piwik no script img

Kommentar Erdoğans SyrienpolitikProbleme mit der Realität

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Der Syrienkrieg hat brutale Auswirkungen auf die Türkei. Diese will Erdoğan abmildern. Aber er wird das Land tiefer in den Morast hineinziehen.

Freund der großen Geste: Erdoğan Foto: ap

D er blutige Anschlag auf die kurdische Hochzeitsgesellschaft in Gaziantep, der vermutlich vom sogenannten Islamischen Staat (IS) in Auftrag gegeben wurde, zeigt, wie tief die Türkei bereits in den syrischen Bürgerkrieg verstrickt ist. Aus Rache für den Sieg kurdischer Milizen in der syrischen Stadt Manbidsch sterben 51 Menschen im südostanatolischen Gaziantep. Nur wenige Stunden vor dem Anschlag hatte der türkischen Ministerpräsident Binali Yıldırım angekündigt, die Türkei werde sich in den kommenden Monaten aktiver in Syrien einmischen.

Die meisten Türkinnen und Türken dürften das als Drohung aufgefasst haben, denn der Ehrgeiz von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, als Pate der Sunniten in Syrien und anderen Teilen des Nahen Osten wieder zum großen regionalen Player aufzusteigen, ist ja gerade der Grund, warum der Krieg nun über die Grenze in die Türkei kommt.

Dabei hat sich Erdoğan heillos im komplizierten Interessengeflecht in Syrien verstrickt. Weil der IS und die syrischen Kurden sich seit der Schlacht um die syrische Grenzstadt Kobani erbittert bekriegen, hat Erdoğan lange den IS in der Türkei geduldet und dadurch die USA gegen sich aufgebracht.

Die unterstützen nun die Kurden, was wiederum Erdoğan in Rage versetzt. Weil die andere Großmacht Russland aufseiten Assads kämpft, den Erdoğan stürzen will, um seine sunnitischen Muslimbrüderfreunde an die Macht zu bringen, hat er sich zeitweilig mit beiden Supermächten angelegt.

International völlig isoliert

Das Ergebnis war eine international völlig isolierte Türkei, die von Anschlägen des IS und der PKK gleichzeitig erschüttert wurde. Jetzt will Präsident Erdoğan aus dem syrischen Sumpf heraus und wird die Türkei dabei wahrscheinlich sogar noch tiefer in den Morast hineinziehen.

Es sei denn, Erdoğan ist endlich bereit, die realen Kräfteverhältnisse in Syrien und im Nahen Osten insgesamt zu akzeptieren. Eine Regierung der Muslimbrüder in Damaskus wird es so schnell nicht geben, das dürfte mittlerweile auch der türkische Präsident akzeptiert haben. Aber auch eine kurdische Autonomie im Norden Syriens wird Erdoğan gegen den Willen der USA und Russlands nicht verhindern können.

Je schneller die Türkei diese Realität anerkennt, desto schneller wird der Terror in der Türkei enden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Die Türkei schafft es ja noch nicht einmal die Flüchtlinge die da sind vernünftig zu versorgen und will nun noch mehr Geld in den Krieg stecken ?! Um noch mehr leid zu bringen !? Jeder der meint Gewalt mit noch mehr Gewalt zu bekämpfen ist doch schon verloren ! Die halbe Westliche Welt mischt in Syrien mit und hat es nicht geschafft dort für Ordnung zu sorgen . Was würde eigentlich passieren wenn die Westliche Allianz plötzlich einfach abzieht und es den Menschen dort überlässt wie es weiter geht ? Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Selbst wenn es einen langen Bürgerkrieg geben würde wäre das was am ende herauskommt besser als eine angedachte Regierung der Westmächte !

  • Das Völkerrecht ist auf der Seite von Assad und dieser Richtlinie sollten sich alle Beteiligten orientieren. Wer sind wir, die US-Europäschische Wertegemeinschaft eigentlich, die meint wann und wo ein Regimechance stattzufinden hat. Wie viele müssen noch für die diese mörderische Idee, Regimechance, Assad muss weg, sterben? 5.000, 50.000, 700.000 oder 3 Mio. Menschen.

    Das Genfer Abkommen, das der UN-Beauftragte für Syrien, Kofi Annan, im Juni 2012 vermittelte, ist von allen Außenministern (auch von Hillary) der fünf Veto-Mächte in der UNO unterzeichnet worden. Mit diesem Abkommen war auch der syrische Präsident Bashar al-Assad einverstanden. Kaum war das Abkommen abgeschlossen, kartete Hillary Clinton mit Israel nach und gab die Divise aus, ein Syrien mit Bashar al-Assad werde es nicht geben. Seit dem ist Syrien geteilt in „Gute“ USA, Israel, Europa, Golfstaaten und in „die Bösen“, die mit Russland, Iran, China kooperierten. Die Türken sind mal bei den „Guten“ mal bei den „Bösen“.

     

    Wir müssen das Sellbstanlügen endlich beenden. Unser Bundesregierung hilft nur den Interessen unserer Verbündeten, allen voran den Interessen der USA und Israels. An diesem schmutzigen Krieg gegen Syrien sind wir Beteiligte. Seit 2011 ist ein brutales Embargo gegen Syrien verhängt.

    Erklärtes Ziel dieses Embargos ist es, die Wirtschaft Syriens zum Erliegen zu bringen und seine Bevölkerung zum Aufstand gegen die eigene Regierung zu treiben. Das syrische Volk soll ausgehungert werden. Das muss sofort beendet werden, zwar nicht mir einer heulerischen Luftbrücken nach Aleppo, wie es zuletzt Steinmeier forderte, sondern das Embargo gegen Syrien muss aufgehoben werden.

    • @Nico Frank:

      Regime change. Mit G.

  • 3G
    34420 (Profil gelöscht)

    Jenseits aller Politik muss man aber auch mal fragen, wie jemand auf die Idee kommen kann in diesen Zeiten und in diesem Gebiet eine große öffentliche Hochzeit zu feiern. Das war ja geradezu eine Einladung an Selbstmordtäter.

    • @34420 (Profil gelöscht):

      Ich denke, das ist offensichtlich. Wenn Menschen alle menschlichen Tätigkeiten einstellen würden, "nur" weil Krieg, Bürgerkrieg, Seuchen und sonstige Katastrophen stattfinden, wären wir schon vor tausenden von Jahren ausgestorben. Freude, Feiern, Gemeinschaft - all das sind Erscheinungsformen menschlicher Zivilisation und lassen sich als solche fast nicht unterdrücken.

  • Probleme mit der Realität? Demokratie wird hier gut erklärt.

  • Egal, ob das türkische Militär selbst in Syrien eingreift (und sich damit erneut mit Russland anlegt) oder ob Erdoğan eine der Milizen zum türkischen Stellvertreter im Syrien-Konflikt ernennt, es kann eigentlich nur schiefgehen. Denn keine der Kriegsparteien kann (aus Erdoğans Sicht) 100%ig zu den „Guten“ gezählt werden.

     

    Wahrscheinlich wird die Türkei selbst Spieler in dem Spiel „Jeder gegen jeden und Gott gegen alle“ werden, wenn sie es nicht schon ist.

    Erst der Sieger wird uns sagen können, wer in diesem Spiel die „Guten“ und die „Bösen“ waren, denn die Geschichte wird bekanntlich immer vom Sieger geschrieben!

  • Es gibt ja offensichtlich Gespräche zwischen der Türkei/Russland und Türkei/Iran. Vielleicht schwenkt Erdogan noch einmal um.

  • Selbst Erdogan ist Muslimbruder. Bevor er damals Bürgermeister von Istanbul wurde ist er der Muslimbruderschaft beigetreten. Das ist auch einer der Hauptgründe warum er mit der Hamas und anderen Suunitisch Radikalen Gruppen nahesteht. Auch die Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft. Auch der zum Tode verurteilte Islamisten Führer aus Bangladesch um den sich die Türkei so sorgte gehörte zu Ihnen. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint der Bericht des Geheimdienstes über die Türkei verdammt ehrlich.

  • Sollten sich die Türkei und Russland annähern und es zu Verhandlungen mit den Kurden kommen, können die USA ihren Flughafen in Rmeilan in der Provinz Hasakeh, dem Kurdengebiet, dicht machen und der Krieg könnte „schnell“ beendet werden. Der Frieden in Syrien hängt jetzt davon ab, ob sich Erdogan mit den Kurden verständigen kann (will) und ob Russland ein Bündnis zwischen der Assad-Regierung, den Kurden und der Türkei gegen die radikalen Islamisten in Syrien hinbekommt.