Krieg in der Ukraine und Russland: Verheizt im Kampf für die Heimat
Die russische Armee schickt bewusst junge, unerfahrene Wehrdienstleistende ins Kampfgebiet bei Kursk. Mütter der Rekruten schlagen Alarm.
Seit dem überraschenden wie überraschend erfolgreichen Vorstoß der ukrainischen Armee auf russisches Territorium bei Kursk verschleiert die russische Führung nicht mehr, auch Rekruten im Kampf einzusetzen. Diese hätten sich schließlich „verpflichtet, das Vaterland zu verteidigen“, heißt es im russischen Verteidigungsministerium.
Das Verheizen von Rekruten im Krieg ist für viele in Russland ein traumatisches Thema. Seit den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien, die unter hohen Verlusten von kaum ausgebildeten Wehrpflichtigen geführt worden waren, wühlt das Verschicken von jungen Männern an die Front viele in der Gesellschaft auf.
Allerdings hat sich das Land seit dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine stark verändert. Konnten Mütter damals nach Tschetschenien reisen und ihre Söhne buchstäblich vom Kampffeld weg herausholen, gibt es heute, in Zeiten von Militärzensur und Versammlungsverboten, kaum mehr Möglichkeiten, auf die Staatsführung legal einzuwirken.
Viele vermisste Rekruten
Zumal die wenigsten Angehörigen den Sinn von Wladimir Putins „militärischer Spezialoperation“ infrage stellen. „Wir sind Patrioten, Wladimir Wladimirowitsch!“, schreiben sie. „Wir stehen auf Ihrer Seite! Lassen Sie unsere Kinder nicht sterben!“
Die „Kinder“ aber sterben. Oder sie geraten in Gefangenschaft. Mehrere Hundert Rekruten gelten derzeit als vermisst. Die ukrainische Armee veröffentlicht immer wieder Bilder von russischen Gefangenen. Angehörige finden darauf ihre gerade erst eingezogenen Söhne, Brüder, Enkel. Hilfsorganisationen melden eine verstärkte Nachfrage von Familien, wie sie ihre Söhne von der Verschickung an die Front retten können.
Eltern berichten, dass ihre Söhne – kaum in der Militäreinheit angekommen – unter Druck gesetzt würden, Verträge mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen. Dadurch gelten sie als reguläre Soldaten und nicht mehr als Rekruten. Egal, wie viel sie bereits gedient und ob sie überhaupt eine militärische Spezialisierung erworben haben.
„Im Kursker Gebiet finden Kampfhandlungen statt. Es besteht Lebensgefahr für unsere Söhne“, heißt es im Aufruf der Mütter aus der Region Murmansk. In einer weiteren Petition, mit der sich Mütter von Rekruten eines Motorschützenregiments im Gebiet Brjansk, einer Nachbarregion von Kursk, direkt an den russischen Präsidenten wenden, fordern sie, die Rekruten nicht an der Front einzusetzen.
Die Schaufel schwingen
Die „gestrigen Schüler“ würden als „Kanonenfutter aufs Schlachtfeld“ geschickt, schreiben sie. „Schwerbewaffnete Elite-Soldaten stehen unseren Kindern gegenüber, die sich in den wenigen Monaten ihrer Ausbildung nur eine Fähigkeit erworben haben: die Schaufel zu schwingen.“ Die Mütter klagen, nicht über den Standort ihrer Söhne informiert worden zu sein – und klingen so überrascht, als wüssten sie nicht, was seit zweieinhalb Jahren nur unweit von ihnen geschieht.
Krieg, das lehrt sie der Kreml in all den Monaten der versuchten Vernichtung der Ukraine mit allen Mitteln der Propaganda und der Agitation, sei Romantik und Heldentum. Viele Russ*innen leben in dem Glauben, als würde sie der Krieg in der Ukraine nicht betreffen. Selbst wenn er ihnen Hab und Gut und die Angehörigen nimmt, lassen sie kaum etwas auf ihren Präsidenten kommen.
Über die Klagen der Mütter macht sich einer der führenden Kommandeure schlicht lustig. „Macht aus Männern keine Kinder, die mit einem Schnuller ins Bett gebracht werden“, sagt Apti Alaudinow von der tschetschenischen Spezialeinheit „Achmat“ in einer Videobotschaft. Alle, ob klein oder groß, müssten zusammenstehen. Und: „Es gibt nichts Besseres, als im Kampf für seine Heimat zu sterben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana