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Kriminologe über Polizeiarbeit„Das Problem wird immer größer“

Der Kriminologe André Schulz über die Silvesternacht in Köln, Polizeieinsätze, Europas Grenzen und die Folgen des Antiterrorkriegs.

„Eher den Umständen geschuldet“: Polizei vor dem Kölner Hauptbahnhof. Foto: dpa
Daniel Bax
Interview von Daniel Bax

taz am wochenende: Herr Schulz, die amtlichen Berichte über die Silvesternacht in Köln liegen jetzt vor, das Fazit lautet: Die Polizei hat an Silvester in Köln versagt. Wie kam es Ihrer Meinung nach dazu?

André Schulz: Genau das muss jetzt in Ruhe aufgearbeitet werden. Es kann sein, dass die Lage im Vorfeld nicht korrekt beurteilt wurde, dafür gibt es aber noch keine Hinweise. Im Nachhinein muss jetzt analysiert werden, ob die Entwicklung hätte verhindert werden können. Dass eine Situation mal aus dem Ruder läuft, kann immer passieren, aber dann muss man richtig reagieren. Offenbar hat die Polizeiführung den Eindruck gehabt, durch die Räumung des ­Bahnhofsvorplatzes um Mitternacht sei das Pro­blem gelöst, darum hat sie keine Verstärkung angefordert.

Als am Sonntag in Köln die Hooligans gegen Salafisten am Kölner Hauptbahnhof demonstrierten, waren mehr als 2.000 Polizisten im Einsatz – in der Silvesternacht nur 143. Ist das verhältnismäßig?

In dieser Silvesternacht waren in Köln beinahe doppelt so viele Beamte im Einsatz wie im Jahr davor – trotzdem waren es zu wenig. Demonstrationen und Fußballspiele, wie wir sie jedes Wochenende haben, sind vorhersehbarer, und darum klappt es ja meistens ganz gut, die Hooligans und Ultras in Schach zu halten. An Silvester war die Lage viel schwieriger einzuschätzen. Es ist ja bemerkenswert, dass alle bisherigen Tatverdächtigen nicht aus Köln stammen, sondern erst zu Silvester angereist sind. Da bot sich eine besondere Tatgelegenheit, die es so nur ein- bis zweimal im Jahr gibt.

Inzwischen liegen über 500 Anzeigen vor, aber in der Nacht selbst gab es keine einzige Festnahme. Warum?

Teilweise war das nicht möglich, weil die Polizei mit anderen Problemen zu kämpfen hatte, teilweise wurden wohl andere Schwerpunkte gesetzt. Rechtliche Hindernisse gab es dafür nicht. Aber die Taten müssen als solche auch erstmals erkannt werden, und die Täter müssen greifbar sein. Auch das war in dieser Situation nicht immer der Fall.

Es gibt Opfer, die sagen, die Beamten hätten nur mit den Achseln gezuckt, wenn sie von sexuellen Übergriffen berichtet hätten. Wurde diese Straftat von der Polizei bislang nur als Bagatelldelikt gewertet?

Ich denke, das war eher den Umständen geschuldet. Natürlich hat eine sexuelle Belästigung eine andere Qualität als eine Vergewaltigung und erfordert eine andere Reaktion. Aber grundsätzlich gilt: Wir brauchen konkrete Hinweise auf eine Täterschaft, um weitere Maßnahmen durchführen zu können und zum Beispiel: die Identität feststellen zu dürfen. Das war in dem Gewühl so nicht möglich.

Ist das eine neue Masche – sexuelle Belästigung in Tateinheit mit Diebstahl? Eine Variante des berüchtigten „Antanztricks“, bei dem das Opfer körperlich angegangen wird, um es auszurauben?

Wir kannten Diebstahl in Tateinheit mit sexueller Gewalt auch schon vorher – aber nicht in dieser Größenordnung. Das ist vielleicht in Nordafrika verbreitet, aber in Köln war das bislang nicht bekannt. Es handelt sich um eine Form der importierten Kriminalität, die aber nicht allein auf eine bestimmte Nationalität oder Herkunft zurückzuführen ist.

bdk
Im Interview: André Schulz

Der 45 Jährige ist Volkswirt und Erster Kriminalhauptkomissar beim LKA Hamburg. Seit 2011 ist er Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.

Gewisse Diebesbanden machen Köln schon seit geraumer Zeit unsicher. Ist unser Rechtsstaat gegen sie machtlos, ist die Justiz zu schwach?

Das müssen die weiteren Ermittlungen zeigen. Aber viele dieser Kriminellen sind schon seit längerer Zeit polizeibekannt und teilweise auch in ihrem Herkunftsland straffällig geworden. Hier bringen sie nun die ehrlichen Flüchtlinge in Verruf.

Führende Politiker fordern jetzt schnellere Ausweisungen. Würden die etwas ändern? Die Frage ist, wohin?

Aber auch Einsperren kann immer nur die Ultima Ratio sein. Neunzig Prozent der Leute kommen ja aus der Haft nicht als bessere Menschen raus. Das Problem beginnt und endet für mich mit der Außenpolitik. Es beginnt mit dem Antiterrorkrieg und der Zerstörung staatlicher Strukturen im Irak und in Syrien, wo selbst die Amerikaner heute sagen, sie hätten zur Entstehung des IS beigetragen. Wir haben die Folgen zu tragen. Die Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes bringt da wenig. Denn in welche Länder will man die Straftäter denn zurückführen, wenn wir die Identität nicht zweifelsfrei feststellen können oder wenn dort Krieg herrscht?

Politiker aller Parteien fordern, die Täter aus der Silvesternacht hart zu bestrafen. Kann die Videoüberwachung helfen, sie zu überführen?

Von den Vorfällen gibt es nur wenige Videoaufnahmen, und die Qualität ist überwiegend sehr schlecht. In Köln im und vor dem Bahnhof gibt es nur wenig Videoüberwachung, und die Kameras sind in der Regel nicht eingeschaltet. Das ist eine politische Entscheidung, denn eine Überwachung des öffentlichen Raums ist von vielen nicht erwünscht.

Der Kölner Polizeipräsident hat früh von „Nordafrikanern“ gesprochen. War es richtig, die Herkunft der Täter zu nennen? Oder hätte der Hinweis gereicht, dass es sich dabei um polizeibekannte Diebesbanden gehandelt haben könnte?

Jede Polizeibehörde entscheidet, oftmals in Absprache mit der Staatsanwaltschaft, selbst, welche Informationen sie herausgibt und welche nicht. Unter kriminologischen Gesichtspunkten spielen Herkunft und Religion keine Rolle. Aber von der Polizei wird in solchen Fällen größtmögliche Transparenz erwartet. Und wir dürfen negative Begleiterscheinungen bestimmter Entwicklungen nicht verschweigen, nur weil uns die gesellschaftlichen Folgen der Debatte nicht gefallen. Die Frage ist, wie verantwortungsvoll Medien mit solchen Informationen umgehen. Über neunzig Prozent der Kriminalität wird gar nicht berichtet. Und wenn die Täter Deutsche sind, wird die Herkunft generell nicht erwähnt. Dagegen ist bekannt, dass Migranten im Bereich der Straßenkriminalität überrepräsentiert sind. Da muss man sich fragen, was es bringt, zu erwähnen, dass es sich bei einem Ladendieb um einen Polen handelt.

Viele führen die sexuellen Übergriffe von Köln auf das Frauenbild der nordafrikanischen Täter zurück. Zu Recht?

Ja, aber das hat auch mit der Schicht und dem Bildungsstand zu tun. Ein marokkanischer Lehrer oder Arzt würde so etwas vermutlich nicht tun. Deswegen ist es falsch zu sagen, die Marokkaner sind alle so.

Zeigen die Vorfälle in Köln, dass unsere Sicherheitsbehörden der grenzübergreifenden Kleinkriminalität hinterher hinken?

Ja, das ist so, und das Problem wird immer größer. Ich bin ein überzeugter Europäer. Aber schon bei der Erweiterung der europäischen Freizügigkeit hätte man sich fragen müssen, welche Kompensationsmaßnahmen es gibt, um für die Sicherheit zu sorgen. Stattdessen wurden Stellen abgebaut und in vielen Bereichen die rechtlichen Anforderungen für polizeiliche Maßnahmen erhöht. Wir müssen jetzt mehr Quellen auswerten, Stichwort Big Data, haben dafür aber weniger Personal. Das beißt sich. Zugleich gibt es diese Kleinstaaterei innerhalb Deutschlands und in Europa. Versuchen Sie mal, ein Rechtshilfeersuchen nach Frankreich oder Großbritannien zu stellen! Das können Sie gleich in den Müll werfen, von außereuropäischen Ländern ganz zu schweigen. Alle verteidigen eifersüchtig ihre nationale Polizei, statt Europol zu stärken. Das bleibt hinter den heutigen Erfordernissen zurück.

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9 Kommentare

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  • Wieso hacken eigentlich alle immer nur auf die Kölner Polizei ein und NRW-Landesinnenminister Jäger? Ein grosser Teil der Vorfälle fand statt innerhalb des Hauptbahnhofes, und hier ist die Bundespolizei zuständig rsp. Bundesinnenminister de Maizière.

    • @Seeräuberjens:

      Richtig. Aber auch Landespolizei ist nicht untersagt, dort einzuschreiten.

  • Man kennt die Reaktion von Polizei-Beamten ja auch seitens der Duisburger Love-Parade.

     

    Auf den Hinweis, dass sich die Leute im hinteren Bereich zu Tode trampeln, zuckte ein Polizist der Hundertschaft nur mit den Achseln und fragte, ob der Melder dieser Situation nun hier das Sagen hätte.

     

    Hier muss man einfach auch mal das Verhalten der Polizei kritisieren.

     

    Ich habe das Gefühl, dass sich Polizisten bei solchen Veranstaltungen immer in einer Art von Bedrohungs-Szenario befinden und auf Hinweise seitens der Zivilisten immer mit einer Art von Argonie reagieren.

     

    Darin sollte die Polizei mal geschult werden. Polizei sollte Partner von Demonstrationen u. Veranstaltungen sein anstatt sich als angenervtes Subjekt zu empfinden, das jederzeit bereit ist, sich gegen das veranstaltende Volk zu stellen.

     

    Hier kann man sehen, wie aggressiv eine Polizistin mit Fingerzeig reagiert und sich im Ton vergreift: https://www.youtube.com/watch?v=bcI6FNhS5v4

  • 4G
    4932 (Profil gelöscht)

    Nach dem Lesen des Interviews habe ich den Eindruck, daß dort Polizisten eingesetzt waren, denen es neu war, daß sie eigentlich zur Verhinderung von Verbrechen eingestellt wurden. Da wundert es mich nicht, daß sie auch die Anzünder von Asylbewerberheimen nicht finden. Und Zitat: 'Von den Vorfällen gibt es nur wenige Videoaufnahmen, und die Qualität ist überwiegend sehr schlecht. In Köln im und vor dem Bahnhof gibt es nur wenig Videoüberwachung, und die Kameras sind in der Regel nicht eingeschaltet', Von so einer Truppe sollte man sich keinen Schutz erwarten, und eine Strafverfolgung auch nicht. Dies ist ein Komplettversagen eines staatlichen Organs. Das hat nicht in erster Linie mit 'nordafrikanisch' aussehenden Menschen, sondern mit sehr deutsch aussehenden Polizeibeamten zu tun. Mit Verlaub.

    • @4932 (Profil gelöscht):

      Das ist nicht Staatliches Versagen! Sondern Menschliches!

       

      Wir leben in einer zutiefst egoistischen Gesellschaft. Wo sich keiner mehr wirklich um den anderen kümmert!! Und sehr viele Deutsche kümmern sich schon gar nicht um Ausländer. Im Gegenteil...die wollen die meissten Deutschen doch nur loswerden.

       

      Auch existiert bei sehr vielen Deutschen ein unglaublicher sexueller Chauvinismus gegenüber Frauen!! Seehofer hatte nicht umsonst 1997 die Vergewaltigung in der Ehe straffrei gestellt!

       

      Vorallem aber lesen Sie die Bibel mal richtig! Dort wird die Frau zutiefst unterdrückt und als Sexobjekt behandelt! Die Geschichte um Ruth beweist dies. Im Koran steht so etwas nicht.

       

      Wir leben in einer pathologischen Gesellschaft!! Völlig abgestumpfte Menschen. Der latent vorhandene Rassismus in den Behördne tut das übrige dazu. Der Narzissmus ist DAS Problem in der Gesellschaft!!

    • @4932 (Profil gelöscht):

      Der Mann führt dann ja weiter aus, daß die fehlenden/schlechten/ausgeschalteten Kameras auf politische Entscheidungen zurückzuführen sind, was so weit plausibel ist.

       

      Dito waren die unglücklichen Einlassungen des gewesenen Polizeipräsidenten politisch motiviert. Das staatliche Organ hat vom Kopf her versagt, und das quasi mit Ansage - den einfachen Bullen kann man da ebensowenig einen pauschalen Vorwurf machen wie "den Nordafrikanern".

  • Eine richtige Erkenntnis: "Das Problem beginnt und endet für mich mit der Außenpolitik. Es beginnt mit dem Antiterrorkrieg und der Zerstörung staatlicher Strukturen im Irak und in Syrien, wo selbst die Amerikaner heute sagen, sie hätten zur Entstehung des IS beigetragen" -Leider ist eine explizite Distanzierung von dieser Politik mit der U.S.-devoten Kanzlerin (und der ebenso Transatlantik-servilen olivgrünen Opposition) nicht zu erwarten.

    • @Ulrich Frank:

      ... und sie wird noch devoter werden , vielleicht mit regelmäßigem Kniefall vor der Liberty in NY . Denn , oh Schreck aller Schrecken - : die Amis halten DAS AUTO , und vllt alle unsere , UNSERE Edelautos an der Gurgel . Jetzt hilft nur noch , die kniefällige Devote so schnell wie möglich abzudanken - ... sonst ist auch TTIP durch .