Besuch in Kassel: Wir machen mal weiter
In Kassel bekommt man einen Hauch Normalität ab – und viele gute Fleischwaren. Aber auch hier haben einige ihre persönliche Brandmauer eingerissen.
Kassel macht einen noch stabilen Eindruck, da hat sogar mal die CDU mit ihrem entsprechenden Plakatslogan einen Punkt. Gegen einen Infostand der AfD sind an diesem Samstag Ende September gleich drei Gegendemonstrationen angemeldet. Und dann kommt auch noch Kanzler Scholz direkt von der UNO ins benachbarte Baunatal auf Wahlkampfbesuch. Die Lokalzeitung lässt es sich nicht nehmen, einen ganzseitigen Vergleich dieses Zentrums deutscher Wertarbeit mit der Metropole am Hudson River zu ziehen.
Für Baunatal spricht dabei unbedingt, dass es im Ahle-Wurst-Country liegt. Ob Olaf Scholz die besonders schmackhafte Arschdarmvariante serviert bekommt oder doch nur den „Kraftriegel des Facharbeiters“, eine Original-Volkswagen-Currywurst? Baunatal mit seinem VW-Werk gewinnt jedenfalls den Vergleich mit New York und seiner Freiheitsstatue 6:3 – und so absurd, wie das im Nichtnordhessischen scheinen mag, ist die Sache gar nicht. Denn die ganze Kassler Gegend ist wunderschön, die Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln gesichert, das Klima noch angenehm mitteleuropäisch von Westwinden geprägt, gerade auch im menschlich-politischen Sinne.
Und doch sagen die Freunde beim Hessischen Löwenbier am üppig gedeckten Tisch in der Kassler Nordstadt, die Stimmung kippe. Habe man früher bis acht zählen können, um auf einen Nazi zu kommen, zähle man heute bis sechs. Die ganz persönliche Brandmauer sei bei vielen eingestürzt, ein rational nicht zu erklärender Hass mache sich breit, abwertende menschenfeindliche Äußerungen im sozialen Nahbereich seien nicht mehr zu ignorieren.
Im Bierhaus nahe der prächtigen Kassler Markthalle ist davon mittags nichts zu spüren. Hier vertreiben zwei Rentnerinnen und fünfmal so viele Rentner sich die Zeit, die Gegenwart ist in Form von ntv und Schlagerbums im Raum, trübt aber die Stimmung nicht. Die Junggebliebenen in Freizeithemden vertrinken, verquatschen und verdaddeln den Tag. Wir Jungspunde, relativ gesehen, werden gnädig geduldet, und rauchen ist selbstverständlich gestattet, obwohl die meisten längst die Finger davon lassen.
Böse Männer
Lustig und tolerant und ganz hassfern geht es hier gerade zu, und der Gedanke taucht auf, ob sich nicht genau danach all jene sehnen, die jetzt in die braune Brühe steigen: einfach ausgesorgt habend am Freitagmittag in einer Kneipe stehen können und alle Führer wo auch immer böse Männer sein lassen.
„Unsere Wurst ist gut, aber vor allem die Verkäuferin ist sehr nett.“ In der Markthalle werden sogar wir angeflirtet, auch wenn die Ware teurer geworden ist im Vergleich zu früheren Besuchen und der Speckkuchen kleiner scheint. Wie es sich für ältere Herren gehört, unterhalten wir uns beim Rundgang über das Römische Reich. In Hedemünden, ein paar Kilometer über den Berg und schon im Niedersächsischen, liegt über der Werra das sogenannte Römerlager, das am weitesten nach Nordosten vorgeschobene Standlager der römischen Legionen, die Forschung ist sich nicht ganz einig. Ein schöner Spaziergang ist es dort auch für Imperiumsverächter; wie auch sehr viel richtig macht, wer weiterfährt nach Hann. Münden oder zurück ins Hessische nach Bad Karlshafen, nach Fritzlar und auf die Burg Heiligenberg, bezaubernde und geschichtsträchtige Orte, wo es überall guten Eiskaffee gibt.
Aber haben wir nicht genug mit der Gegenwart zu tun? Wer als Besucher durch Kassel läuft, denkt schon mal: Eigentlich ja nicht. Klar, es gibt Ecken, wo ein bisschen aufhübschen guttäte und wahrscheinlich gar nicht so viel kosten würde, wenn kein innovativer Stadtplaner eingebunden wird; und ein wenig Rückbau für die Autos wäre auch nicht schlecht, auf den überbreiten, krawalllauten Kassler Schneisen kann man sich ja praktisch gar nicht an eine Geschwindigkeitsbegrenzung halten.
110
Dafür ist der Unistadtteil Nord-Holland altbaubestanden und relativ ungentrifiziert, das Auebad vorbildlich sauber und freundlich. Nur, wenn sie dann doch mal gebraucht wird, die Polizei, dann sollte sie vielleicht nicht mit der Aussage: „Ich schau mal, ob ich den Wagen bekomme“, auf einen Notruf reagieren; wie meinen Freunden geschehen, als im Nachbarhaus ein Pulverfreund seine Mitbewohnerin attackierte. Das klingt natürlich ländlich sympathisch, aber, na ja, niemand wählt zum Spaß 110. Und wir denken an den vom NSU unter staatlichem (mindestens) Gewährenlassen ermordeten Halit Yozgat auf dem ihm gewidmeten Platz.
Dennoch, ein langes Wochenende in Kassel führt nicht nur dazu, dass sehr viel und sehr gut gegessen und getrunken und gelacht wird, sondern auch die Frage aufkommt: Worüber regen sich zu viele eigentlich so schrecklich auf? Deutschland ist weder ein volles Boot noch ein sinkendes Schiff, und im Café Sardegna im sogenannten Kriminalitätsschwerpunkt Untere Königsstraße gibt es einen ganz hervorragenden Espresso in herzlicher Atmosphäre.
Selbst mitten im Wahlkampf mit Ex-Ministerpräsident Bouffier in der Stadt, mit einer Grünen-Kandidatin, die Herz heißt, mit einer Linken namens Bock und mit einer Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung – meine ganz persönliche Kassel-Lektion war mal wieder, dass sich alle etwas abregen und erst mal ein Zwiebelfleisch essen oder in eins der wunderbaren Kassler Museen gehen sollten. Oder eben gleich höher hinaus, ins Unesco-Welterbe Wilhelmshöher Bergpark mit seiner Herkulesstatue.
Die wird wie auch der zum Kulturbahnhof upgedatete ehemalige Hauptbahnhof regelmäßig punktgenau zur documenta generalüberholt und blickdicht eingerüstet. Wie eben überhaupt Kassel dem Publikum von draußen zu sagen scheint: Schön, dass du da bist, aber wir machen mal weiter. Davon könnten sich als Maxime doch alle mal eine dicke Portion Weckewerk abschneiden, auch und gerade jenseits der Wahlen am 8. Oktober.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus