Lage von Mieter:innen in Deutschland: Wohnen als Lebensmittel
Die Wohnungskrise verschärft die Kluft zwischen Mietern und Vermietern. Und die Politik? Liefert zu wenige Lösungen.
E s ist eigentlich ein bescheidener Wunsch. Jeder Mensch will eine günstige Wohnung, die Licht, Luft und Raum zur freien Entfaltung bietet. Doch für die Mehrheit der Mieterinnen und Mieter in Deutschland wird dieser Wunsch immer mehr zu einem unerfüllbaren Traum. Sie sind die Verlierer der Wohnungskrise, die sich insbesondere im letzten Jahrzehnt stetig verschärft hat.
Denn der Anteil des Einkommens, der durch die Miete gefressen wird, ist in den letzten 30 Jahren stark angestiegen. Das verdeutlichen Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft. So mussten Anfang der 1990er Jahre Mieterhaushalte im Mittel 15 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Kaltmiete ausgeben. Mittlerweile sind es ungefähr 25 Prozent.
Besonders verschärft hat sich die Lage für Großstadtmieter. Ein Forschungsteam um den Soziologen Andrej Holm ermittelte, dass die Hälfte aller dortigen Mieterhaushalte mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens für die Warmmiete aufwendet. Gut ein Viertel der Haushalte müssen sogar jeden Monat mindestens 40 Prozent ihres Einkommens an den Vermieter überweisen. Die kommende Steigerung der Nebenkosten ist hier noch nicht berücksichtigt.
Die Profiteure dieser Entwicklung sitzen am anderen Ende der Nahrungskette. Die reichsten 10 Prozent haben am stärksten von den steigenden Preisen am Wohnungsmarkt profitiert. Sie herrschen über fast zwei Drittel des gesamten Immobilienvermögens. Im letzten Jahrzehnt konnte diese kleine Elite allein durch die steigenden Immobilienpreise Vermögensgewinne von 1,5 Billionen Euro realisieren.
Die Entwicklung ist eigentlich nicht neu
Was wir als „Rückkehr der Wohnungsfrage“ erleben, ist das Aufflackern einer historischen Krise, die schon seit Beginn der kapitalistischen Gesellschaft schwelt. „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“ Diese Beschreibung ist 150 Jahre alt und stammt von Friedrich Engels.
ist Mitgründer und zweiter Vorsitzender der Initiative für eine Mietergewerkschaft e. V.
Die ehrenamtliche Initiative aus Frankfurt am Main will eine Gewerkschaft für Mieter:innen aufbauen.
Engels analysiert in diesem Aufsatz, warum sich die Wohnungsfrage im Kapitalismus immer wieder neu stellt. Im Kern ist der Mietvertrag „ein ganz gewöhnliches Warengeschäft“ zwischen zwei Bürgern. Das Interesse des Vermieters an einer profitablen Verwertung seines Immobilienkapitals und das Interesse des Mieters an guten Wohnbedingungen stehen dabei im Gegensatz zueinander. Der gesellschaftliche Kontext, in dem sich dieser Gegensatz vollzieht, führt zur Entstehung eines strukturellen Machtgefälles.
Das Machtgefälle zwischen Mietern und Vermietern hat seine Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise. Sie erzeugt eine große Masse eigentumsloser Arbeitskräfte, die – weder räumlich noch sozial gebunden – nur mithilfe der Lohnarbeit überleben kann. Die wirtschaftliche Dynamik führt zur räumlichen Zusammenballung von Kapital und Menschen in globalen Metropolregionen. Im Kapitalismus ist Boden eine Ware und die Verteilung urbaner Räume vollzieht sich nach Marktgesetzen. Konkret bedeutet das: Die zahlungskräftigsten Akteure erhalten den ersten Zugriff.
Wer nicht genug zahlt, zählt nicht
Unter diesen Bedingungen lohnt sich die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für Geringverdiener nicht. Wer nicht genug zahlt, zählt nicht. Und so beschreibt Engels, wie Mieter in regelmäßigen Abständen aus ihren Quartieren an die Ränder der Städte vertrieben werden. Er beschreibt, wie Vermieter ihre Gewinne durch alle möglichen Tricks und „Prellereien“ über die vereinbarte Miete hinaus zu steigern versuchen. Schilderungen, die heute bei von Gentrifizierung und überhöhten Nebenkosten betroffenen Mietern Déjà-vus auslösen.
Die Verschärfung der Wohnungskrise im letzten Jahrzehnt hat die Umverteilung der Macht zwischen Vermietern und Mietern nochmals beschleunigt. Seit 2010 steigen die Preise für Baugrund und Wohnimmobilien unablässig an. Nach der Finanzkrise wurden Investitionen in Immobilien lukrativer. Seitdem strömt immer mehr anlagensuchendes Kapital auf den Wohnungsmarkt. Wachsender Zuzug in die Städte und eine viel zu geringe Bautätigkeit begünstigen diese Dynamik zusätzlich. Weil die Wohnungspreise steigen, werden immer weniger Mieter zu Eigentümern. Diejenigen, die es noch können, treibt die Angst vor hohen Mieten zum Immobilienkauf. Infolgedessen dreht sich die Preisspirale weiter, wodurch sich am Ende abermals die Attraktivität des „Betongolds“ erhöht.
