Kunstschau in vier Ruhrgebietsstädten: Flanieren im Hier und Jetzt

Die Kunstschau „Ruhr Ding“ an öffentlichen Orten im zersiedelten Ruhrgebiet bringt schön irritierende Momente in leerstehende Kaufhäuser oder Büdchen.

Sanft erleuchtete alte Telefonzelle im 70er Jahre Wohnungsbau

Sanft leuchtet die mit Schaum gefüllte Telefonzelle von Stephanie Lüning vorm 70er Jahre Wohnungsbau Foto: Henning Rogge/Ruhr Ding 2023

Miami Bass. Nun steht man in Mülheim unter den mächtigen Betonpfeilern einer Brücke – der Bass wummert von einem Schiffscontainer aus sechs kantig geschnittenen Boxen hin zum Parkplatz einer Werkanlage und weit über die Ruhr auf eine Insel. Dort, zwischen dem breiten Dach der Brücke und dem vernebelten Grün der Schwemmwiese versucht eine ­Entenfamilie neugierig zu verstehen, wo denn die tiefen Schallwellen her­kommen.

Der Berliner Künstler Nik Nowak hat die Klangskulptur installiert, für die nächsten sieben Wochen während des Ausstellung „Ruhr Ding“ wird das Rauschen von vielen Teilen der Welt hier hinunterströmen. Der Titel dieser Kunstschau ist ein Understatement, vielleicht nehmen sie deswegen nicht so viele Leute wahr, wie es eigentlich sein müsste.

„Ruhr Ding“ – was sagt das? Soll es diese nostalgische Runtergebrochenheit auf das Alltägliche, das Proletarische aufzeigen, mit dem sich das Ruhrgebiet so gerne vermarktet, wie der unerlässliche Kameraschwenk auf eine Trinkhalle beim Dortmund-„Tatort“?

Der öffentliche Raum wird bespielt

Dieser provinzielle Titel zumindest lenkt davon ab, wie groß die Ausstellungstrilogie eigentlich ist. 2019 fand sie erstmals statt, seither bespielt sie alle zwei Jahre über Wochen den öffentlichen Raum in mehreren Städten der Metropolregion und schließt nun mit diesem gerade eröffneten letzten Teil ab.

„Ruhr Ding: Schlaf“. Eine Ausstellung im öffentlichen Raum in Mülheim an der Ruhr, Gelsenkirchen Erle, Essen und Witten. Bis 25. Juni 2023

Britta Peters, die künstlerische Leiterin, hat mit dem „Ruhr Ding“ eine Kunstschau nach einem ähnlichen Konzept wie die Skulptur Projekte Münster ins Leben gerufen. Doch anders als in Münster, das seit 1977 alle zehn Jahre zum Pilgerort der inter­nationalen Kunstszene wird, grätscht Britta Peters’ Schau hier nicht in eine bürgerliche Zufriedenheit hinein.

In Essen-Steele, in Gelsenkirchen-Erle oder Witten blickt man auf urbane Zustände. Da ist zum Beispiel dieses Büdchen in Mülheim auf dem Vorplatz des historischen Rathauses, eine neobarocke Burg und Kulisse für Hochzeitsfotos. Über Jahre gammelte es vor sich hin, wurde zum Gegenstand erregter Debatten in der klammen Stadt, die von der Ruhr in wohlhabende und arme Gebiete ­geteilt wird.

Viron Erol Verts bunte Umbauung eines Büdchens in Mülheim an der Ruhr

Vom Kulminationspunkt zum Utopos: Viron Erol Verts Umbauung eines Büdchens in Mülheim an der Ruhr Foto: Daniel Sadrowski

Neonlicht und flauschiger Teppich

Künstler Viron Erol Vert umbaute jetzt die Baracke mit grünen und ­pinken Modulen, beleuchtet die Decke mit grafischen Neonlicht, legt einen flauschigen Teppich aus. Sein „Köşk x Kiosk“ – ein Hinweis darauf, wie das Wort Kiosk aus dem Persischen über das Türkische in die deutsche Sprache einsickerte – ist ein auch nachts bunt leuchtendes Ufo. Für einige Wochen wird der soziale Kulminationspunkt zum Utopos – und verschwindet dann wieder.

Nur einige Meter weiter im Vorraum zum ulkigen Fotokopie-Museum verschiebt sich in der Videoprojektion an der Wand die Dimension von Zeit. Arte-Povera-Künstlerin Laura Grisi, die 2017 verstarb und in den späten 1960er Jahren ähnlich wie Joan Jonas oder die gerade erst wiederentdeckte Margaret Raspé in kurzen, experimentellen Filmsequenzen Naturphänomene festhielt, ließ in dem 6-Minuten-Film zählend Sandkörner am Strand durch die Finger rieseln. Die Absurdität dieses Sisyphosakts rückt Zeit in die Ferne, während sie gleichsam gemessen wird.

Gewebe aus Autobahnen, Gleisen und Gärten

„Schlaf“ nennt sich das letzte der drei Kapitel vom „Ruhr Ding“, zuvor hießen sie „Klima“ und „Territorium“. Und auch wenn sich das Thema Schlaf in die 20 ausgestellten Projekte hineinlesen lässt, dies kuratorische Gerüst braucht die Schau nicht. Das Besondere der Ausstellung in vier Städten ist das suchende Herumstreunen, das die einzelnen Kunstinstallationen aus einem herauskitzeln; dieses Schlendern – zu Fuß, mit dem Rad, mit den Öffentlichen – entlang der beeindruckenden Zersiedelung des Ruhrgebiets, wo Urbanität ein Gewebe aus Autobahnen, Gleisen und Gärten ist. Um dann an einem bestimmten Ort zu verwahren, um sich bewusst zu werden, wo man sich, wo wir uns, eigentlich befinden in dieser Gegenwart.

In einem stillgelegten Wasserwerk in Witten sind wir zwischen realen Datenströmen und virtueller Welt. Der schottische Künstler Yuri Pattison lässt auf einem me­tergroßen LED-Screen in der imposant gekachelten Halle Gaming-Landschaften ablaufen. Immer fließt Wasser in den Szenerien düsterer Kanalisationen oder idyllischer Auen.

Yuri Pattison lässt in einem stillgelegten Wasserwerk Gaming-Landschaften über den LED-Screen laufen

Yuri Pattison lässt in einem stillgelegten Wasserwerk Gaming-Landschaften über den LED-Screen laufen Foto: Henning Rogge/Ruhr Ding 2023

Seine Farbe changiert mit dem Sauerstoffgehalt in der daneben fließenden Ruhr, mal ist das Wasser klar, mal gelb und suppig. Von einem automatischen Klavier erklingt eine minimale Melodie, auch sie ändert sich mit den Messwerten. Das, was außen passiert, es dringt immer zu uns durch, auch im Versuch, dem zu entfliehen.

Traumartig bewegen sich überlebensgroße Hände und Arme im Schaufenster der leerstehenden Galeria Kaufhof in Witten. Zärtlich, in kleinstmotorischer Bewegung streichelt ein Finger einen Baumstamm entlang. Die sympathisch ruckelnden, mechanischen Figuren von Joanna Piotrowska aus reproduzierten Fragmenten von Fotos ihres Familienarchivs erinnern an die surrealistische Fotografie Anfang des 20. Jahrhunderts.

Das desolate Objekt von Immobilieninvestoren

Doch es sind intime Momente aus der persönlichen Geschichte der Künstlerin, die hier als Versatzstücke aus der Vitrine in die Öffentlichkeit gelangen. Von einem Gebäude aus, das einst mit seinen charakteristischen Hortenkacheln das Konsumzentrum der Innenstadt symbolisierte und heute ein desolates Objekt von Immobilieninvestoren ist.

Ohnehin ziehen sich die leerstehenden Kaufhäuser wie ein Leitmotiv durch die Ruhrgebietsstädte. Das Wertheim in Essen-Steele musste schon bald nach der Eröffnung 1972 schließen. Kameelah Janan Rasheed hat für das „Ruhr Ding“ auf der Fassade des Warenhauses eine scheinbar überdimensionale Fotokopie appliziert.

Eine Menge sich überlagernder und überblendender Hände vereinnahmen mit diesem DiY-artigen Poster die trostlose Architektur. Essen Steele ist von den großen Phasen der Stadtplanung geprägt. Im späten 19. Jahrhundert strebte man hier mit zwei neogotischen Kirchen das historistische Stadtbild der Kaiserzeit an, dann legte sich die Tabula-rasa-Moderne der 1960er und 1970er Jahre dazwischen.

Radikale Stadterneuerung, doch ohne Frauen

Den damals entstandenen Betongroßstrukturen mit Parkplatz, Ladenzeile und abgetreppten Wohn­ebenen fielen ganze Straßenzüge aus der Gründerzeit zum Opfer. Eine solch radikale Stadtsanierung wie in Essen-Steele hat es im Ruhrgebiet seither nicht gegeben.

In einer dieser 70er-Jahre-Wohnungen hat Alicja Rogalska nun ein Interieur eingerichtet. Man steht in dem schönen, durchlichteten Apartment, das ja mit seiner Entstehungsgeschichte geradezu verdammt ist, und wird beim Blick auf Rogalskas Zimmerpflanzen, Kaffeemaschine oder Bügelbrett auf eine Leerstelle aufmerksam. Denn bei all den Planungen und Fehlplanungen für die Stadt bleibt die weibliche Perspektive aus. Jede Entscheidung zum Stadtumbau in Essen-Steele sei nur von Männern getroffen worden, erzählt eine örtliche Architektin in Rogalskas Film „Sister Flats II“, der in der Wohnung auf einem der Flatscreens abläuft.

Dabei gab es zum Zeitpunkt des Steelener Großprojekts einen ausgeprägten feministischen Architekturdiskurs. Die seit der Pandemie so viel diskutierte „Care-Arbeit“, wie sie sich auch räumlich organisieren lässt, das wurde schon damals debattiert („Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“, fragte etwa Dolores Hayden 1981 in ihrem viel zitierten Aufsatz). Doch offenbar braucht es auch heute noch einen so plakativen Verweis wie Alicja Rogalskas Gardine aus BHs und Korsetts, um darauf aufmerksam zu machen.

Nora Toratu, Maximiliane Baumgartner – die Namen der teilnehmenden Künst­le­r:in­nen tauchen in den vergangenen Jahren immer mehr auf den Listen musealer Einzelausstellungen auf. Das ist auch ein Unterschied zu den Skulptur-Projekten in Münster. Britta Peters setzt für das „Ruhr Ding“ nicht auf die etablierten, sondern die jüngeren Stimmen der Kunstszene. Obwohl mit dem Oscar-prämierten Filmregisseur Michel Gondry ein veritabler Star dabei ist. Die Anziehungskraft dieser Schau entsteht durch die Kunst selbst, durch ihr irritierendes Moment an manchmal ganz beiläufigen Orten.

Die Recherchen wurden unterstützt von Urbane Künste Ruhr

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