Lage der Demokratie in Großbritannien: No. No. No. No. No. No. No. No.
Brexit-Chaos für Feinschmecker: Das Parlament lehnt die eigenen Vorschläge ab. Theresa May bietet ihren Rücktritt an. Wer blickt noch durch?
Das musste ja so kommen. Erst setzen die Hinterbänkler im britischen Parlament Himmel und Hölle in Bewegung, um endlich selbstbestimmt Vorschläge zum Brexit abstimmen zu dürfen, und dann lehnen sie jeden einzelnen ihrer eigenen Vorschläge ab. Egal ob No Deal oder No Brexit, ob neue Volksabstimmung oder das Norwegen-Modell: Keine Idee fand am Mittwochabend im Unterhaus eine Mehrheit. Selbst der offizielle Labour-Plan, von dem Jeremy Corbyn jeden Mittwoch im Parlament behauptet, er allein sei mehrheitsfähig, erhielt weniger Stimmen als zuletzt Theresa Mays Brexit-Deal.
Kurz bevor die Parlamentarier ihren bunten Brexit-Blumenstrauß in einen Komposthaufen verwandelten, hatte die Premierministerin vor der konservativen Fraktion ihren letzten Trumpf gezogen: Wählt meinen Deal und ihr seid mich endlich los. Nicht einmal Boris Johnson konnte da widerstehen, zumindest ein paar Stunden lang nicht. Denn das eröffnet die Chance, dass nach dem EU-Austritt ein neuer Premierminister, den die Brexiteers gern selbst stellen wollen, die Verhandlungen mit der EU über die künftigen Beziehungen führt.
Mit diesen beiden Wendungen ging das Brexit-Duell von Westminster über Nacht in eine neue Runde. Die rebellierenden Hinterbänkler wollen die zwei aussichtsreichsten ihrer Brexit-Modelle – zum einen einen Verbleib in der EU-Zollunion, zum anderen eine neue Volksabstimmung – am kommenden Montag noch einmal zur Abstimmung stellen, in der Hoffnung, dass wenigstens eines durchkommt. Oder beide, also eine Volksabstimmung über den Verbleib in der EU-Zollunion. Mit dieser Idee könnte dann rechtzeitig zum Stichtag 12. April eine weitere Brexit-Verschiebung bei der EU beantragt werden – bis dahin muss Großbritannien, sofern es das bestehende Austrittsabkommen mit der EU weiter ablehnt, eine Verschiebung über die Europawahlen hinaus beantragen oder ohne Deal ausscheiden.
In 10 Downing Street hingegen sieht das neueste Gedankenspiel so aus: Am Freitag, 29. März, also am ursprünglichen Brexit-Tag, kommt Mays Deal zum dritten Mal zur Abstimmung, geht diesmal durch, und dann gibt es den geordneten Brexit am 22. Mai, pünktlich zur Europawahl, an der die Briten nicht teilnehmen. Dann tritt auch Theresa May als Premierministerin zurück, damit jemand anders die „nächste Phase“ des Brexit leitet.
Wenn May sich durchsetzt, wird der Hinterbänkler-Plan hinfällig. Deswegen steht viel auf dem Spiel und es wird mit verdeckten Karten gespielt. Parlamentspräsident John Bercow bekräftigte und verschärfte am Mittwoch noch einmal seinen rechtlichen Hinweis, wonach der Deal nicht ohne „substanzielle Änderungen“ zum dritten Mal ins Parlament eingebracht werden dürfe. Parlamentsministerin Andrea Leadsom kündigte unbeirrt am Donnerstag im Unterhaus eine neue Brexit-Abstimmung für Freitag an, da ja noch diese Woche der Deal verabschiedet werden müsse, um die Verschiebungsvereinbarung mit der EU zu erfüllen.
Da es keine „substanzielle Veränderung“ gibt, kann nicht einfach der Deal selbst neu eingebracht werden. Die Abgeordneten könnten aber ihre Absicht bekunden, den unstrittigen Teil des Textes zu billigen, der die Austrittsmodalitäten klärt, während der Teil, in dem Sprengsätze wie der Nordirland-Backstop stehen, ausgeklammert bleibt. Damit wäre zwar der Deal selbst nicht „substanziell verändert“, wohl aber der abzustimmende Antrag. Diskussionen darüber mit Bercow „dauern an“, sagte Leadsom, während Bercow mit dem Kopf schüttelte.
Manche neunmalklugen Analysten schlagen vor: Erst wird Mays Deal angenommen und der Brexit vollzogen, später gibt es eine Volksabstimmung darüber, ob Großbritannien nach dem Ablauf der vorgesehenen Übergangsfrist in der Zollunion bleibt oder nicht. Das wäre ein dermaßen unverständlicher Geniestreich, dass wohl niemandem etwas Besseres einfallen dürfte – jedenfalls nicht in den verbleibenden kurzen Fristen.
Auch die Befürworter eines zweiten Brexit-Referendums wissen, dass sie eine hoch riskante Strategie fahren, wenn sie ihr Referendum wie bisher als Vehikel zum Verbleib in der EU verkaufen. Die Brexit-Populisten warten nur darauf, dass die Referendumsbefürworter in diese Falle tappen. Dominic Cummings, der geniale Wahlkampfleiter der Brexit-Kampagne „Vote Leave“ von 2016, warnte jetzt auf seinem Blog, solchen Politikern drohe eine noch viel höhere Niederlage als vor drei Jahren.
Denn eine zweite Volksabstimmung wäre eine Vertrauensabstimmung über das britische Politchaos der letzten vergangenen Jahre, so Cummings. „Bei einem zweiten Referendum wird es nicht um die EU gehen. Es wird um euch und um eure Parteien gehen, und wenn ihr 2016 schlimm fandet, wird das nächste Mal für euch unerträglich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos