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Leben zwischen MilieusPostproleten aller Länder, gönnt euch!

Gibt es das richtige Leben im falschen? Für Postproleten weniger als für andere. Umso wichtiger, gut auf sich aufzupassen. Eine letzte Kolumne.

Mehr als der soziale Ort, den eine willkürliche Ordnung in Kombination mit dem Zufall zugewiesen hat Foto: Jochen Eckel/imago

D as Leben als Postprolet ist ein Leben unter Dauerstrom. Der feuchte Traum der Gründerväter der neoliberalen Weltanschauung. Die Radikalisierung der schwäbischen Häuslebauermentalität. Immer muss etwas vorangehen. Ständig muss man über sich selbst hinauswachsen. Immerzu spürt man die Opfer der Eltern im Nacken, die ermöglicht haben, dass man es einmal besser haben kann.

Das Leben des Postproleten ist also ein Projekt. Aber vor allem ist es ein Kampf. Postproleten kämpfen nicht nur gegen äußere, gesellschaftliche Schranken an, sondern immer auch gegen Erwartungen von anderen, die sie verinnerlicht haben. Meistens kämpfen Postproleten gegen sich selbst.

Ja, es muss sich politisch etwas verändern, damit die Herkunft nicht mehr darüber entscheidet, welche Chancen ein Mensch im Leben hat. Ja, man sollte als Postprolet auch das bisschen an Chance nutzen, das man bekommen hat. Aber das weiß der Postprolet. Niemand muss ihn motivieren. Das Problem ist eher, dass er nicht chillen kann.

Postproleten leben im Dazwischen. Sie können die Selbst­lügen in den Herkunfts- und Ankunftsmilieus besser sehen als andere

Macht mal Pause

Postproleten leben im Dazwischen. Sie können die Selbstlügen in den Herkunfts- und Ankunftsmilieus besser sehen als andere. Erkenntnis ist die Voraussetzung für Veränderung. Aber Postproleten sind auch keine Superhelden. Auch wenn sie gerne Superhelden wären, die durch ihre Superleistungen nicht nur die Gesellschaft zu einer besseren machen. Sondern als Aufsteiger den Beweis dafür liefern, dass es so etwas wie eine Klassengesellschaft doch gar nicht gibt.

Ihr müsst nicht komplett aufhören, zu kämpfen, liebe Postproletinnen und Postproleten. Aber macht auch mal Pausen. Macht Dinge, die keinen Zweck, keine Richtung, kein Ziel haben. Macht Quatsch. Macht gar nichts. Denn natürlich könnt ihr nicht alles schaffen, was ihr wollt, wenn ihr nur ganz fest daran glaubt und alles gebt. Niemand kann das. Zu vieles liegt in Bereichen, auf die ihr keinen Einfluss habt.

Und auch wenn es euch oft so vorkommt, als wärt ihr bei alldem auf euch allein gestellt: Es gibt so viele andere, die sind wie ihr. Und es gibt so viele andere, die anders sind, aber eure Sehnsüchte teilen. Versteckt euch nicht, verständigt euch. Eure Allianzen, Freundschaften, Partnerschaften sind der Anfang vom Ende dessen, was euch trennt. Dabei geht es nicht nur um das Politische. Es geht auch um die Wärme, ohne die ihr nicht überleben könnt.

Vor allem aber seid ihr nicht nur Postproleten. Ihr seid so viel mehr als der soziale Ort, den euch eine willkürliche Ordnung in Kombination mit dem Zufall zugewiesen hat. Gebt diesem anderen Raum. Entdeckt dieses andere. Lasst euch nicht auf das eine reduzieren. Reduziert euch selbst nicht darauf. Lernt euch jeden Tag selbst kennen. Und versteht jeden Tag ein bisschen besser, was ihr braucht, um den täglichen Wahnsinn einigermaßen heil zu überstehen.

Postproletinnen und Postproleten aller Länder, der Kampf geht weiter, aber das Leben ist viel zu kurz, also: gönnt euch auch.

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Volkan Ağar
Bis April 2025 Redakteur im Ressort taz zwei: Gesellschaft & Medien. Seither Redakteur beim Deutschlandfunk Kultur. Schreibt für die taz die Kolumne "Postprolet".
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21 Kommentare

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  • Warum fällt es uns schwer, uns selbst zu akzeptieren?

    Osho: „Es ist für alle schwierig, weil uns beigebracht wurde, uns selbst nicht zu akzeptieren, es ist zu einer tief verwurzelten Einstellung geworden. Kein Kind wird für sein eigenes Sein geliebt. Daher beginnt das Kind eines zu lernen: ‚Ich bin nicht akzeptabel, wie ich bin, Akzeptanz muss ich mir verdienen. Ich muss dieses tun, und ich muss jenes tun, dann werde ich geliebt. Aber ich kann nicht geliebt werden, indem ich nur ich selbst bin.‘

    Und das geschieht mehr oder weniger auf der ganzen Welt, in jedem Land, in jeder Kultur. Jedes Kind wird dadurch vergiftet. Es ist gut, dass du dir dessen bewusst bist, denn du kannst es loslassen, wenn du dir dessen bewusst bist. Es ist nur ein Überbleibsel, ein Überbleibsel von deinen Eltern, Lehrern, Priestern. Sie alle bringen dir ununterbrochen eine Sache bei, sie konditionieren jeden in jeder Ecke und jedem Winkel: ‚Du bist nichts wert, wenn du dich nicht beweist. Du musst deinen Wert beweisen. Werde ein großer Maler, Politiker, Geschäftsmann, dann bist du in Ordnung. Aber wenn du nur du selbst bist, ohne Anspruch, dann bist du wertlos.‘ Diese dumme Idee wird jedem beigebracht.“

    • @shantivanille:

      Ihre Kinder würden Ihnen hoffentlich widersprechen.

  • Danke. Ein neuer Blick zurück. Für mich. Als elitäres Arbeiterkind habe ich mir immer eingeredet, dass ich alles gern tue, was ich so gemacht habe. Werde jetzt mehr chillen. Ohne Widerwillen.



    Und die „ ... willkürliche Ordnung in Kombination mit dem Zufall " kommt in mein Poesiealbum.

    • @StarKruser:

      Bei mir war es eher so, dass mir von anderen eingeredet wurde, ich würde oder müsste gern tun, was ich gemacht habe.



      Ich mache weiterhin viel, aber jetzt definitiv gern.



      Ich entspanne auch sehr gerne, aber sinnvoll. "Chillen" ist mir zu ungenau und zum Teil zu negativ belegt.

    • @StarKruser:

      Heute 07h14:



      Immer wieder gern gelesen-Volkan Ağar, Farewell

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  • Wer oder was ist ein Postprolet? Ein DHL-Mitarbeiter?

    • @Zven:

      Ok Ok - eine Handreichung als Annähriärungsversuch bei himself - wa!



      “Abschiede fallen Post­proleten nicht schwer. Sie fühlen sich unmöglich an. Nur wegen eines Abschieds sind Postproleten zu Postproleten geworden. Sie haben früh alles verlassen, was ein Zuhause ausmacht: Familie, den Ort der Kindheit und Jugend, ein Milieu, eine ganze Klasse. Arbeiterkinder, die weggegangen sind, wissen um den Schmerz des Abschiedes. Gerade weil sie sich nicht verabschieden konnten. Dass sie gegangen sind, haben sie erst gemerkt, als sie schon lange weg waren.“



      taz.de/Abschiede-a...!6102972&s=Volkan/



      & hörens a weng. @StarKruser & seinen feinen Fingerzeigen zu & im around - wa.



      Normal

      unterm—— mal anders



      Während einige verdienstvoll bereichernd



      Shakes sein 🍺 & ollen Jöhten etc deklamieren - die bei uns rumstanden - las ich mit 16/17 verschärft (nach Ollen aus Wiedensahl) Kafka Tucho et al. pointilistisch!



      & ein schallendes Gelächter als mein Adlerianer Prof anmerkte - daß ich ja so stolz auf meine proletarische Herkunft sei!