Die Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Eigentümern und Nichteigentümern am Wohnungsmarkt erfordert die selbstständige Organisierung der Mieter. Sie können ihre Lage nur verbessern, wenn sie die Vereinzelung überwinden und gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Einen anderen Weg gibt es für sie nicht.
Denn die herrschende Politik reagiert, indem sie Illusionen nährt. Mehr sozialer Wohnungsbau, Mietenbremsen und Erhaltungssatzungen sollen nach Aussage der regierenden Ampelkoalition für Entlastung sorgen. Die Hoffnung ist allerdings trügerisch. Steigende Bodenpreise sowie die Rohstoff- und Klimakrise werden den Neubau unvermeidlich immer teurer machen. Mietpreisbremsen und Erhaltungssatzungen haben sich in der Praxis als stumpfe Waffen gegen steigende Mieten erwiesen.
Klagen bringt allzu oft auch wenig
Viele Mieter versuchen deshalb, ihr Recht vor Gericht durchzusetzen. Aber der rechtliche Weg mündet häufig in einer Sackgasse. Gerichtsverfahren kosten viel Geld und viele Nerven. Die meisten Mieter haben dafür keine Ressourcen übrig. Noch aussichtsloser ist der rechtliche Weg bei mächtigen Gegnern wie der Vonovia, dem größten Wohnungsunternehmen in Deutschlands, dem mehr als 355.000 Wohneinheiten gehören. Selbst wenn das Unternehmen weiß, dass es verlieren wird, geht es häufig den Weg durch alle Instanzen, um den Rechtsstreit in die Länge zu ziehen. Der milliardenschwere, börsennotierte Konzern bezahlt die Rechtskosten aus der Portokasse.
Weder der Staat noch die Gerichte werden die Lage der Mieter langfristig verbessern. Aber die Mieter sind dennoch nicht schutzlos. Sie können an Verhandlungsmacht gewinnen, wenn sie ihre Zersplitterung überwinden. Als Werkzeug dafür bietet sich das Konzept einer Mietergewerkschaft an. Sie funktioniert wie eine traditionelle Gewerkschaft. Diese wurden gegründet, als die Arbeiter lernen mussten, dass sich ihre Interessen nur gemeinsam gegen die Bosse durchsetzen lassen. Eine Mietergewerkschaft strebt ebenso an, die Mieter zu einer kollektiven Macht zu formieren. Sie organisiert Mieterversammlungen, stellt Öffentlichkeit her und durchbricht die Isolation der Mieter. Im Gegensatz zu den Mietervereinen, die ihre Mitglieder passiv durch individuelle Rechtshilfe schützen, koordiniert sie aktiv die Kämpfe um die Miete.
Dass es funktioniert, zeigt das Beispiel einer Frankfurter Vonovia-Siedlung. Dort haben gewerkschaftlich organisierte Mieter angefangen, sich gegen die intransparenten Nebenkostenabrechnungen des Konzerns zu wehren. Auf Versammlungen konnten sich Betroffene ohne Angst vor Repressionen austauschen. Schließlich konnten die Mieter den Konzern an den Verhandlungstisch zwingen. Mit ihrer Organisationsmacht konnte die Mietergewerkschaft für ihre Mitglieder Rückzahlungen von überhöhten Betriebskosten erstreiten, ohne dafür den aufwendigen Rechtsweg zu gehen.
Zivilgesellschaftlicher Aktivismus kann lediglich dabei helfen, die Auswirkungen der Wohnungskrise zu mildern. Ihre Wurzeln können so allerdings nicht beseitigt werden. Denn im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft gibt es für die Wohnungsfrage keine Lösung. Eine Gesellschaft, die auf einer krassen Ungleichverteilung sozialer Freiheiten beruht und die gleichzeitig Grund und Boden als Ware behandelt, muss die Wohnungsfrage immer wieder neu erzeugen.
Gutes Wohnen geht Hand in Hand mit Pflege und Arbeit
Vielleicht lohnt es sich, nicht nur Engels’ Analyse, sondern auch seinem Lösungsvorschlag für die Wohnungsfrage Beachtung zu schenken. „Die Lösung liegt aber in der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, in der Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel durch die Arbeiterklasse selbst“, so seine These. Diese „Aneignung“ der Lebensmittel, zu denen selbstverständlich auch die Wohnungen zählen, wäre allerdings eine politische Aufgabe.
Zu ihrer Bewältigung wäre eine Partei notwendig, die eng mit den zivilgesellschaftlichen Kämpfen nicht nur für gutes Wohnen, sondern auch für gute Arbeit oder gute Pflege verbunden wäre. Sie könnte der Mieterbewegung ein politisches Programm geben und ihre Kämpfe dadurch effektiver machen. Als Engels diese Zeilen schrieb, gab es eine solche Partei – die Sozialdemokratie. Unter dem Banner des Sozialismus vermochte sie ein breites Netz von Organisationen zu etablieren, in denen die Menschen sich unabhängig gegen die Interessen von Unternehmern und Staat organisieren konnten.
Eine solche Partei existiert heute nicht. Sie könnte entstehen, wenn sozialer Aktivismus – wie derjenige in der Mietergewerkschaft – zu Erfahrungen führt, welche das Fehlen einer wirklichen politischen Alternative schmerzhaft ins Bewusstsein rufen. Es wäre der erste Schritt in eine Gesellschaft, die gute Wohnverhältnisse für alle Menschen nicht mehr als Traum, sondern als reale Möglichkeit am Horizont erscheinen ließe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste