Kommentar Merkel und linke Kritik: Anstand schlägt Affekt
Mit Merkel geht doch noch was. Das kann die gesellschaftliche Linke aus der Debatte über den Anschlag von Berlin lernen.
Die Linken in Deutschland haben doch noch Gemeinsamkeiten mit Angela Merkel. Denn in der Debatte nach dem Anschlag von Berlin verläuft eine Linie: zwischen Ausgrenzung und Zusammenhalt, zwischen differenzieren und pauschalisieren, zwischen Ratio und Rage.
Die Kanzlerin hat zum Anschlag in Berlin besonnen gesprochen, sie hat einen Dreiklang des Zusammenlebens vorgegeben: „frei, miteinander und offen“. Und so ist der Ton auch links der Mitte gewesen: betroffen, bedacht, beherrscht.
Weil bei dem Anschlag so viele Menschen getötet oder verletzt wurden, weil er so brutal ablief und so nah am Alltag von vielen geschah, könnte man die Fassung verlieren. Aber das Land reagiert gefasst.
In dieser schrecklichen Vorweihnachtswoche musste sich der ruhige Ton erst durchsetzen. Gegen Seehofer, der die Stimmung aufpeitschen will, indem er den Terror mit Merkels Flüchtlingspolitik vermengt. Oder gegen Klaus Bouillon, den Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, einen CDU-Mann, der den „Kriegszustand“ ausrief und von „schwerem Gerät“ schwadronierte.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wenn Anschläge geschehen, muss über Sicherheit gesprochen werden, über die Arbeit und die Fehler der Behörden, über ihre Effektivität und ihre Instrumente. Wie konnte die Tat trotz Anis Amris Vorgeschichte passieren? Auch nach dessen Tod tut Aufklärung not. Aber bitte nicht in vorhersehbaren Reiz-Reaktions-Mustern.
Anständiger Ton
Doch diese Woche lässt hoffen, dass das Land eine Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ernsthaft sucht. Merkel sprach zwar in ihrer zweiten Erklärung am Freitag vom „starken Staat“, aber sie tat es in jener Besonnenheit, die sie im Bündnis mit der gesellschaftlichen Linken zu prägen vermochte.
Mit Merkel geht also noch was. Sie kann immer noch Verbündete sein im Ringen um Freiheit, Zusammenhalt und Offenheit. Und der Ton der Debatte ist wichtig. Anstand schlägt Affekt.
Die Bruchlinie gibt es trotzdem, den Graben. Parteipolitisch von rechts nach links sehen wir am Ende dieser Woche AfD, CSU und einen Teil der CDU auf der einen Seite. Und auf der anderen Merkel mit dem anderen Teil der CDU und eben SPD, Grüne und Linke.
Die Gemeinsamkeit zwischen Merkel und den Kräften links von ihr kommt überraschend. Denn eigentlich hatte die Kanzlerin am Ende des Jahres für alle, die links oder liberal denken, nichts groß im Angebot.
Seehofers Hilfssheriff
Die Fliehkräfte in Europa haben gezeigt, wie sehr ihr Sparkurs die Solidarität kaputtgeknausert hat. Ihre Flüchtlingspolitik hat sie erst auf der regulatorischen, dann auf der rhetorischen Ebene umgekehrt. Die Grenzen sind wieder dicht. Um das Abkommen mit der Türkei zu retten, lässt sie sich von Erdoğan praktisch alles gefallen.
Und Merkel baut eine Mauer in Afrika, den Diktatoren dort liefert sie den Überwachungsstaat mit Zubehör. Ihre Überreaktion auf die rechte Konkurrenz gipfelte auf dem CDU-Parteitag von Essen, als sie nur mehr wie Horst Seehofers Hilfssheriff wirkte.
In Berlin baut ein gelernter Schweißer den größten Hindu-Tempel Deutschlands – seit mehr als neun Jahren. Große Erwartungen treiben uns an. Sie finden sich in jedem Leben, besonders in der Weihnachtszeit. Die taz.am wochenende vom 24./25./26. Dezember widmet sich ihnen. Mit dabei: eine Kunstschätzerin, ein Pfarrer und ein Alleinunterhalter, die über den professionellen Umgang mit Erwartungen reden. Und: der magische Moment, bevor das Überraschungsei ausgepackt wird. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Sollte man angesichts dieser Politik nicht hoffen, dass Merkel es schwer hat? Sich klammheimlich freuen, wenn Seehofer sie destabilisiert? Wenn sie ins Wahljahr wankt?
Nein, es bringt nichts Gutes, wenn Merkel von rechts und links zerrieben wird. Das wollen die anderen, die von Feindbildern leben.
Die Linken in Deutschland sollten Merkel kritisieren und Alternativen zu ihr aufbauen, ohne sie zu verteufeln. Parteipolitisch gesprochen: SPD, Linke und Grüne müssen selbst was bieten. Und jemanden. Der Unterschied ist fein, jedoch wesentlich. Denn gerade entscheidet sich, wie 2017 wird, welchen Ton dieses Jahr bekommt mit seinen drei Landtagswahlen und der Bundestagswahl im Herbst. Anschreierei – oder Leidenschaft. Treibjagd – oder politische Konkurrenz.
Am Schluss kann sie gern abgewählt werden. Aber es darf kein Merkel-muss-weg-Jahr werden. Sondern ein Veränderung-muss-her-Jahr.
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