Labour-Wahlsieg in Großbritannien: Sieg mit Schattenseiten
Labour konnte die 14-jährige Vorherrschaft der Tories brechen. Ihr Erfolg ist aber vielmehr Ergebnis glücklicher Umstände als eigene Begeisterungskraft.
E s ist vollbracht. Großbritannien bekommt eine Labour-Regierung, 14 Jahre konservative Herrschaft sind vorbei. Labour-Führer Keir Starmer kann triumphieren: Nach Auszählung von 642 der 650 Wahlkreise liegt seine Partei am Freitagmorgen bei 410 Sitzen im Unterhaus, mehr als doppelt so viele wie bei den letzten Wahlen, und steuert auf eine gigantische absolute Mehrheit zu.
Die Konservativen sind am Boden zerstört, nach dem größten Wahldebakel irgendeiner Partei in der britischen Geschichte. Von 365 Sitzen bei den Wahlen 2019 sind am Freitagmorgen gerade noch 119 übrig, viel mehr werden es auch nicht. Mehrere Dutzend Minister und Staatsminister fliegen aus dem Parlament, auch die Ex-Premierministerin Liz Truss. Viele andere mussten um ihre Mandate zittern. „Sichere“ Wahlkreise gibt es für die Tories nicht mehr.
Aber bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Labour-Wahlsieg als ziemlich hohl. Zum einen ist die Wahlbeteiligung mit rund 57 Prozent sehr niedrig, nach manchen Berechnungen die niedrigste seit 100 Jahren. Zum zweiten hat Labour selbst mit dieser niedrigen Beteiligung gerade mal rund 35 Prozent der Stimmen erhalten.
Im Vergleich zu Labours Wahldebakel unter Jeremy Corbyn 2019 hat Labour diesmal kaum drei Prozent dazugewonnen und die absolute Stimmenzahl könnte sogar zurückgegangen sein. Keir Starmer selbst verlor in seinem Londoner Wahlkreis 10.000 Stimmen und 17 Prozentpunkte, sein Ergebnis ist schlechter als das seines Vorgängers Jeremy Corbyn, der in einem benachbarten Londoner Wahlkreis als Unabhängiger gegen Labour antrat und siegte. Ein strahlender Sieger sieht anders aus.
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Beihilfe durch Farage, Liberaldemokraten und Schottland
Nur weil die Konservativen auf ein historisches Tief von 24 Prozent abstürzen, kann Labour so viele Direktmandate einheimsen. Aber von den Stimmen, die die Konservativen verloren haben, sind nur ein Drittel an Labour gegangen. Zwei Drittel landeten bei der neuen rechtspopulistischen Kraft „Reform UK“ von Nigel Farage, die zwar nur vier Wahlkreise gewonnen hat, aber in vielen anderen an zweiter Stelle liegt und fast überall die Partei mit den höchsten Zuwächsen ist.
In vielen Labour-Hochburgen und auch vielen Sitzen, die 2019 erstmals konservativ gewählt hatten und jetzt zurück an Labour gingen, war in der Wahlnacht zu beobachten, wie Labour praktisch unverändert gegenüber 2019 bleibt und der Tory-Absturz durch einen Reform-Höhenflug gespiegelt wird.
Gewinner des Tory-Absturzes sind auch die Liberaldemokraten, die reihenweise sicher begüterte konservative Wahlkreise einheimsen und mit bislang 71 Sitzen – vor fünf Jahren waren es noch 11 – ihr bestes Ergebnis seit über 100 Jahren einfahren, bei einem praktisch unveränderten Stimmanteil.
Labours Wahlsieg ist auch in erheblichem Ausmaß auf Schottland zurückzuführen. Die dort regierende Schottische Nationalpartei (SNP) ist nur noch ein Schatten ihrer selbst im britischen Parlament. Von 48 Sitzen bei den letzten Wahlen sind gerade einmal 8 übriggeblieben, Labour hat Dutzende schottische Mandate dazugewonnen. Nur weil die SNP so schwach ist, sieht Labours Parlamentsmehrheit so beeindruckend aus.
Große Erwartungen, minimale Wahlversprechen
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Die neue Labour-Regierung agiert also auf dünnem Eis und muss entsprechend vorsichtig regieren. Das entspricht Keir Starmers Naturell, der im Wahlkampf nur minimale Wahlversprechen abgab und sich sehr bedeckt über mögliche weitere Vorhaben hielt. Große Visionen gab es im Wahlkampf keine. Es wird auch danach keine geben. Labour sieht sich jetzt als Reparaturbetrieb, der einen von den Tories an die Wand gefahrenen Staat wieder flottmachen will.
Wird das genug sein, um die genervte Stimmung im Wahlvolk aufzufangen? Nigel Farage steht schon bereit, um den Unmut aufzufangen, sobald Labour die Erwartungen auf Wandel nicht wahrnehmbar erfüllt. Selten hatten bei einer britischen Wahl die Sitzverhältnisse im Parlament so wenig mit den Stimmungsverhältnissen im Land zu tun.
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