kaum ernst genommen. Karla Licht-Schuler sitzt in einem Frankfurter Park, der an die Grundschule grenzt, in der sie 20 Jahre unterrichtete. Still liegt er in der Mittagshitze. Das Schuljahr hat gerade begonnen, doch die Lehrerin ist nur her geradelt, um ihre Schlüssel abzugeben. Sie ist jetzt im Vorruhestand.

„Ich liebe meinen Beruf“, sagt sie. Doch zuletzt fühlte sie sich zunehmend überfordert. An der Schule habe es ein Kommen und Gehen verschiedener Vertretungskräfte gegeben, die mal stundenweise einsprangen, mal für ein halbes oder ganzes Schuljahr. Sie übernahmen selbst Klassenleitungen, mussten nebenher eingearbeitet werden, seien aber – schlechter bezahlt und überlastet – oft wieder ausgestiegen.

Die Brennpunktschule mit ihrer diversen SchülerInnenschaft hat sich Licht-Schuler ausgesucht. „Wir waren motiviert, wollten eine Ganztagsschule aufbauen, vom Kind aus denken, mitgestalten.“ Doch in den vergangenen Jahren sei es nur noch ums „Versorgen“ gegangen, „pädagogische Visionen fehlen“. Dabei sei die Zahl der Kinder, die mehr Zuwendung brauchen, deutlich gestiegen. „Du bist völlig durchgeschwitzt, wenn du die Klassentür zu machst, und hast das Gefühl, einzelnen Kindern nicht gerecht zu werden und nicht der ganzen Klasse.“

Im vergangenen Herbst stellten sie und Kolleginnen Überlastungsanzeigen, um dem Arbeitgeber zu signalisieren, dass ihre Gesundheit gefährdet und die Arbeitsabläufe nicht mehr gewährleistet sind. „Kleine Kinder lernen über Beziehungen, sie brauchen Konstanz.“

Anhaltend hohe Arbeitsbelastung

Licht-Schuler spricht unter ihrem Namen. Andere Lehrkräfte mit ähnlichen Erfahrungen tun das nicht, weil sie Ärger und zusätzlichen Stress befürchten. Schon vor der Pandemie war einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zufolge die Arbeitsbelastung für Frankfurter LehrerInnen ausgesprochen hoch. Von etwa 1.800 öffentlichen Schulen in Hessen zeigten im vergangenen Schuljahr 29 mit formalen Eingaben Überlastung an.

Eine Ursache dafür ist der bundesweite Mangel an LehrerInnen. Er hat unter anderem demografische Gründe. Hessen hat zudem lange unter Bedarf ausgebildet und ist von Besoldung und Pflichtstunden her ein vergleichsweise unattraktiver Arbeitgeber. Der Auf- und Ausbau von Ganztagsangeboten braucht Personal. Schlecht gemanagte Inklusion und fehlende Investitionen in Schulinfrastruktur tragen zum Mangelerlebnis bei. In der zweiten Legislaturperiode der schwarz-grünen Koalition trafen Pandemie und viele minderjährige Kriegsflüchtlinge auch hier auf ein kaum stabiles System.

Versorgungslücken im Schulbetrieb werden in Hessen vor allem mit Vertretungskräften überbrückt. So genannte TV-H-lerInnen – bezahlt nach dem Hessischem Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst – werden nur befristet eingestellt und kaum fortgebildet. Kultusminister Alexander Lorz (CDU) weist gern darauf hin, wie gut Hessen „stellentechnisch“ dastehe – oder -stünde, gäbe es weder Zuwanderung, Ganztagsangebote oder Förderbedarf. Dabei haben GrundschülerInnen schon ab 2026 einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und auf Inklusion bereits seit einem Jahrzehnt.

Lorz ist seit 10 Jahren für das Kultusministerium verantwortlich, in dem er zuvor Staatssekretär war. Zu Beginn eines jeden Schuljahres lobt er seine Arbeit. „Dank 3.300 neuer Lehrerstellen“ gäbe es in diesem Jahr „so viele Lehrkräfte wie noch nie“. Wie viele dieser Stellen tatsächlich besetzt sind und wie viele Lehrkräfte dafür ordentlich ausgebildet, macht sein Ministerium nicht transparent. Von 59.000 Stellen seien im laufenden Schuljahr 5.000 „befristet“.

Lorz selbst hat schon als „sinnlos“ bezeichnet, hier „mit einer Zahl arbeiten zu wollen“. Statt vom Lehrkräftemangel spricht sein Ministerium lieber vom „Lehrkräftebedarf“: „Herausfordernd“ sei die Situation an Grund- und Förderschulen oder in Fächern wie Physik, Informatik oder Kunst. Zu „Einschränkungen“ käme es nur regional und lediglich bei „Zusatzangeboten“, wie Ganztagsangeboten oder Deutschförderung.

Diskrepanz zum eigenem Erleben

Hessische SchülerInnen spüren die Diskrepanz zwischen der Erfolgsbilanz und eigenem Erleben. Unterrichtsausfall gäbe es „in einem Ausmaß, dass man sich fragt, ob man noch von Bildung reden kann“, sagt LandesschülerInnensprecherin Louise Terhorst. In der Oberstufe mache sich Lehrkräftemangel durch ständiges Umdisponieren und dem Verlegen von Stunden in den späten Nachmittag bemerkbar. LehrerInnen wirkten „gehetzt“, Klausuren würden auch geschrieben, wenn kaum unterrichtet wurde. Viele SchülerInnen würden so zurückgelassen.

Erfasst wird Unterrichtsausfall bisher nicht. Aber auch Landeselternsprecher Volkmar Heitmann nennt ihn „deutlich“. Die GEW weist auf „verdeckten Unterrichtsausfall“ hin: Stunden, in denen vertreten, aber nicht unterrichtet wird. So genannte „Vertretungskräfte Verlässliche Schule“ springen spontan ein, auch ohne jede Qualifikation und zu Stundenhonoraren im untersten zweistelligen Bereich.

In welchem Umfang ist nicht bekannt, weil Schulen das selbst organisieren. Besonders schwierig sei, wenn im laufenden Schulhalbjahr Personal ausfalle, erklären zwei Frankfurter Schulleiterinnen, die anonym bleiben möchten. Dann fänden sich oft nicht einmal mehr Vertretungskräfte.

Über kleine Anfragen presst der bildungspolitische Sprecher der SPD, Christoph Degen, regelmäßig Statistik aus dem Kultusminister heraus und rechnet selbst: Im vergangenen Oktober waren demnach von rund 56.000 Stellen an allgemeinbildenden Schulen über 1.300 nicht besetzt. 10.000 Lehrkräfte hatten keine Lehrbefähigung, waren also nicht ausgebildet.

Ministerium setzt auf Entspannung in ein paar Jahren

Das Ministerium geht davon aus, dass sich die Lage in zwei, drei Jahren entspannen wird. Die hessische GEW tut das nicht. Ihr Fachmann Kai Eicker-Wolf hat gerade den Bedarf der Zukunft errechnet. Seiner vorsichtigen Schätzung zufolge würde Hessen 2030 mit laufendem Ganztagsprogramm an die 12.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigen.

Der Bedarf würde sich fast verdoppeln, wollte man auch Inklusion und die Arbeits- und Lernbedingungen verbessern, vor allem in den Schulen in sozial herausfordernden Lagen. Länderspezifische Vorhersagen seien zwar mit Vorsicht zu genießen, meint Eicker-Wolf. Doch auch seine gesamtdeutsche Simulation zeigt keine Entspannung. Drastischer Lehrkräftemangel drohe künftig nicht-gymnasialen Mittelstufen.

Neue Lehrkräfte will die hessische SPD gewinnen, indem fähige TV-H-Kräfte ohne Lehrbefähigung nicht nach maximal fünf Jahren vor die Tür gesetzt werden, sondern berufsbegleitend qualifiziert und entfristet. Auch die Linkspartei will deren prekäre Beschäftigung beenden, die Grünen setzen auf berufsbegleitende Nachqualifizierung. Im Wahlkampf adressieren Linke und SPD das größte Problem der deutschen Bildungspolitik: dass der Bildungserfolg von Kindern hierzulande stark von ihrer Herkunft abhängt.

Im Prinzip favorisieren auch die hessischen Grünen ein chancengerechteres „skandinavisches“ Modell mit langem gemeinsamen Lernen. Doch die Partei fällt mit bildungspolitischen Vorstößen kaum auf. Weil gesellschaftlicher Konsens fehle, setzte sie schon 2013 auf „Schulfrieden“ und Kompromisse. Die sind vor allem mit dem derzeitigen Koalitionspartner nötig.

Die CDU bezeichnet gemeinsames Lernen weiter als „Einheitsschule“ (früher mit Verweis auf die DDR-Diktatur) und „Gleichmacherei“. Am gegliederten Schulsystem, das sie nun entgegen aller Evidenz „Chancenschulsystem“ nennt, hält sie fest. Auch die FDP will „weltbeste Bildung für alle“ – gegliedert und mit Leistungsanreizen für Lehrkräfte und Schulen: Ein Viertel ihrer SchülerInnen sollten diese „nach Eignung“ auswählen dürfen.

Eine erste Hortgruppe durchbricht die Mittagsruhe, der kleine Park füllt sich mit Leben. Mit Kindern entdecke man ständig neu und lerne immer dazu, sagt Karla Licht-Schuler. Eigentlich ein schöner Beruf, für den der Kultusminister auch Heranwachsende gewinnen möchte.

„Das dürften sich viele zweimal überlegen“, sagt Louise Terhorst. Denn den Arbeitsplatz kennen OberschülerInnen wie sie bereits gut. Schule ist wichtig. Die Bänke darin auch in Hessen oft zu unattraktiv.

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