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Labourchef erwägt zweites ReferendumDem „No-Deal-Chaos“ entkommen

Jeremy Corbyn schlägt erstmals eine Abstimmung über ein zweites Brexit-Referendum vor – und weicht damit von seiner bisherigen Position ab.

Jeremy Corbyn will, dass sich Großbritannien endlich aus der „Brexit-Sackgasse“ herausnavigiert Foto: reuters

London taz | Nachdem Theresa May am Montag nicht viel Neues offenbart hat, versuchen britische Abgeordnete, auf anderem Weg einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU zu verhindern. So überraschte die oppositionelle Labour-Partei am Montagabend mit einer Forderung nach einem zweiten Referendum.

Verpackt in einem Änderungsantrag für die Abstimmung über einen neuen Deal am nächsten Dienstag, forderte Parteichef Jeremy Corbyn, dass Abgeordnete aus anderen Optionen wählen sollten. Darunter ist auch ein zweites Referendum über die Abspaltung von der EU, um „aus der Brexit-Sackgasse und dem No-Deal-Chaos zu entkommen“.

Es war das erste Mal, dass Corbyn diese Möglichkeit öffentlich erwogen hat. Seine bisherige Position war, dass das erste Referendum zu respektieren sei. So stand es auch 2017 im Wahlprogramm von Labour.

Doch innerhalb der Partei erhöhte sich der Druck jener, die für ein zweites Referendum stark machten. Je nach Quelle sollen 71 bis 88 der Labour-Abgeordneten dies unterstützen. Selbst Keir Starmer, der Brexit-Schattenminister der Partei, soll eine solche abermalige Abstimmung befürworten.

Kampagne „People's Vote“ hocherfreut

Doch die breite Mehrheit ist das nicht. Die Schatten-Wohnungsministerin Melanie Onn aus der Brexit-Hochburg Great Grimsby in Lincolnshire etwa, die zu verstehen gab, dass sie nie für ein zweites Referendum stimmen würde.

Dennoch wurde der Schritt Corbyns von der Kampagne „People’s Vote“ begrüßt, die für ein solches weiteres Votum eintritt. Der Labour-Abgeordnete David Lammy, einer der Hauptlobbyisten für ein zweites Referendum, bezeichnete Labours Änderungsantrag als einen großen Schritt vorwärts. Lammy gehört auch einer kleinen zwischenparteilichen Gruppe aus Liberaldemokraten, der Grünen Caroline Lucas und der Labourabgeordneten Bridget Phillipson an, die Corbyns Führungsstil offen kritisiert.

Ist ein zweites Referendum das eine, ist die Frage des No-Deal-Brexit eine andere. Hier könnte es nämlich eine Mehrheit im Parlament geben, die sich dagegen stemmt. War es zuvor Corbyn, der als Voraussetzung für Gespräche mit May forderte, dass diese einen solchen ungeregelten Austritt vom Tisch nehme, stellen sich nun bis zu 40 konservative Abgeordnete gegen die Möglichkeit eines No-Deals.

Neuwahlen bislang Labours Lieblingsoption

Es könnte sogar zu Rücktritten aus dem Kabinett kommen: Eine Warnung kam diesbezüglich von Rentenministerin Amber Rudd, die May nahestehen soll. Rudd forderte deswegen eine fraktionsungebundene Wahl über den Ausschluss. Es ist nicht klar, ob Rudd selbst zurücktreten würde. Aber Kulturministerin Margot James, Verteidigungsminister Tobias Ellwood und möglicherweise auch Justizminister David Gauke gaben zu verstehen, dass sie diesen Schritt eingehen könnten. In Mays Kabinett und Ministerien gab es seit 2017 insgesamt 32 Rücktritte, die meisten aufgrund des Brexits. Ob die politische Überlebenskünstlerin May weitere Abgänge aushalten kann, ist fraglich.

Nach einem Bericht des Daily Telegraph hat der Geschäftsführer der Tories, Mick Davies, Parteifunktionär*Innen schon mitgeteilt, sie sollten sich für eine mögliche vorgezogene Nationalwahl rüsten. Neuwahlen galten als die Lieblingsoption der Labour-Führung, doch ein Misstrauensvotum gegen May misslang letzte Woche. Sollte die Premierministerin keine Übereinstimmung für ihren neuen Plan erhalten, könnten die Tories von sich aus Neuwahlen ausrufen.

Unter den Änderungsanträgen gibt es einige, die direkt vor einem ungeordneten Brexit schützen sollen. Ein Antrag der Labour-Frau Yvette Cooper etwa beabsichtigt den Artikel 50, nach dem die Mitgliedschaft der EU nach dem 29. März endet, solange herauszuschieben, bis es zu einer Einigung unter den Abgeordneten kommt.

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10 Kommentare

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  • Es ist interessant, wie eine enge, selbstbezogene Interpretation von Geschichte schwere Fehler nach sich zieht. Deutschland (u. Frankreich) haben die EU u.a. durch das Dublin-Abkommen, die frühzeitige Einführung des Euros bzw. eine Finanzpolitik geschwächt, die von Irland bis Griechenland das gleiche Zinsrégime einführte, aber die krass unterschiedliche Besteuerung beließ, ohne Rücksicht auf lokale Verhältnisse. Berlusconi und Salvini haben sich auf ihre Art dafür bedankt, Griechenland ist kaputt, Piräus gehört jetzt Cosco, also den Chinesen.



    Die britische Seite, in erster Linie die englischen Nationalisten, hat sich auf den bekannten Mythen (und z.T. Realitäten) der Vergangenheit ausgeruht.



    "If Brexit Britain wants Europe to listen, it must learn to speak European" steht am 25.Januar über einem Kommentar von Garton-Ash im Guardian.

  • Das Verhängnis im UK, sowohl Tories als auch Labour spielen aus vorgeschoben patriotischen Gründen mit verdeckten Karten beim Brexit Komplex mit und ohne Deal. Tories wollen auf jeden Fall raus der EU, auch, weil 2019, Jahr, in dem die Abschaffung der Steueroasen innerhalb der EU auf die Agenda kommt. Was die Briten ins Mark ihres postkolonialen Netzwerk Konstrukts trifft. London City als überdimensionierter Weltfinanzplatz, nernetzter Umschlag der Moneten der Proleten und Millionäre aus aller Heren Länder steueroptimiert Richtung weltweit britischer Steuerparadiese, u. a. Brit- Kanalinseln, Isle of Man in irischer See, alle queensize unter dem rechtlich outgesourcten Dach des Commonwealth of Nation.



    Wenn EU den Briten das alles nimmt, was haben sie dann noch vom kolossal kolonialen Erbe in der Hinterhand? Während Frankreich sein postkoloniales Erbe versteckt seit 1945 in CFA Franc Währungszone in 14 Ländern West- . Zentralafrikas, seit 2002 angedockt im Eurozonen System durch die Geldpolitik der EZB, geduldet von anderen Euroländern, zu seinen Gunsten zu Lasten Dritter vor allem in Afrika, Südeuropa Euroländern durch Austerity, nach unten geprügelten Euro durch Negativzins Politik, morbider Glanz & Gloria, unvermindert regulieren lässt.



    Labour sagt dazu, in Brexit Schockstarre versetzt, gar nichts, weil kedes Wort Für und Wider postkoloniales Erbe in brit. Hinterhand, angesichts kommend vorgezogener Unterhaus Wahl, als Illoyalität gegenüber der Royal Family ausgelegt, medial ausgeschlachtet werden könnte. Die Royals wiederum sind in der ganzen Brexit Geschichte. sonst gerne schrill. nun überhaupt und sonders, ssltsam ausgenommen, beredt still, wie immer, wenn die Royals wirklich unternehmerisch als Clan was wollen.

  • Neuwahlen, mit evtl Sieg der Labour Party.. würde die neoliberale Praxis der Tories beenden, der ausgemergelte Sozialstaat könnte erneuert werden.



    Und ein "NEIN" zum Brexit, durchn´ neues Referendum..? würde das Tories UK wieder an den EU Neoliberalismus koppeln.. das einstige , stolze Selbstbewusstsein des "British Commonwealth" ( als Begründung für den Brexit..) ist, so oder so zerbröselt´!



    Es darf vom "britischen polit- Disaster" geredet werden! ..bleibt das "JA" zum Brexit.. dann gibts grosse Probleme mit Nordirland, an denen das Königreich zerbrechen könnte! Die neoliberalen "Lords" in der EU sähen gerne die Tories mit "NO" to Brexit. Mr Corbyn und die Labour Party wird in der neoliberalen EU nicht willkommen sein .. kurz: ES IST [...] SPANNEND !

    Kommentar gekürzt, bitte bleiben Sie sachlich. Danke, die Moderation

  • Ist eigentlich der Brexit mit allen vorstellbaren und unvorstellbaren Konsequenzen etwas anderes als ein Machtkampf zwischen Tories und Labour?

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Ja, ich glaube schon, dass es sich nicht um einen typische Tories-/Labour-Kampf handelt, schliesslich gibt es in beiden Parteien Anhänger und Gegner eines Brexit.

      Soweit ich das mitbekommen habe, stimmen noch nicht einmal die Motive der gleichen Richtung überein, so dass die Suche nach einer Lösung äußerst mühsam ist ("Quadratur des Kreises").

      Hinzu kommt, dass - um nur dies mal beispielhaft zu sagen -, dass es auch in der Bevölkerung problematisch ist, weil auch dort eine eher "verquere" Stimmung herrscht.

      Die ganze Diskussion erinnert ein wenig an den Spruch "wasch mich, aber mach' mein Fell nicht nass".

  • Genauso wie Corbin, hat Wagenknecht eine recht seltsame Haltung zur EU. Für beide sind populistische und ökonomistische Aspekte (freier Warenhandel) Prioriät, während die Freizügigkeit für die Menschen der EU (und das heisst auch für die Armen aus Osteuropa im reichen Westen) sekundär ist. Damit liegen sie auf einer Linie mit Farrage, Le Pen und Gauland, die ein "Europa der Nationen" wollen. Corbin's Taktieren ohne Prinzipien ist peinlich und wird Labour schaden.

    • @Rinaldo:

      Deshalb ist Labour ja auch die einzige sozialdemokratische Partei in Europa, die bei den letzten Wahlen 10% zugelegt hat.

      Und sie möchten gerne, dass Labour so erfolgreich wird wie die SPD oder die französischen Sozialisten?

    • 6G
      60440 (Profil gelöscht)
      @Rinaldo:

      Genau so ist es. Und alle Genannten würden auch jederzeit eine Gelbweste anlegen.



      Naja, Nigel Farage eher nicht, er geht zwar gerne einen Trinken im örtlichen Pub und heizt dort die Stimmung an gegen die böse EU und all die furchtbaren Ausländer, sonst aber pflegt der alte Snob eher wenig Kontakt mit dem Pöbel.

    • @Rinaldo:

      Ich empfehle Ihnen, erst einmal den Namen von Corbyn richtig zu schreiben und sich dann darüber sachkundig zu machen, was sowohl Corbyn als auch Wagenknecht WIRKLICH sagen und wollen.

      • @Rolf B.:

        Danke mein Lieber...wer keine Sachargumente hat, hängt sich an der Verpackung auf...nur weiter so mit der "Dialektik".