Konstituierende Sitzung des Bundestags: Harmonie und Krawall
Alterspräsident Gregor Gysi hält eine staatstragende Rede. Julia Klöckner wird erwartungsgemäß zur Bundestagspräsidentin gewählt. Die AfD poltert.

Unterhaltsam ist Gysis Rede eher nicht. Vielleicht, weil das nicht zu dem Genre passt: Es ist die staatstragende Rede eines Ostdeutschen. Gysi erinnert in seiner Rede als Alterspräsident an die KPD-Frau Clara Zetkin und Willy Brandt als große Parlamentarier, aber auch an Wolfgang Schäuble. Linke und Konservative: Damit ist der Ton gesetzt.
Linke Antimilitaristen sollten angesichts von Trump und russischem Krieg Politiker, die nun auf Rüstung und Abschreckung setzten, „nicht als Kriegstreiber bezeichnen“. Und vice versa dürfe, wer Diplomatie und Abrüstung wolle, nicht als „Putin-Knecht“ diffamiert werden. Das ist nicht als Harmoniesoße gemeint, sondern ein – für einen Linken bemerkenswert klares – Bekenntnis zur offenen Gesellschaft: Weil wir nicht wissen, was wahr ist, müssen wir damit rechnen, dass der andere recht haben kann.
In dieses Bild passt, dass Gysi, vielleicht etwas langatmig, überparteiliche Gremien für Steuern, Renten, Demokratie vorschlägt. Gerade bei Renten und Steuern gibt es nur Lösungen in der Mitte. Dies ist eine Intervention für die Vernunft des bundesdeutschen Konsensmodells, möglichst ohne die parteitaktischen Selbstblockaden. „Mit noch mehr Gremien möchte ich Sie nicht behelligen“, sagt Gysi nach einer halben Stunde. Höhnischer Beifall bei Union und AfD.
Das rhetorische Talent aufblitzen lassen
Der 77-Jährige mahnt wenig, polemisiert nicht, er wirbt eher. Etwas schärfer wird er nur bei der Wiedervereinigung. Man habe „aus der DDR nur das Sandmännchen, das Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil übernommen und damit den Ostdeutschen gesagt, dass sie sonst nichts geleistet hätten“. Das sei ein Grund für das Gefühl, gedemütigt worden zu sein.
Der SPD-Linke Ralf Stegner findet, dass Gysi den Job des Alterspräsidenten „würdevoll und ohne Gespreiztheit“ über die Bühne gebracht hat. Er habe sein immerhin manchmal „rhetorisches Talent aufblitzen“ lassen und habe bei der Kritik der Wiedervereinigung in manchem recht. Jan van Aken, Linkspartei-Chef, ist nicht so recht glücklich mit der Rede, weil sie – 37 Minuten – zu kurz gewesen sei. Van Aken hatte auf eine mindestens 80 Minuten lange Rede gewettet und hat nun leider eine Flasche Wein verloren. Und er hatte eine „längere anekdotenreiche Rede über die Fehler der Wiedervereinigung erwartet“.
Um kurz nach 12 ist Gysi fertig. Er wirkt etwas fahrig. Die Linksfraktion feiert ihn pflichtschuldig, SPD und Grüne applaudieren. Bei der Union rührt sich kaum etwas, obwohl diese Rede ein Bekenntnis zur liberalen Demokratie und, ohne sie zu erwähnen, gegen die AfD ist. Dass die Union demonstrativ nicht klatscht, so SPD-Mann Stegner, sei einfach „unsouverän“. In gewisser Weise zeigt es, dass dieses Plädoyer für die Einigkeit gegen die Rechtsextremen ziemlich nötig ist.
Julia Klöckner klatscht überparteilich

Nur die CDU-Parlamentarierin Julia Klöckner applaudiert knapp nach Gysis Rede. Klöckner wird kurz danach mit 383 Stimmen zur neuen Bundestagspräsidentin gewählt. Ihr einsamer Applaus mag ein Vorschein der neuen Rolle sein – überparteilich zu sein. Das ist Klöckner nicht in die Wiege gelegt. Bei SPD, Linken und Grünen zweifeln viele, ob sie das Format dazu hat.
Jakob Blasel, Grüne Jugend
Die 52-jährige Rheinländerin segelte in Flüchtlingsfragen immer deutlich rechts von Angela Merkel. Als Landwirtschaftsministerin ließ sie wohl Studien zu Lebensmittelkennzeichnung frisieren und erarbeitete sich den Spitznamen Nestlé-Julia. Manche zweifeln, ob sie die aggressive AfD-Fraktion disziplinarisch im Zaum halten kann. Kurz vor der Bundestagswahl hatte Klöckner mit dem Spruch irritiert: „Für das, was Ihr wollt, müsst Ihr nicht AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU.“ Ein zunächst angekündigter Antrittsbesuch in der AfD-Fraktion löste sich nach Empörung wegen „Terminproblemen“ auf.
Am Montagabend war die CDU-Frau in der grünen Fraktion gewesen. Jakob Blasel, Bundessprecher der Grünen Jugend, schrieb danach auf Bluesky: „Nichts an Julia Klöckners Auftritt in der Grünen Bundestagsfraktion hat mich überrascht. Diese Politikerin ist eine Gefahr für die Demokratie, weil sie die Bedrohung durch die AfD im Parlament immer wieder verharmlost.“
Die AfD-Fraktion strotzt vor Selbstbewusstsein
Klöckner hat nun das protokollarisch zweithöchste Staatsamt inne – und hat es mit einer 152-köpfigen, vor Selbstbewusstsein berstenden AfD-Fraktion zu tun. Schon ein paar Minuten vor der Eröffnung der Sitzung macht die AfD-Fraktion klar, dass sie den Bundestag als Bühne nutzen will. Die AfDler marschierten in Gruppen vor der leeren Regierungsbank auf und machten dort Selfies. Der rechtsextreme Lautsprecher Maximilian Krah machte dresscodemäßig klar, dass er sich für etwas Besonderes hält. Die AfDler tragen dunkle Anzüge, Krah unübersehbar einen hellen.
Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, beschimpfte in der Geschäftsordnungsdebatte noch vor Gysis Eröffnungsrede unter dem Gejohle der AfD-Fraktion die anderen Parteien als „Kartell“. Die AfD forderte, dass der älteste Abgeordnete Alterspräsident wird und nicht der dienstälteste. Also Gauland statt Gysi. SPD, Union und Grüne hatte diese Regel 2017 geändert, um Gauland keine Bühne zu bieten. Wie sinnvoll dies ist, zeigte sich 2024 bei der Konstituierung des Thüringer Landtages. Dort blockierte die AfD das Parlament durch ihren Alterspräsidenten. Das Landesverfassungsgericht musste eingreifen, um die AfD-Show zu beenden.
Klöckner konterte die Krach-Rhetorik der AfD im Bundestag mit einem Seitenhieb: „Mehrheiten, die demokratisch gefunden worden sind, sind keine Kartelle.“ Dafür gab es aus allen Fraktionen Beifall, natürlich außer aus der AfD.
Nach Klöckners Wahl ging alles seinen erwarteten Gang. Als Vize wurden Josephine Ortleb (SPD), der frühere Grünen-Chef Omid Nouripour, Andrea Lindholz (CSU) und sehr knapp der Linke Bodo Ramelow gewählt. Der AfD-Mann Gerold Otten scheiterte klar, wie immer, wenn die AfD Kandidaten aufstellt. Allerdings bekam Otten im ersten Wahlgang mit 185 Stimmen, 33 mehr, als die AfD Abgeordnete hat.
Vizefraktionsvorsitzender Stephan Brandner beschimpfte die anderen Parteien als „widerlich“ und „erbärmlich“ und polterte mit Zwischenrufen, als Gysi von Familienmitgliedern sprach, die in Auschwitz ermordet wurden. Davor hatte Gysi gesagt: „Mit einer Partei, die das schlimmste Menschheitsverbrechen als Schuldkult verunglimpft und marginalisieren will, sind Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht zu verteidigen.“
Der verächtliche AfD-Sound wird im Bundestag ab jetzt noch häufiger zu hören sein. Als zweitgrößte Fraktion darf die AfD immer als erste auf die Bundesregierung erwidern. Remmidemmi ist auch wegen der Zusammensetzung der neuen Bundestagsfraktion programmiert: Neben dem krawalligen Krah ist das selbsttitutlierte „freundliche Gesicht des NS“ Matthias Helferich Teil der rechten Fraktion. Die AfD dürfte auch in der nächsten Legislaturperiode wieder den zweifelhaften Rekord für Pöbeleien aufstellen: Schon in der letzten Legislaturperiode kassierten die 76 Abgeordneten mit deutlichem Abstand die meisten Ordnungsrufe.
Jan van Aken ist erschüttert, wie es sich anfühle, „150 Faschos gegenüberzusitzen“. Man müsse aufpassen, nicht dauernd empört zu sein. Auch SPD-Mann Ralf Stegner warnt, der AfD zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Man müsse den Rechten zwar Paroli bieten, dürfen sie aber „nicht zu oft zum Thema machen“. Einfach wird dieser Spagat nicht. „Es ist unser Job, dafür zu sorgen, dass die Rechten wieder aus dem Bundestag verschwinden“, sagt Stegner. Es klingt wie eine Selbstermahnung.
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