Kolumne Mittelalter: Glaube, Liebe, Hoffnung

Jedesmal, wenn wir rausgehen, hoffen wir, dass sich die anderen an die Verabredung halten: das fremde Leben so wichtig zu nehmen wie das eigene.

Betonbarriere am Berliner Breitscheidplatz

Blumen und Kerzen am 29.12.2016 an einer Betonbarriere in Berlin auf dem Breitscheidplatz Foto: dpa

Die Bilder zeigen ein Paar, Frau und Mann, sie hochschwanger, beim Betreten der Unterkunft. Dann folgen Bilder aus dem Innenraum, eine Verhandlungssituation. Umschalten zur Kamera in den Stallungen, die Frau ist nicht im Bild, der Mann wirkt nervös, dann aufgeregt, schließlich hält er ein Neugeborenes im Arm, irgendwo werden Kerzen ausgeblasen, es wird dunkel.

Auch die Reise des mutmaßlichen Attentäters von Berlin, Anis Amri, durch die Niederlande, Frankreich und Italien ist kameratechnisch gut dokumentiert. Man kann ihn – jetzt – „sehr wahrscheinlich“ in Bildern vom Bahnhof in Nimwegen am 21. Dezember, sicher an dem von Lyon am Nachmittag des 22. Dezember und schließlich in Mailand am 23. Dezember sehen.

Die einzige der von vielen offenbar gefürchteten Politdiskussion an der Weihnachtstafel hatte ich zum Thema Kameraüberwachung. Und ich habe mich nicht geäußert. Gerade lese ich den Roman „The Circle“ von Dave Eggers. Ich bin noch ziemlich am Anfang, aber ich weiß jetzt schon, dass ich die Passage mit den dänischen Kindern nicht mehr vergessen werde.

Denen – wird im Buch berichtet – sei ein Chip unter die Haut am Handgelenk operiert worden, damit ihre Eltern immer wissen können, wo sie sich gerade aufhalten. Großer Erfolg in Politik und Medien. Dann kommt es, wie es kommen muss: Einige Kinder werden vermisst. Ihre blutigen Chips finden sich alle an derselben Stelle, wenige Tage später werden die Leichen entdeckt. Als Lösung wird nun in „The Circle“ vorgeschlagen, die Chips müssten tiefer, in die Knochen, gesetzt werden, damit potenzielle Täter sie nicht so einfach rausschneiden könnten.

Wenn etwas nicht funktioniert, kann die Idee, der ganze Ansatz falsch gewesen sein; oder er ist nur nicht konsequent genug umgesetzt worden, es muss nachgebessert werden, man muss tiefer gehen – was sind da schon Einschnitte in die Privatsphäre.

Bei Anis Amri hat die Technik funktioniert, nur gab es offenbar niemanden, der die Bilder dann auch rechtzeitig ausgewertet hätte. Sinnvollerweise könnte das wohl auch nur von einer Erkennungssoftware geleistet werden, die alle Gesichter, die die Kameras aufzeichnen, überprüft.

Trauen zu vertrauen

Warum nicht? Was kann ich dagegen haben, wenn eine Behörde weiß, dass ich am 22. Dezember und noch mal am 25. Dezember am Münchner Hauptbahnhof war? Und woher sollen die wissen, wer das da auf den Bildern ist (fragte er zynisch lächelnd)?

Wir leben vom Vertrauen, dass dieser SUV da vorne am Zebrastreifen oder der roten Ampel tatsächlich anhält.

Wir leben damit und davon, dass es nicht unsere Kinder sein können, die Obdachlose anzünden, dass es schon nicht wir sein werden, die plötzlich einen Tritt bekommen und die U-Bahn-Treppe hinunterstürzen.

Wir bemühen uns zu denken, dass nicht alle Verfassungsschutzbeamten Akten schreddern und dass die meisten Sachsen erst Menschen und dann Sachsen sein wollen.

Wir hoffen, dass der Entscheidung, den zentralen Weihnachtsmarkt der deutschen Hauptstadt nicht mit Betonsperren gegen einen Angriff mit einem Lkw zu sichern, wenigstens eine ausgiebige Erörterung des Für und Wider vorangegangen ist.

Und manche glauben sogar an Gott.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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