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Korruption in der TürkeiDie KritikerInnen der Türkei hören

Kommentar von Sinem Vardar

Das Erdbeben hätte nicht so folgenschwer sein müssen. Auch Deutschland ist indirekt für die Katastrophe verantwortlich.

Eingestürztes Haus in Antakya Foto: Maxim Shemetov/reuters

D as Erdbeben in der Türkei war ein seit Jahren erwartetes Naturphänomen, das durch langjährige Korruption im Bausektor sowie fehlendes Katastrophenmanagement zu einer Katastrophe wurde. Über 40.000 Tote wurden geborgen. Viele mehr liegen noch unter den Trümmern. Was ist mit den über 37 Milliarden US-Dollar Steuern, die seit dem Erdbeben 1999 von der Bevölkerung für erdbebensicheren Häuserbau erhoben wurden?

Wo war die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad in den ersten Tagen des Erdbebens? Dort, wo der Staat nicht gehandelt hat, wurde die Bevölkerung aktiv. Die Spenden für den Wiederaufbau gehen aktuell an zwei staatliche Institutionen: die Katastrophenbehörde und an den türkischen Halbmond. Unter bestimmten Bedingungen, wie bei den Naturkatastrophen, können öffentliche Aufträge im Schnellverfahren vergeben werden.

Genau hier liegt das Problem: Der Bausektor in der Türkei, der während der AKP-Regierung rasant gewachsen ist, auch weil er Genehmigungen erhielt für nicht bebaubare Flächen, hungert nach lukrativen Aufträgen. Das System, das diese verheerende Katastrophe mit möglich gemacht hat, wird nun mit neuen Aufträgen genährt.

Auch die Hilfe aus Deutschland erreicht die Regierung. Das Technische Hilfswerk steht in engem Kontakt mit der türkischen Katastrophenbehörde, Hilfsgüter werden über den Roten Halbmond bereitgestellt. Deutschland ist mit der lange Jahre andauernden interessenbasierten Türkeipolitik indirekt mitverantwortlich an der Katastrophe. Jetzt endlich sollte die Bundesregierung den Kri­ti­ke­r*in­nen der türkischen Führung Gehör schenken.

Sinem Vardar

ist Politikwissenschaftlerin und freie Autorin. Seit 2014 lebt sie in Deutschland, absolvierte hier ihr Master­studium in Arabistik und arbeitet seither im Bereich internationale Zusammenarbeit und Diplomatie.

Solange Berlin das korrupte System in der Türkei unterstützt, werden Menschenrechte verletzt werden, wird Vetternwirtschaft, Willkürjustiz, Entmachtung und Politisierung von Einrichtungen durch Erdoğan-Getreue andauern. Es gilt den Waffenexport deutsche Firmen an die Türkei stoppen und die für die Opfer gesammelten Spenden nicht in die Hand Erdoğans zu legen.

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20 Kommentare

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  • "Das System, das diese verheerende Katastrophe mit möglich gemacht hat, wird nun mit neuen Aufträgen genährt."

    Ich könnte mich erbrechen, aber das zeigt doch genau, warum die AKP abgewählt werden muss. Nur das wird m.M. nicht passieren. Ein Bürgerkrige oder eine echte Militärdiktatur mit der AKP an der Spitze halte ich für wahrscheinlicher.

    Und trotzdem wird viel Geld beim Regime landen, werden die gleichen dubiosen Kreise, die gleiche semikriminelle Struktur jetzt mit den Hilfsgelder genähert werden.

    (Ich werde, wenn dann so spenden, dass es bei den Kurden in Syrien landet in Rojava)

  • Wie man in diesem Kommentarbereich sehen kann hat der "antideutsche Reflex" bei allen möglichen Missständen in anderen Teilen der Welt Deutschland mehr oder weniger direkt verantwortlich zu machen, seine Grenzen.

    Es ist tragisch, dass Erdogan sich mit seinem Populismus so lange an der Macht halten konnte.

  • Das irritiert mich immer so, wenn beim eigenen Versagen zu erst der Finger auf die Anderen zeigt.



    Der korrupte Macher wurde von Türken gewählt.

    • @Frau Flieder:

      Das Ausland ist deswegen immer schuld, da das vom eigenen Unvermögen ablenkt. Ein Bequemlichkeitsreflex, geboren aus Schuld einerseits und Verzweilfung andererseits nix ändern zu können. Weglächeln! Soweit mein Tipp.

  • Ich wage mal zu behaupten, dass jegliche Politik "interessenbasiert" ist. Die Problematik liegt eher darin, wessen Interessen zuviel und wessen gar nicht berücksichtigt werden.

  • Das Deutschland eine Mitschuld am Versagen der türkischen Katastrophenhilfe und der Korruption im Bauwesen des Landes habe, ist - vorsichtig formuliert - Unsinn.

  • 37 Mio US Dollar Steuereinnahmen seit 1999 für Erdbeben sichere Häuser lese ich! Also in 23 Jahren wären das ca. 1,5 Mio US Dollar pro Jahr. Also ca. 15 türkische Reihenhäuser können da pro Jahr gebaut werden?



    Da kann was gehörig nicht stimmen.



    Der ganze Artikel ein Rundumschlag gegen alles und jeden. Veränderung muss aus einem Land selbst kommen. Wäre schön, das unabhängig von Waffenlieferungen (lösen die eigentlich Erdbeben aus?), korrupten Bauleuten, zerstrittener Opposition, AKP und religionstreuer Landbevölkerung... zu differenzieren.

    • @Tom Farmer:

      37 Milliarden US $ sind im Kommentar genannt, nicht 37 Mio, wie Sie behaupten. Es ist außerdem kein "Artikel ... Rundumschlag" sondern lediglich ein Kommentar, der aber maßgebliche Probleme konkret benennt.

    • @Tom Farmer:

      Milliarden. Nicht Millionen.

      • @Konrad Ohneland:

        Dann wurde das nachträglich geändert. War zunächst definitiv mio

  • Für ein Erdbeben trägt zuerst einmal Niemand die Verantwortung.



    Für die (nachträgliche) Genehmigung illegaler Bauten sind die türkischen Behörden und Erdogan verantwortlich.



    Für diese Misere Deutschland verantwortlich zu machen, ist an den Haaren herbeigezogen.



    Selbst politisch kann man/frau wohl kaum von " guten Beziehungen" zur Türkei sprechen.



    Hilfsgelder nicht zu zahlen, weil in der Türkei Korruption und eine Autokratie herrscht,



    übersähe eins:



    die Menschen.

    • @Philippo1000:

      Na ja, Deutschland pumpt das Geld in den gleichen Kanal, wo die Korruption stattgefunden hat. Sicherlich hat keine Deutsche Regierung das beabsichtigt, aber wie das in der Türkei wirklich läuft, weiß man in der deutschen Regierung auch. Insofern ist das vielleicht nicht wirklich zu 100 Prozent so, aber indirekt schon.

  • Eine solche Isolation würde vermutlich vor Allem dazu führen, dass Erdogan die Türkei stärker an China und Russland binden würde. Ob der türkischen Opposition damit geholfen würde ich bezweifeln. Zumal Erdogan trotz aller autokratischen Tenden letztlich auch in reltiv sauberen Wahlen an die Macht befördert wurde man also gegen eine (noch und eingeschränkt) demokratische Regierung vorgehen würde.

    • 6G
      665119 (Profil gelöscht)
      @Ingo Bernable:

      Eine "wertegeleitete" Außenpolitik muss nunmal nach Werten sortieren. Und da gehört die Türkei nunmal zu China und Russland. Genauso wie Saudi-Arabien und der Großteil des Nahen Ostens.

      • @665119 (Profil gelöscht):

        "Und da gehört die Türkei nunmal zu China und Russland."



        Auf welcher Grundlage? Der Democracy Index führt die Türkei als 'Hybrides Regime', China und Russland als 'Autoritäres Regime; der Fredom-House Index bewertet die Türkei als 'teilweise frei', China und Russland klar als 'unfrei'. Weiter kann man es für plausibel halten, dass Erdogan nach einer klaren Wahlniederlage auch abtreten würde bzw. nicht wirklich eine Chance hätte im Amt zu bleiben, in China und Russland hingegen von einer echten per Wahl entschiedenen Machtübergabe kaum auszugehen. Also alles vorbehaltlos in einen Topf werfen?

      • @665119 (Profil gelöscht):

        „Wertegeleitete“ Außenpolitik ist zunächst einmal etwas für Sonntagsreden … auf den schönen Augenaufschlag von Frau Baerbock fallen höchstens noch die Wähler*innen der Grünen herein.



        Und dann gibt es da noch ein Problem mit der Sortiermethode „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ … hinsichtlich der Erdogan-Türkei beispielsweise genügt ein Blick in den Atlas, um zu erkennen, warum der „Potentat am Bosporus“ zwangsläufig zu den „Guten“ zählen muss. Und die Vergegenwärtigung, dass wir uns gerade im Krieg mit Putin-Russland befinden. Und so liesse sich das Thema anhand der von Ihnen genannten Staaten weiter fortsetzen.



        Nein, eine wirkliche „Zeitenwende” bzw. Paradigmenwechsel erleben wir in der deutschen Außenpolitik nicht.

  • Eine wie auch immer geartete Mitverantwortlichkeit durch ein Unterlassen kann sich nur aus einer Handlungsobligation ergeben.

    Deutschland ist jedoch für die Bauvorschriften in der Türkei bzw. deren Umsetzung nicht verantwortlich; auch nicht durch die Zusammenarbeit mit der Regierung in anderen politischen Bereichen u nd vor allem nicht durch die jetzige Hilfe.

    Zur Erinnerung, die türkische Bevölkerung wählt diese Regierung mit großen Mehrheiten - auch hier aus Deutschland.

  • Klar, hat D eine Mitschuld.



    Sorry, so klar ist das nicht, ausser dass das eine Reflexbemerkung ist.



    Wenn D keine Beziehung zur Türkei pflegen würde, wäre alles besser? Mit wem könnte D denn noch handeln, wenn alles indirekt irgendwem zugute kommt, der Dreck am Stecken hat?



    Aber ja, die Balance gerade zur Türkei zu finden ist sehr schwierig.

  • Der deutsche Bausektor ist im übrigen auch mächtig korrput und die Verzweigungen in die Politik haarsträubend. Kann dann gleich auch mitaufgeräumt werden!!

    • @emmicam:

      Wäre sicher kein schlechter Ansatz!