      Mein großes Bruderherz weil er als Schulabbrecher par excellence - Förster werden wollte!



      Nö interessante Mischung: betuchtes Bildungsbürgertum

      • @Lowandorder:

        Na? Hie da & dorten Ladehemmung in der Netti⛓️🗄️ Räucherkammer!



        Klar “wir sind ja sowas von - an eurer



        Diskussion interessiert 🤥 🥴🤥🤥



        That’s a lie • nothing else!

      • @Lowandorder:

        (Mouder)…& (de Ohl;) Freie Bauern/lübsche Bürger seit Anfang des 19. Jhdt. /erbliche Bauernvögte seit dem Mittelalter dh lesen&schreiben - kl. Gerichtsbarkeit



        (Kanon ablösen mit 70tsd Louisdor!!)



        Wer als jüngster keinen Hof abbekam, mußte Studeeren!



        Und das arme Schwein 🐽 wurde drob sein Leben lang gehänselt - “Nee Nee Dokter warrn?! Nee dor lech ick fiiv Mark oppen Disch un hei möt mi inn Mors kiiken?!! Nee Nee gaa mi aff gaa mi loos!

        Ergo:



        Wohin Abschied nehmen, sich dann wenden.



        Die bürgerlichen: Freigeister & Privatgelehrte/Dilettanten des 19.Jhdt - Kosmos-Bände ab Nr. 1 - was eine Fundgrube.



        Die Bibliothek der Uni Halle/Saale post WK I geplündert? kriegen die Herren Studenten halt meine! Hutmacher der eine - mittlerer Eisenbahnbeamter der andere.



        Bei de Buurens - tankte ich mich durch die Naziliteratur - “Vom Kaiserhof zur Rechskanzlei“ ließ ich mitgehen!;) (Die Hans Mayer “…lausiger Schreiber /guter Redner - Reichsklumpfuß;(



        & Däh



        Akademiker hie&da; Juristen Fehlanzeige!



        (Ja wennde zu blöd bist mathematisch zu denken, mußte halt lernen juristisch zu denken! gr. Bruderherz!;)



        Was nahm ich mit?



        Gelebtes “keine Angst vor Fürstenthronen!“ & es half der Spott der Mutter •

    • @Zven:

      Am Ende der ersten Kolumne am 11.9.20 steht:



      "Zweifel machen auch wütend. Und sie werden zum ersten Schritt des Widerspruchs gegen eine Normalität, in der die Menschheit gespalten ist: in jene mit Kapital und solche, die allein über ihre Arbeitskraft verfügen.

      Proleten können es sich nicht leisten, allzu sehr zu zweifeln. Denn Zweifel muss man sich leisten können, sie setzen Zeit und Sicherheit voraus. Postproleten können das eher, sie müssen. Und wer einmal zweifelt, der muss etwas tun. Ich schreibe diese Kolumne."



      taz.de/Proletarisc...nbetrieb/!5707910/



      Vielen Dank dafür und weiterhin viel Erfolg!

      • @Martin Rees:

        Ich sage Volkan Agar auch "Danke" und: Alles Gute!

        Und danke für das Einstellen dieses Zitats vom Kolumnisten. Denn das sagt, jedenfalls für mich, was Volkan Agars Texte ausmacht, zusammen mit vielem Anderen, das wertvol für mich ist.

    • @Zven:

      Einer, der aus dem Arbeitermilieu "aufgestiegen" ist und jetzt auf seine früheren Kollegen hinunter schaut.

      • @sollndas:

        Ach was, geschieht das zwangsläufig?



        Immerhin ist mein Umfeld recht ausgedehnt, in dem kommen auch andere vor, sogar mehrheitlich.

        • @Erfahrungssammler:

          Aufsteiger mit Höhenangst. Das kenne ich. Es besteht ja immer das Risiko, auf der Zugspitze Dobrindt und/oder Söder zu treffen. Da wird mir schwindlig.

        • @Erfahrungssammler:

          Nö, das geschieht nicht zwangsläufig bei allen Aufsteigern.