Kommentar Hartz-IV-Erhöhung: Schmerzensgeld und Trostpflaster
Gerhard Schröder erhält einen 10.000 Euro-Preis, Hartz-IV-Bezieher bekommen fünf Euro mehr im Monat. Es scheint, als wolle die SPD keine Wähler.
A ls Exkanzler Gerhard Schröder am Dienstag den mit 10.000 Euro dotierten Ludwig-Erhard-Preis erhielt, schrieb der Spiegel von einem „Schmerzensgeld“. Schließlich habe sich der „aufrechte Reformer“ mit der Agenda 2010 unbeliebt gemacht und bei der verlorenen Bundestagswahl 2005 dafür bezahlt. So kann man es auch sehen: Gerhard Schröder, das Opfer.
Unter den wahren Opfern der Agenda 2010 hat Hartz IV Verbitterung ausgelöst. Wegen der kurzen Frist, mit der man nach einem Arbeitsleben zu einer Existenz auf Sozialhilfeniveau gezwungen wird. Wegen der Zwangsumzüge an den Stadtrand. Und wegen der Märchen, die ihnen erzählt wurden: Dass ihnen 1-Euro-Jobs in den ersten Arbeitsmarkt zurückhelfen würden, während sie in Wahrheit ihre Lebensläufe zerstörten. Dass auf den Jobcentern qualifiziertes Personal arbeite, das ihnen helfen werde, obwohl viele Mitarbeiter kaum geschult wurden. Dass die Arbeitslosengeld-II-Sätze gerecht seien, obwohl bei ihrer Berechnung getrickst wurde.
Die gestern vom Bundeskabinett beschlossene Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um 5 Euro wird diese Verbitterung fortschreiben. 2010 hatte Karlsruhe die Berechnung der Sätze für verfassungswidrig erklärt. Damit der Betrag danach nicht allzu sehr angehoben werden musste, nahm die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) statt wie zuvor das Einkommen der unteren 20 Prozent der Bevölkerung nur das der unteren 15 Prozent als Vergleichsgruppe. Die jetzige Arbeitsministerin Andreas Nahles (SPD) arbeitet weiter mit diesem Trick. Ausgaben für Tabak oder Alkohol sind nicht vorgesehen, ebenso wenig Kneipenbesuche oder Mitgliedsbeiträge für Parteien. Hartz-IV-Empfänger, so stellt es sich Nahles vor, sollen ihren Tag zu Hause verbringen – und sich auf keinen Fall politisch engagieren.
Die Agenda 2010 ist weiterhin die schwärende Wunde der SPD. Am Sonntag, zwei Tage vor dem Schmerzensgeld für Schröder, stürzte die Partei bei den Berliner Wahlen auf 21,6 Prozent der Stimmen ab. Arbeitslose wählten lieber die AfD, obwohl sie ihnen nichts verspricht. Jahrelang hatte sich die SPD darin eingerichtet, dass die Abgehängten kaum noch zur Wahl gehen. Jetzt tun sie es – und sie werden mit ihrer Entscheidung für die AfD laut Umfragen die einzige Konstellation auf Bundesebene zunichtewählen, mit der die SPD wieder einmal einen Kanzler stellen kann: Rot-Rot-Grün.
Die SPD wird daher Langzeitarbeitslosen etwas glaubhaft in Aussicht stellen müssen, wenn sie aus ihrem 23-Prozent-Verlies herauskommen will. Ob Gabriel, Schulz oder Scholz kandidieren, ist dagegen eine zweitrangige Frage. Die 5 Euro Trostpflaster für Langzeitarbeitslose bei 10.000 Euro „Schmerzensgeld“ für Schröder aber sind das perfekte Symbol für die Krise der SPD.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch