Krise der Ampel: Lindner spielt das Angsthasenspiel
Der Finanzminister stellt mit seinem Papier unerfüllbare Maximalforderungen. So handelt nur jemand, der längst mit dem Rücken zur Wand steht.
A uch im Finanzministerium dürfte ein Modell aus der Spieltheorie bekannt sein, das für die Analyse mancher Konflikte hilfreich sein kann: In einer Mutprobe fahren zwei Fahrzeuge – sagen wir, zumindest eines davon ist ein Porsche – mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Wer zuerst ausweicht, bewahrt zwar sein Leben, geht aber als Angsthase in die Geschichte ein, während der andere als mutiger Gewinner ewigen Ruhm davonträgt. Weichen beide Fahrer aus, teilen sie ihre Schmach, die folglich für beide weniger schwer wiegt. Weicht keiner aus, verlieren beide – ihr Leben.
Mit dem Angsthasenspiel können Situationen beschrieben werden, in denen kaltblütiges Handeln den größten individuellen Nutzen bringt, wenn man Gegnern Feigheit unterstellt. FDP-Chef Christian Lindner hat genug Grund zur Annahme, dass seine Koalitionspartner bei der Frage „Friss oder stirb“ – nichts anderes ist sein Wirtschaftspapier von Freitag – zu schlucken wissen werden.
Wie oft haben die Liberalen schon mit dem Ende der Koalition kokettiert und auf diese Weise sogar beschlossene Gesetze wieder infrage gestellt – aktuell ist genau das wieder in der Rentenpolitik zu beobachten. Von anderen Projekten, die im Koalitionsvertrag vereinbart sind, ganz zu schweigen: Beim Demokratiefördergesetz, bei der Verschärfung des Waffenrechts, beim Gewalthilfegesetz, beim Tariftreuegesetz steht die FDP quer, und die Liste ließe sich lange fortführen.
Es heißt, Durchhalteparolen nutzen sich mit der Zeit ab, doch SPD und Grüne beweisen in ihrem Umgang mit der FDP das Gegenteil. Allen Umfrageergebnissen, dem Kopfschütteln und dem Zähneknirschen zum Trotz – die Regierung hält. Olaf Scholz möchte das als Besonnenheit verstanden wissen, Robert Habeck als Ausdruck staatspolitischer Verantwortung.
Ausgestreckter Mittelfinger
Für Christian Lindner kommt das aufs Gleiche raus: Ihm stehen Angsthasen gegenüber. Der Finanzminister hat mit seinem Wirtschaftspapier Maximalforderungen in den Raum gestellt, die sich vor allem in der Klimapolitik wie ein ausgestreckter Mittelfinger an die Grünen lesen. So handelt nur jemand, der längst mit dem Rücken zur Wand steht, weil er Druck von der eigenen Parteibasis verspürt.
Nimmt man das Angsthasenspiel als Analyseansatz, geht es dem Finanzminister um die eigene Nutzenmaximierung in einer vertrackten politischen Lage. Seine Gegner müssen demzufolge glaubhaft machen, dass auch sie bereit wären, Kurs zu halten. Dieser Kurs heißt Ampel-Aus. Für die FDP mit ihren 4 Prozent und Lindner, der die Partei einst in diese unbeliebte Koalition führte, könnte es dann sehr schnell sehr einsam werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren