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Krieg in NahostKippt die Stimmung gegen Netanjahu?

Israel erlebt die größte Protestnacht seit Kriegsbeginn. Der Mord an sechs Geiseln in Gaza facht die Demonstrationen neu an. Netanjahu: unbeeindruckt.

750.000 Menschen fordern einen Geiseldeal sofort. Wie lange kann Netanjahu sie noch ignorieren? Foto: reuters

Jerusalem taz | Die Kaplanstraße im Herzen Tel Avivs und der nahe „Platz der Geiseln“ sind seit Monaten die Brennpunkte der Demonstrationen für ein Geiselabkommen. Doch so viele Menschen wie am Samstagabend waren noch nie gekommen. Die Veranstalter sprachen von einer halben Million Teilnehmern in Tel Aviv und 250.000 im Rest des Landes.

Der Fund von sechs ermordeten Geiseln in Gaza vor einer Woche hat in Israel etwas in Bewegung gesetzt. Die Hamas hatte die Geiseln hingerichtet, kurz bevor das heranrückende Militär sie befreien konnte. Seitdem ist kaum ein Tag ohne Massenproteste vergangen.

„Das Blut klebt an deinen Händen“, sagte Nissim Kalderon an die Adresse von Regierungschef Benjamin Netanjahu gewandt. Der Bruder des noch immer in Gaza gefangenen 53-jährigen Ofer Kalderon forderte am Samstagabend in Tel Aviv Netanjahus Rücktritt: „Mach Platz für jemanden, der sie zurückbringen kann“, zitiert ihn die Zeitung Haaretz. Einav Zangauker, die Mutter der Geisel Matan Zangauker, sagte auf einer Bühne vor dem Armeehauptquartier: „Solange Netanjahu an der Macht ist, werden wir Geiseln in Leichensäcken zurückbekommen.“

Netanjahu zeigte sich am Sonntagmorgen bei einer Kabinettssitzung unbeeindruckt: „Die große Mehrheit der israelischen Bürger“ stehe hinter Israels Kriegszielen, zitiert die Times of Israel den Regierungschef. Umfragen zeigen, dass die israelische Öffentlichkeit wesentlich gespaltener ist, als Netanjahu Glauben machen will. Eine Befragung des israelischen Demokratie-Instituts ergab im August, dass mehr als die Hälfte der Israelis für ein Abkommen über die Rückkehr der Geiseln und ein Ende des Krieges in Gaza sind.

Werden die Massenproteste etwas ändern?

Dass die Massenproteste nun etwas ändern, ist dennoch unwahrscheinlich. Netanjahu hält, auch unter dem Druck seiner rechtsextremen Koalitionspartner, seit Monaten an Bedingungen wie einer israelischen Präsenz entlang der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen fest. Die Hamas hatte eine Einigung unter dieser Voraussetzung mehrfach ausgeschlossen.

Der jüngste Vorstoß der USA, beiden Seiten einen finalen Vorschlag vorzulegen, gerät aber auch angesichts neuer Bedingungen der Hamas ins Stocken. Vertreter der US-Regierung würden laut einem Bericht der Washington Post derzeit die Situation neu bewerten. Die Hamas fordert demnach nun im Austausch für zivile Geiseln die Freilassung palästinensischer Gefangener, die wegen Anschlägen auf Israelis lebenslange Haftstrafen verbüßen. Bisher war diese Bedingung nur für die Freilassung von israelischen Soldaten im Gespräch gewesen.

Indes eskaliert die Lage im besetzten Westjordanland weiter. Am Freitag sollen israelische Soldaten laut Augenzeugen der 26-jährigen US-türkischen Aktivistin Aysenur Ezgi Eygi während eines Protests gegen die Siedlung Eviatar im Dorf Beita in den Kopf geschossen haben. Die Armee teilte mit, die Vorwürfe zu prüfen. Ihre Familie forderte eine unabhängige Untersuchung. Menschenrechtsgruppen werfen der Armee vor, Vorwürfe intern nicht wirksam zu prüfen. In der Vergangenheit hatte demnach nur rund eine von einhundert internen Ermittlungen strafrechtliche Konsequenzen.

Ebenfalls am Freitag wurde im wenige Kilometer südlich von Beita gelegenen Dorf Karijut ein 13-jähriges Mädchen erschossen. Seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober haben israelische Soldaten und Siedler im Westjordanland laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium mehr als 660 Palästinenser erschossen, darunter sowohl bewaffnete Kämpfer als auch unbeteiligte Zivilisten.

Ausweitung des Gaza-Krieges

Im selben Zeitraum wurden mindestens 23 Israelis bei palästinensischen Angriffen getötet. Eine großangelegte Armeeoperation mit Dutzenden Getöteten im Norden des Gebietes schürte zuletzt Ängste vor einer Ausweitung des Gazakrieges auf das Westjordanland.

Auch im Gazastreifen wird weiter gekämpft. Am Wochenende wurden Dutzende Menschen bei Angriffen der israelischen Armee getötet, darunter am Sonntag der Vizedirektor des Zivilschutzes in Nordgaza, Mohammed Morsi. Nach Angaben der Organisation starben er und vier Mitglieder seiner Familie bei dem Luftangriff auf sein Haus im Flüchtlingslager ­Dschablija.

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23 Kommentare

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  • Der selbst ernannte Starke Mann will nicht eingestehen wie schwach er tatsächlich ist. Dabei ist doch offensichtlich dass er schon länger nichts mehr auf die Reihe bekommt. Keinen Schutz der Zivilbevölkerung, keine wirksame Bekämpfung der Hamas, keine überzeugende Verständigung mit Biden, keine dauerhaften Geiseldeals.



    Die aktuelle Knesset wurde im November 2022 gewählt, ich bin mal gespannt ob Netanjahu in 2026 wieder wählen lässt...

    • @B. Iotox:

      Netanjahu bekam noch nie was auf die Reihe. Das permanente Gerassel gegen den Iran, ohne dessen Politik toll finden, lenkte durchweg von den innenpolitischen Unzulänglichkeiten, der Diskriminierung der Araber und der Gehirnwäsche beim Militär ab. Der Typ ist schon lange nicht mehr tragbar.

  • Das Problem ist: ich habe bei solchen Vorwürfen und Demostrationen noch nie gehört, dass sie sich auch nur im Mindesten um das Schicksla der PalästinenserInnen kümmern. Ob dort zu tausenden Kinder sterben geht ihnen am Arsch vorbei. Nicht falsch verstehen: es gibt natürlich auch mitfühlende Israelis. Aber die große Mehrheit scheint anders zu denken.

    Das ist gefährlich. Denn gegen die rechtsextreme Regierung zu sein, ist eine Sache. Wenn in einem demokratischen Staat aber die Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Völkermord steht - und sei es nur weil es ihnen egal ist - dann kommt ein sehr ungutes Gefühl der israelischen Bevölkerung gegenüber auf.

    • @Jalella:

      "Ob dort zu tausenden Kinder sterben geht ihnen am Arsch vorbei."

      Eine derart harte Formulierung sollte schon genauer belegt werden. Ansonsten ist es nur eine Unterstellung.

      Gemäß den wenigen bis nicht vorhandenen Kommentaren unter den entsprechenden taz-Artikeln könnte man dann auch sagen, dass uns allen der Krieg im Sudan und das Schicksal der Jesiden am Allerwertesten vorbeigeht.

    • @Jalella:

      Wer von uns weiß schon genau, wie sehr einen das Schicksal anderer bewegen würde, wenn die eigenen Angehörigen seit Monaten in der Hand brutaler Geiselnehmer sind? Im Gegensatz zu Leuten, die weit weg vom Geschehen ganz viel pauschale Meinung haben, einseitig Partei ergreifen oder die Menschen vor Ort belehren wollen, für was sie auf die Straße gehen sollten, gestehe ich direkt Betroffenen zu, die Dinge zu Vorderst aus ihrer -oft tragischen- Perspektive zu betrachten. Und das betrifft Menschen beiderseits der Grenze.

  • Ich glaube das die "Stimmung" schon längst gekippt ist. Die Israeli wissen wem sie das zu verdanken haben. Netanjahu.

  • "Kippt die Stimmung gegen Netanjahu?

    Israel erlebt die größte Protestnacht seit Kriegsbeginn. Der Mord an sechs Geiseln in Gaza facht die Demonstrationen neu an. Netanjahu: unbeeindruckt."



    Und die Hamas freut sich...

  • Keine militärische und politische Unterstützung dieser isarelischen Regierung bis die 2 Staaten-Lösung angeschoben wird, die Siedlsungspolitik rückgängig gemacht wird.

    • @Insieme:

      "Keine militärische und politische Unterstützung dieser isarelischen Regierung bis die 2 Staaten-Lösung angeschoben wird..."



      Es muss offenbar immer wieder gesagt werden: die Seite, die bislang vorgelegten Zwei-Staaten-Lösungen Absagen erteilt hat, ist die palästinensische!

      • @Encantado:

        Und es muss immer wieder korrigiert werden:



        Waren es die arabischen Parteien, die neulich in der Knesset gegen eine 2 Staaten Lösung gestimmt haben?



        Sind es die Palästinenser, die immer wieder Siedlungsbau und ihre eigene Enteignung genehmigen?



        Haben Palästinenser Peres ermordet?

      • @Encantado:

        Das stimmt nicht: die Verhandlungen sind gescheitert, weil sich beide Seiten nicht einig geworden sind. Das Scheitern dafür allein den Palästinensern zuzuschreiben, ist zu einfach, vor allem, wenn man die Streitpunkte betrachtet - Camp David II z.B. ist unter anderem daran gescheitert, dass das palästinensische Staatsgebiet weiterhin durch israelische Strassen, Checkpoints und Siedlungen zerteilt gewesen wäre (was unangenehm an südafrikanische Bantustans erinnert hätte...). Dass das aus palästinensischer Sicht nicht akzeptabel war, kann man eigentlich verstehen (zumindest dann, wenn man nicht denkt, dass diese sich mit den Brocken abzufinden haben, die vom Tisch amerikanisch-israelischer Diplomatie fallen).

      • @Encantado:

        Das stimmt nicht. Es waren beide Seiten, die das von Anfang an verhindert haben. Und das hat sich niocht geändert.

      • @Encantado:

        Israel hat immer mit vergifteten Angeboten versucht, sich wenigstens Teile seines Landraubes legalisieren zu lassen. Es ist vollkommen richtig, "Angebote" abzulehnen, die nicht die vollständige Räumung der illegalen Siedlung und die vollumfängliche Rückgabe des geraubten Landes beinhalten.



        Die israelischen Völkerrechtsbrüche dürfen aber nicht belohnt werden, das würde ein falsches Signal in die Welt senden.

        • @HaMei:

          "Es ist vollkommen richtig, "Angebote" abzulehnen, die nicht (...) die vollumfängliche Rückgabe des geraubten Landes beinhalten."



          Nicht, wenn die Definition des 'geraubten Landes' das gesamte israelische Staatsgebiet umfasst.



          Meines Wissens ist das immer noch Hamas-Ziel.

          • @Encantado:

            Was kam zuerst die israelische Siedlungspolitik oder Hamas? Das eine gibt es seit spätestens 1967, das andere kam erst 20 Jahre später. Ist vielleicht das eine die Ursache für das andere? Oder hat zumindest einen großen Anteil gehabt? Es ist ja auch nicht so als wenn die Siedlungspolitik gewaltfrei verlaufen ist oder?



            Meines Erachtens hat der IGH jetzt auch in seinem Gutachten die rechtliche Lage für die Hauptgründe des Scheiterns bisheriger Verhandlungen geklärt: das betrifft die israelischen Siedlungen, Reparationen, palestinensische Vertriebene, die Besatzung und den Aufenthalt von Israelis algemein in den besetzten Gebieten und hat auch recht deutlich gemacht, was daraus für Konsequenzen folgen sollten bzw wie das umgesetzt werden kann.

            • @Momo Bar:

              Die Hamas. Damals unter ihrem tatsächlichem Namen: Muslim Bruderschaft. Schon Jahrzehnte vor Gründung des israelischen Staates hat sie - mit Sprüchen wie "Macht Ägypten Judenfrei!", oder "Von Wasser zu Wasser Arabisch!" und mit Waffen der NSDAP, ja den Nazis, und Ausbildung der NSDAP und diese durch Teile ihres Kernpersonals später unterstützend (welche wiederum maßgebliche Offiziere im Krieg der arabischen Staaten gegen Israel waren), Juden*Jüd*innen im britischen Mandat ermordet.



              Die Inkarnation der Muslim Bruderschaft als Hamas, nachdem der Panarabismus 1967 militärisch versagt hat und politisch nicht mehr glaubhaft zu verkaufen war, ist nicht ohne Kontext zu verstehen, der nicht nur vor Gründung Israels beginnt, sondern auch in guten Teilen Zionismus zuvorgeht: nicht europäisch importierter Antisemismus und arabisch muslimische Lokaleliten, die Verliere im Klassenkampf des untergehenden und untergegangenen Osmanischen Reichs waren (i.e. Pogrome von August 1838).

              Hinzu kommt, dass Jordanien in fast 20 Jahren jordanischer Besatzung keinen Staat in Westjordan (Judea und Samaria) und Ägypten in fast 20 Jahren ägyptischer Besatzung keinen Staat in Gaza gegründet haben.

  • Ich wünsche dem Gazastreifen eine hamasfreie Regierung in einem fair ausgestatteten palästinensischen Staat. Ich wünsche Israel eine Regierung ohne Rechtsradikale und ohne knastverängstigten Dauerkrieger, in einem sicheren Staat in den UN-Grenzen.



    Von außen kann man bedingt etwas machen: Netanyahus Kurs sogar noch mit Waffen unterstützen zählt nicht zu den guten Ideen. Unterstützen wir lieber die jüdische Zivilgesellschaft, die schon weiter ist.

  • Furchtbar. Wann hat das ein Ende.

    Mögen sich die Israelis von Netanjahu und dieser gruseligen Regierung befreien.

  • Mehr als ein paar Monate Ruhe wird es nicht geben.



    Für einen dauerhaften Frieden müssten sich grundlegende Dinge in der israelischen Gesellschaft ändern. Damit ist nicht zu rechnen. Es ist hoffnungslos.

    • @Wee:

      "Für einen dauerhaften Frieden müssten sich grundlegende Dinge in der israelischen Gesellschaft ändern."



      Meinen Sie nicht, dass sich in der palästinensischen Gesellschaft auch oder mehr deutlich ändern müsste? Ist ja nicht so, dass Israel so völlig ohne Grund überraschend in den Gazastreifen einmarschiert wäre.

      • @Encantado:

        Niemand muß. Aber wenn sie dort friedlich leben wollen, sollten sie es besser wissen als ein dummer deutscher Tourist der vor 40 Jahren gerade mal drei Wochen in Israel Urlaub gemacht hat. Ich hab ihre Argumente schon damals alle gehört.



        Hoffnungslos.

      • @Encantado:

        Meinen Sie nicht, daß Israel aufhören sollte, die Perspektiven der Palästinenser auf eine selbstbestimmte Zukunft systematisch zu zerstören? Ist ja nicht so, daß die militanten Gruppen völlig und Grund überraschend immer neue Rekruten finden würden.

        • @HaMei:

          "Meinen Sie nicht, daß Israel aufhören sollte, die Perspektiven der Palästinenser auf eine selbstbestimmte Zukunft systematisch zu zerstören?"



          Ich meine, dass es grundsätzlich falsch ist, die Schuld an dieser Zerstörung einseitig Israel zuzuschreiben und Hamas und alle anderen palästinensischen Friedensengel in Gesamtbild und Ursachenforschung außen vor zu lassen.