Kriminalität in Ecuador: In den Händen der Banden
Ecuador galt in Lateinamerika einst als „Insel des Friedens“. Doch angetrieben vom Drogenhandel eskaliert dort die Gewalt. Wohin steuert das Land?
A uf den ersten Blick wirkt die Calle 18 wie viele andere Straßen im dichten Großstadtgewirr von Guayaquil. Frühmorgens kräht aus einem Hinterhof der Hahn, Kramläden reihen sich aneinander, Restaurants bieten Mittagsmenüs für drei US-Dollar, und in den vulcanizadoras, den unzähligen Motorwerkstätten, werden Autos und Roller repariert, bis es nicht mehr geht.
Doch entlang der Straße im Nordwesten der größten Stadt Ecuadors verläuft die Grenze zwischen zwei Stadtbezirken – und zugleich jene zwischen den Territorien zweier rivalisierender Banden, Los Tiguerones („die Tiger“) und Los Lobos („die Wölfe“). Ihre Präsenz macht sich vor allem abends bemerkbar. Die Sonne geht in der Äquatorregion früh unter, und die Calle 18 leert sich merklich. Nur wenige trauen sich in der Dunkelheit noch länger auf die Straße, zu groß ist die Sorge, überfallen zu werden oder zufällig in eine Schießerei zwischen Banden zu geraten. Das Leben zieht sich eilig hinter die schweren Eisenjalousien und Fenstergitter der Häuser und Geschäfte zurück.
Marías Augen weiten sich, als sie auf die Sicherheitslage angesprochen wird. Sie schaut alarmiert. „Man muss vorsichtig sein, was man sagt.“ María betreibt einen Kiosk auf der Calle 18. Wie viele andere Ladeninhaber bezahle sie Schutzgeld, erzählt sie. Vacunas, wörtlich übersetzt Impfungen, werden solche Erpressungen in den Ländern der Region umgangssprachlich genannt. In einigen Vierteln Guayaquils und anderer Küstenorte zahlt praktisch jeder Haushalt an eine der Banden, allein, um sich zeitweise ein wenig Ruhe zu erkaufen.
Es ist noch nicht lange her, da sprachen viele von Ecuador als einer isla de paz, einer sprichwörtlichen Insel des Friedens zwischen den Nachbarstaaten Kolumbien und Peru, den weltgrößten Kokainanbauländern. 2017 lag die Rate gewaltsamer Tode im Land bei 5,81 pro 100.000 Einwohner*innen, ein historischer Tiefstand. Das Land galt als eines der sichersten in Lateinamerika – heute ist es eines der gefährlichsten. Rund 20 gewaltsame Tode verzeichnet Ecuador im Juni pro Tag, etwa zehnmal mehr als in Deutschland, bei einer Bevölkerung von knapp 18 Millionen.
Wie es zu dieser Eskalation der Gewalt kam und wer dafür die Verantwortung trägt, ist wohl die wichtigste Frage in Ecuadors Politik, und jedes Lager hat dazu seine eigene Erzählung. Präsident Daniel Noboa rief erst im Januar einen internen bewaffneten Konflikt aus – und erklärte den Banden damit den Krieg. Polizei und Militär gehen nun mit Razzien und Festnahmen gezielt gegen die Strukturen der Drogenbanden vor. Doch die Verbreitung der vacunas konnten die Behörden bislang nicht aufhalten – auch weil oft auf lokaler Ebene die Ressourcen fehlen. Im kommenden Februar stehen wieder Präsidentschaftswahlen an, und die Sicherheitskrise dominiert schon jetzt alle politischen Debatten.
Zurück in der Calle 18 beugt sich Eva aus einem kleinen Fenster im Gitternetz am Eingang ihres Waschsalons. Sie kommt aus Venezuela, vor neun Jahren ist sie nach Ecuador gezogen. Mehr als 400.000 Venezolaner*innen kamen in den vergangenen Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben ins Land.
Nein, sie zahle kein Schutzgeld, sagt Eva, „zu uns sind sie noch nicht gekommen, gracias a diós“. Aber einige andere Geschäfte in der Straße hätten schon zugemacht, weil sie den Erpressungen nicht nachgeben konnten oder wollten. Ihre Strategie sei: nicht auffallen, abends nicht ausgehen, hoffen, in Ruhe gelassen zu werden. Bisher scheint das zu funktionieren, doch man sieht ihr an, dass ihr die ständige Sorge zusetzt.
Dass sie überhaupt über ihre Situation spricht, ist nicht selbstverständlich. Manche Viertel Guayaquils sind für Journalist*innen nicht mehr gefahrlos zugänglich. Wenn es im ecuadorianischen Fernsehen um die Bedrohungen durch Banden geht, werden zum Schutz vor Racheaktionen meist nur die Stimmen von Betroffenen eingespielt. In gedruckten Beiträgen, wie auch in diesem, werden zur Sicherheit die Namen von Anwohner*innen geändert.
Die Demontage des Staates
International operieren Banden wie Los Lobos und Los Tiguerones vor allem im Kokainhandel. Zu Luft und zu Wasser gelangt es, oftmals in Containerladungen geschmuggelt, nach Europa oder über Mexiko in die USA. Doch in Ecuador sind die vacunas für sie nach Einschätzungen von Fachleuten mittlerweile eine ähnlich große Einkommensquelle. In der Küstenregion, dem Brennpunkt des Kokainschmuggels, nahmen in den vergangenen Jahren auch die Schutzgelderpressungen immer mehr zu.
Die bandas criminales rekrutieren die meisten ihrer Mitglieder lokal, vor allem unter Jugendlichen. 50.000 Menschen gehören ihnen Schätzungen nach landesweit an. Die Gewalt, die von ihnen ausgeht, erreicht die Menschen über ihre Fernsehbildschirme auch in den eigenen vier Wänden, täglich. Wie konnte es so weit kommen?
Für Billy Navarrete, Direktor der Menschenrechtsorganisation Comité Permanente por la Defensa de los Derechos Humanos (CDH) in Guayaquil, liegt die Antwort vor allem in der Demontage des Staates. Einen Anfangspunkt bilden für ihn die landesweiten Proteste gegen das neoliberale Sparprogramm des ehemaligen Präsidenten Lenín Moreno. 2019 versuchte Moreno, Subventionen auf Kraftstoffe zu streichen, auch aufgrund von Kreditauflagen des Internationalen Währungsfonds. Die Reaktion, ein knapp zweiwöchiger Generalstreik, legte weite Teile des Landes lahm.
Dann kam die Pandemie, auch in Ecuador mit monatelangen Lockdowns und vor allem wirtschaftlichen Verheerungen. „Der Staat hat sich in dieser Zeit zurückgezogen und ist nie wieder zurückgekommen“, sagt Navarrete. Im Gegenteil: Die Regierungen Morenos und seines Nachfolgers Guillermo Lassos trieben den Abbau staatlicher Institutionen voran. Im Zeichen des Estado mínimo, des Minimalstaats, wurde unter anderem das Justizministerium abgeschafft. Auch in Gesundheit, Bildung und Verwaltung baute der Staat Mittel ab. Die Folge war ein Kontrollverlust, der den Banden den Weg ebnete.
Einer der folgenreichsten Kontrollverluste spielte sich in den Gefängnissen ab. Auch dort übernahmen die Banden. Die Verwaltung in einer der gefährlichsten Haftanstalten, der Penitenciaría del Litoral in Guayaquil, entschied gar, Gefangene nicht mehr nach ihren Delikten und Gefährlichkeitsgraden zu verteilen, sondern nach der Zugehörigkeit zu einer der Banden. So sollten die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden im Gefängnis entschärft werden. Ausgehend davon teilten sich die Banden die Kontrolle nach Trakten auf.
In der Penitenciaría del Litoral saß auch der Sohn von Ana Morales seine Strafe ab. Im CDH erzählt sie ihre Geschichte. Sie beginnt mit Geldsorgen, ihrem Sohn und dessen schwangerer Freundin, und dem Moment, der ihn ins Gefängnis brachte: „Él robó un celular“ – „Er hat ein Smartphone gestohlen.“
In dem Moment, in dem Ana Morales’ Sohn das Gefängnis betrat, war er den Banden ausgeliefert. Zu der Zeit hätten sie alles in den Gefängnissen kontrolliert, von der Lebensmittelversorgung bis hin zu Besuchsmöglichkeiten. Zugleich nutzten die Banden das Gefängnis als Rekrutierungsstation. Und ihr Sohn habe Schutzgeld zahlen müssen, etwa 200 US-Dollar pro Woche.
Ana Morales spricht gefasst, trotz allem
2021 starb Morales' Sohn bei Bandenauseinandersetzungen in der Penitenciaría del Litoral. In dem Jahr wurden bei Ausschreitungen in verschiedenen Gefängnissen Ecuadors mehr als 300 Gefangene getötet. Es waren die schwersten Gefängnismassaker in der Geschichte Ecuadors.
Ana Morales ist Mitte Vierzig, die lockigen Haare trägt sie zu einem Zopf verflochten. In der Hitze Guayaquils tupft sie sich den Schweiß von der Stirn, doch sie spricht gefasst, fast abgeklärt. Sie hat ihre Geschichte mittlerweile oft erzählt. Nach dem Tod ihres Sohnes gründete sie das Comité de Familiares por la Justicia en Cárceles, das Komitee der Angehörigen von Strafgefangenen für die Gerechtigkeit in den Gefängnissen. Es dient als Plattform zur gegenseitigen Unterstützung und als Sprachrohr für politische Forderungen. Ana Morales teilt sich mittlerweile ein Büro mit dem CDH.
Das Komitee sieht sich einem Staat gegenüber, der die Rechte von Strafgefangenen teils nicht schützen will und teils auch nicht kann. Zum Interview kommt Ana Morales um einiges später als geplant – mit anderen Mitgliedern des Komitees war sie zuvor noch auf einem Friedhof im Süden Guayaquils. Dort wurden einigen von ihnen die sterblichen Überreste ihrer im Gefängnis getöteten Angehörigen überreicht, manche mit Monaten Verspätung.
Der Zusammenbruch von Teilen der öffentlichen Ordnung unter der Regierungen Lenín Morenos und Guillermo Lassos ließ weite Teile der Bevölkerung politisch desillusioniert zurück. Lassos Schwager wurden zudem persönliche Verwicklungen mit der albanischen Mafia, den Albanéses, nachgewiesen. Im Zuge der Aufarbeitung trat Lasso zurück und löste das Parlament auf.
Ein Wahlsieg aus Wut
Die vorgezogenen Neuwahlen im September 2023 wurden zu den gewalttätigsten Wahlen in der Geschichte Ecuadors. Der ehemalige Investigativjournalist und Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio wurde im Wahlkampf getötet, wohl durch Angehörige der Lobos. Zugleich begünstigte die Enttäuschung über die etablierten politischen Kräfte den Aufstieg eines Polit-Neulings. Daniel Noboa, Sohn eines der reichsten Bananenunternehmer des Landes, gewann die Stichwahlen knapp und überraschend gegen Luisa González von der linkspopulistischen Partei Revolución Ciudadana.
Noboa ist erst 36 und hat große Teile seines Lebens nicht in Ecuador, sondern an US-Eliteuniversitäten verbracht. Seinen Wahlsieg, sagen ihm viele nach, hat er vor allem der Wut auf die etablierten Parteien und seinem Erfolg auf Social Media zu verdanken. Noboas Ehefrau ist Top-Influencerin, seine eigenen Konten auf Tiktok und Facebook haben in Ecuador mit Abstand die meisten Follower.
Die Gewalt im Land eskalierte zum Start von Noboas Regierung weiter. Am 9. Januar dieses Jahres, gut einen Monat nach Noboas Amtsantritt, stürmten bewaffnete Mitglieder einer der kriminellen Banden ein TV-Sudio in Guayaquil. Die Aktion wurde teils live übertragen. Minuten später rief Noboa den internen bewaffneten Konflikt aus. Zudem bot er im Landesinneren das Militär auf. Soldaten stürmten auch Haftanstalten und beendeten die Herrschaft der Banden dort weitestgehend.
Wie hat sich die Situation dort in den vergangenen Monaten entwickelt? Ana Morales sieht Anlass zur Hoffnung. „Es gibt weniger Schutzgelderpressungen. Der Staat hat wieder mehr Kontrolle.“ Doch sie höre auch von Folter und Misshandlungen gegenüber Gefangenen durch das Militär. Arbeitsmöglichkeiten und Resozialisierungsmaßnahmen fehlten weiterhin.
Zu Gewaltexzessen in Gefängnissen kommt es jedoch weitaus seltener. Und die Zahl gewaltsamer Tode im Land insgesamt ging in den ersten Monaten dieses Jahres zurück, im Februar bis auf durchschnittlich zwölf pro Tag. Seitdem sind die Todesfälle zwar wieder mehr geworden, doch es sind immer noch weniger als im Vorjahr.
Die Politik der mano dura, der harten Hand, ist für Daniel Noboa auch ein willkommenes Mittel, um zu Beginn des Wahlkampfs Stimmung zu machen. Denn nach den vorgezogenen Neuwahlen von 2023 bleibt Noboa nur bis zum vorgesehenen Ende der Regierungszeit von Guillermo Lasso im Amt. Für die nächsten anstehenden Wahlen im Februar 2025 haben sich mittlerweile mehr als 20 Kandidaten aufgestellt, doch es scheint erneut auf ein Duell zwischen Noboa und Luisa González hinauszulaufen.
González und ihre Partei stehen in der Tradition des weiter einflussreichen Expräsidenten Rafael Correa, der von 2007 bis 2017 in Ecuador regierte. Um den Absturz des Landes zu erklären, arbeiten sich bis heute alle politischen Lager an seiner Regierungszeit ab. Für seine Anhänger war die Regierungszeit Correas die friedlichste und hoffnungsvollste Ära der vergangenen Jahrzehnte. Für alle anderen Lager nahmen staatlicher Kontrollverlust und Korruption mit Correa ihren Anfang.
Auch in der Calle 18 gehen die Meinungen auseinander. Gabriela, die gerade ihre Familie in Guayaquil besucht und mittlerweile im Hochland wohnt, sieht die Schuld stärker bei seinen Nachfolgern. Sie hätten den Staat demontiert, die Bevölkerung schutzlos gelassen. Correa sei nicht perfekt gewesen, doch zumindest bedeuteten Solidarität und soziale Gerechtigkeit für ihn noch etwas. Die Kioskbetreiberin María dagegen verortet die Verantwortung für die Lage nicht eindeutig. „Ich weiß nicht, wie es zu all dem gekommen ist. Uns bleibt nur, mit der Situation zu leben“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Für sie zähle allein, wie es besser werden könne. Ob oder wen sie wählen gehen wolle, wisse sie noch nicht.
9/11 als Ausgangspunkt
Fernando Carrión, Professor an der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales, verfolgt den Wahlkampf mit einigem Abstand aus seinem Büro über den Dächern der Hauptstadt Quito. Auch Carrión erzählt eine Geschichte staatlichen Versagens, und keine der vergangenen Regierungen kommt dabei sonderlich gut weg. Doch der Wissenschaftler sieht Ecuadors Geschicke eingebettet in eine sehr viel größere Geschichte, jene des transnationalen Verbrechens.
Carrións Anfangspunkt ist der 11. September 2001. „Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center führten die USA strengere Kontrollen an ihren Grenzen ein – das traf auch den Drogenhandel und dessen primären Zugang zu den USA – Florida.“ Der Weg des Kokains gen Norden verschob sich zunehmend auf die weniger stark kontrollierte Landroute durch Mexiko. Das begünstigte den Aufstieg der mexikanischen Kartelle, die in den vergangenen Jahren auch den Kokainhandel in Ecuador am stärksten vorantrieben.
Zugleich, sagt Carrión, gingen die Kartelle immer weiter arbeitsteilig vor. Während das ehemals berüchtigte Cartel de Medellín um den kolumbianischen Drogenbaron Pablo Escobar zu seinen Hochzeiten praktisch die gesamte Wertschöpfungskette des Kokains kontrolliert habe, suchten die großen Kartelle heute stärker lokale Allianzen.
In den vergangenen Jahren sei Ecuador so zunehmend in das „transnationale Netz des Verbrechens“, wie es Carrión nennt, integriert worden. Zugleich bilde sich wie in anderen Ländern Lateinamerikas erstmals ein eigener Markt für den Kokainkonsum heraus. „In Ecuador werden jährlich rund 800 Tonnen Kokain geschmuggelt und rund 80 Tonnen konsumiert.“ Auch die Gründe hierfür lägen in der Logik der Kartelle. Nachdem die Marktpreise für Kokain vor einigen Jahren aufgrund von Überangebot gefallen waren, fingen die großen Kartelle an, ihre lokalen Verbündeten nicht mehr mit Geld, sondern mit Drogen zu entlohnen – und diese verkauften das Kokain weiter. Unter anderem deswegen wurde Brasilien zum zweitgrößten Kokainkonsumland der Welt, nach den USA.
