Hessens Hauptstadt Wiesbaden: Im Nizza des Nordens
Nicht in Frankfurt, sondern in Wiesbaden regiert der Ministerpräsident. Ein Treppenwitz der Geschichte? Vielleicht. Dafür gibt es warme Quellen.
Was Wiesbaden umso erklärungsbedürftiger macht. Helfen kann ein Blick in die Geschichte, namentlich auf James Newman und Adolph von Nassau.
Fangen wir mit Adolph an, Herzog und Vollidiot. Mit Frankfurt, der Freien Reichsstadt, hatte sein Geschlecht wenig am Hut. Da war’s ihm zu kaiserlich und bürgerlich. Lieber präsidierte der Adolph in Wiesbaden. 1866 erklärte ihm Otto von Bismarck geduldig, warum er sich im kommenden Krieg gegen Österreich besser mal den Preußen anzuschließen hätte. Adolph hörte sich das huldvoll an, wählte trotzdem Wien – und war sein Herzogtum los. Entthront wechselte er später wie heute die Fußballtrainer oder Manager als Monarch nach Luxemburg. In Wiesbaden aber stand noch herum, was er so hatte bauen lassen.
Dort stand es gut. Die Stadt liegt in einer Mittelgebirgssenke am Fuß des Taunus. Von oben scheint die Sonne wie nebenan auch auf die Rebstöcke im Rheingau. Von unten wärmen heiße Quellen, von denen schon Plinius der Ältere schwärmte. Kollege Martial empfahl das kalkhaltige Sedimentgesprudel sogar als Haarfärbemittel. Eigentlich hockten die badefreudigen Invasoren auf der „falschen“ Rheinseite, in Mogontiacum, dem späteren Mainz. Die tollen Thermen lagen gefährlich nah am Limes. Also befestigten die Römer ihre Badewanne und nannten sie Aquae Mattiacorum.
Unten am Rhein hockte Wagner und komponierte
Erstmals bei seinem korrekten Namen wird Wiesbaden etwa 800 Jahre später genannt, auch wenn Einhard, der Biograf von Karl dem Großen, die Siedlung Wisibada nennt. Bevor wir uns aber in der Geschichte verlaufen, schnell wieder auf fast forward gedrückt und bei Wilhelm II. haltgemacht. Der Kaiser, ebenfalls ein Vollidiot, fand es in Wiesbaden nämlich auch ganz bezaubernd. Unter seiner Ägide ließ er das Kaff zu einem Nizza des Nordens umbauen, komplett mit Regierungspräsidium für die neue preußische Provinz, mit Bäderbetrieb, Hotellerie, Villenvierteln, Theater und Casino.
Aus jener Zeit stammt der Goldstaub, der hier manchmal noch auf den Dächern und Straßen zu liegen scheint, vor allem auf den vergoldeten Zwiebelkuppen der orthodoxen Kapelle, die noch der alte Adolph seiner verstorbenen Braut, einer Romanowa, am Neroberg hatte errichten lassen. Wiesbaden wurde zu Bad Wiesbaden, einem idyllischen Alterssitz verdienter Beamter und Offiziere sowie sonstiger Leute, die von den Zinsen ihrer Vermögen lebten.
Hinzu kamen Besucher wie Dostojewski, der im Casino für seinen Roman „Der Spieler“ recht lebhaft „recherchierte“. Dem Maler Alexej von Jawlensky gefiel es in Wiesbaden sogar so gut, dass er hier 1941 starb. Noch im 19. Jahrhundert hockte unten am Rhein ein Richard Wagner, komponierte dort seine „Meistersinger“ und wartete vergeblich darauf, dass ihm der Fürst ein eigenes Opernhaus bauen würde.
Unterdessen wurde in Wiesbaden auch kräftig zur Welt gebracht. Die französische Schauspielerin Simone Signoret wurde hier geboren, der Musiker Paul „Paulchen“ Kuhn, der Publizist Frank Schirrmacher, der Widerstandskämpfer Ludwig Beck, der Philosoph Wilhelm Dilthey, der Fußballspieler Jürgen Grabowski, der Regisseur Volker Schlöndorff sowie, als besonders bizarrer Nachkriegsausreißer, John McEnroe.
Der Tennisspieler, und hier beenden wir den historischen Teil, kam als Sohn eines US-Luftwaffenoffiziers zur Welt. Wie Wiesbaden unmittelbar nach dem Krieg auf einen Besucher aus der „Ostzone“ wirkte, darüber erteilte Walter Kempowski in „Uns geht’s ja noch gold“ beredte Auskunft im Soziolekt der Zeit: „Am Abend war ich in Wiesbaden, Milde Luft und Dampf aus Gullis, Hier gab es warme Quellen. Amerikanische Autos, die wie Akkordeons aussahen, schlichen in Zweierreihen die kaum zerstörten Straßen herunter und hinauf. Athletische [hier verwendete der Dichter ein Wort, das man heute nicht mehr verwendet; Anm. d. Red.] mit dicken deutschen Mädchen“ [für „dick“ verwendete der Dichter an anderer Stelle das etwas neutralere „überernährt“, aber das nur ganz am Rande].
Inzwischen 28 Gemeinden usurpiert
Die athletischen oder auch überernährten „Amis“, wie die etwa 20.000 in der Stadt stationierten Legionäre hier liebevoll genannt werden, betreiben jedenfalls noch heute den Flughafen im eingemeindeten Erbenheim. Dort steht und fliegt viel Militärgerät herum, weil sich hier auch das europäische Hauptquartier der US-Armee befindet.
Auch das hat Tradition, womit wir bei James Newman wären. Der amerikanische Erziehungswissenschaftler trat 1949 energisch dafür ein, nicht das plattgemachte Frankfurt, sondern das pittoreske Wiesbaden zur Landeshauptstadt zu machen. Weil Newman zugleich Chef der Militärregierung des „befreiten“ Hessen war, hatte sein Wort das Gewicht, das es brauchte. Trotzdem ist nach ihm in Wiesbaden nicht einmal eine Straße benannt, nur die Newman Village Housing Area, ein Dörfchen für US-Soldaten bei Erbenheim.
Apropos Erbenheim. 28 umliegende Gemeinden hat Wiesbaden inzwischen usurpiert beziehungsweise eingemeindet, von Naurod im Wald bis zu Schierstein am Rhein, vom Taunus Wunderland bei Schlangenbad bis zum rechtsrheinischen Mainz-Kastel, das Bewohnerinnen und Bewohner der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt noch heute als besetztes Gebiet betrachten. Der übliche Lokalimperialismus also, der Wiesbaden heute eine Einwohnerinnenschaft von rund 280.000 Menschen beschert. Genug, um als Großstadt gelten zu dürfen – aber weniger als beispielsweise allein in Berlin-Neukölln leben.
Das Neukölln von Wiesbaden ist Biebrich, ein Ortsteil am Rhein. Hier gibt es Drogenhandel, Wettbüros, illegale Autorennen und den Vielfalt-o-Saurus, eine die ethnische Vielfalt beschwörende Spielplatzskulptur. Weil eine Autobahnbrücke aus statischen Gründen gesprengt werden musste, führt der Autobahnverkehr nun mitten durch die Stadt. Das soll bald besser werden. Fahrradwege sind als Zeichen des guten Willens auf die Fahrbahnen gemalt. Wiesbaden gilt als fahrradunfreundlichste Stadt Deutschlands. Vielleicht auch, weil es so hügelig ist.
Nach Dresden fährt ein ICE, nach Berlin ebenso. Mit Frankfurt ist Wiesbaden über mehrere S-Bahn-Linien verbunden, die oft auch in Gegenrichtung benutzt werden – immer dann, wenn im Kulturzentrum Schlachthof großartige Bands spielen, die sich die Saalmieten in Frankfurt nicht leisten wollen. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde, was der Berliner BVG-Distanz von Alt-Tegel nach Kreuzberg entspricht.
Auf märchenhafte Weise schwul und Waise
Im Verein mit Frankfurt, Darmstadt, Rüsselsheim, Offenbach oder Mainz fühlt Wiesbaden sich ohnehin an, als sei es Teil eines größeren Ganzen – ein großes Ganzes mit viel Grün dazwischen und einem funktionierenden(!) Flughafen direkt an der Kreuzung von A3 und A5.
Viel Industrie gab und gibt es nicht. Ein bisschen Chemie, ein bisschen Zement aus früheren Zeiten. Die größten Arbeitgeber sind heute – neben dem Flughafen Erbenheim – die Stadt selbst, das Bundeskriminalamt, das Statistische Bundesamt und eine Reihe von Investmentfirmen, denen die Mieten in der benachbarten Bankenmetropole zu teuer geworden sind. Einer davon gehört der Fußballverein SV Wehen, mit dem Wiesbaden gegen den Abstieg kämpft, neuerdings immerhin in der 2. Bundesliga.
Kommunalpolitik gibt es auch. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) lebt und wirkt in Wiesbaden. Ein SPD-Bürgermeister wurde mal gewählt, weil er auf märchenhafte Weise schwul und Waise war, leider nicht weise, weshalb er im Amt „Vorteile genommen“ haben soll und nun im Taunus Wunderland arbeitet, vermutlich nicht als Schiffschaukelbremser.
Vor dem Landesmuseum für Kunst und Natur sitzt Goethe mit entblößter Heldenbrust, im Staatstheater gibt es „Lohengrin“ und eine Persiflage auf die Kulturpolitik („Das Ministerium“). Von Biebrich, der vorgelagerten Riviera der Stadt, fährt regelmäßig das Fährschiffchen „Tamara“ hinüber nach Schierstein mit seinem Sporthafen und zu einer Insel im Rhein.
Am Strand dort ist dann alles ganz weit weg. Hessen, Wiesbaden, der Landtag. Und Washington sowieso.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was