Für die kommenden Wahlen in Ecuador attestiert Carrión Präsident Noboa gute Chancen – so lange er den Wählern weiter glaubhaft machen kann, dass er für die Sicherheit des Landes einsteht. Er scheint damit viele Ecuadorianer*innen hinter sich zu einen. Als zuletzt die Gewaltrate wieder anstieg, litten zwar auch seine Beliebtheitswerte. Doch das werde nicht als Scheitern der Politik der harten Hand ausgelegt, meint Carrión.
Stattdessen stritten die Parteien im Wahlkampf nur darüber, wer von ihnen den Banden gegenüber die härtere Hand zeigen könne. Ein wenig unheimlich ist es Carrión ob der Beliebtheit dieser Politik: „Die autoritären Strategien sind die, nach denen die Bevölkerung am meisten verlangt.“
Im Hochland Ecuadors wird deutlich, wie groß die Wut in der Bevölkerung gegenüber den Banden mittlerweile ist. Die Gewaltrate in der Andenregion ist wesentlich niedriger als in Orten wie Guayaquil, Schutzgelderpressungen bisher die Ausnahme. Gerade darum blicken die Menschen mit Sorge auf die Eskalation in den Küstengebieten – und nehmen das Gesetz zuweilen in die eigene Hand.
Keine Zeit für Hoffnungslosigkeit
Gabriela erzählt von zwei vacunadores, die in der Nachbargemeinde ihres neuen Zuhauses Chunchi im Hochland versucht hatten, Schutzgeld zu erpressen. Einige aus der Bevölkerung beschlossen, an ihnen ein Exempel zu statuieren: „Sie haben sie gefangen genommen und verbrannt.“ Sie könne nur schwer fassen, wie ihr Land an diesen Punkt gekommen sei.
Derlei Akte der Selbstjustiz sind in Ecuador bei Weitem kein Einzelfall, und sie zeigen auch den rasanten Verlust von Vertrauen in das Rechtssystem des Landes. Fernando Carrión glaubt, nur eine nachhaltige Stärkung der staatlichen Institutionen könne Ecuador aus der Krise führen. Zudem brauche es einen breiten politischen Konsens im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Doch kurzfristig wirke dem vieles entgegen. Politische Polarisierung, schlechte ökonomische Vorzeichen, der Einfluss der Banden in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft – man sucht lange nach ein bisschen Hoffnung in Carrións Worten.
Ana Morales hat dagegen keine Zeit für Hoffnungslosigkeit. Sie erzählt stattdessen von ihrer Präventionsarbeit, mit der sie gefährdete Jugendliche in den Nachbarschaften Guayaquils erreichen will. Es sind NGOs und kirchliche Einrichtungen, mit denen sie zusammenarbeitet. In staatliche Institutionen hat sie kein Vertrauen. Doch sie blickt trotzdem nach vorne.
Nun müsse sie aber nach Hause, der morgige Tag beginne für sie früh. Ana Morales ist auch bei einer Pfadfinder-Gruppe aktiv, am nächsten Tag steht der Festumzug für die fiestas de Guayaquil an, die jährlichen Feiern zum Gründungstag der Stadt. Ihre Gruppe wird dabei sein, in festlicher Kleidung und mit Trommeln.
Der Tourismus in Ecuador ist in den vergangenen Jahren eingebrochen. Selbst an Feiertagen blieben die Ausgeh-Orte zuletzt weitgehend leer, aus Angst vor Gewalt und Diebstählen. Doch am Abend nach dem Festumzug flaniert die Stadtbevölkerung auf der Flusspromenade Guayaquils.
Die Straßenverkäufer*innen wuseln durch die Menge und bieten in einem eigentümlichen Singsang lauthals gebratene Bananen, Fischsuppen und Säfte an. Eine Besucherin schaut sich ungläubig um: „Es ist so belebt wie lange nicht mehr.“ Der Bürgermeister Guayaquils spricht von den fiestas als einem „Wiedererwachen“. Man mag es als Zeichen der Hoffnung sehen. Es bleibt ruhig – zumindest unter den Augen der Soldaten mit ihren Maschinengewehren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen