Kolumne Macht: Debatte mit hysterischen Zügen
Nach der „Spiegel“-Affäre: Nicht mehr „schön“ schreiben, keine Auslandsreportagen mehr, Interviewpartner gegenchecken? Das wäre grotesk.
W ieder einmal sitzen viele Tausend Kaninchen vor einer ziemlich abgetakelten Schlange. Wer von „Lügenpresse“ rede, werde sich nun bestätigt fühlen, greinen viele in der Branche, nachdem der preisgekrönte Spiegel-Reporter Claas Relotius als Betrüger enttarnt wurde. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein wäre schön. Gerade jetzt.
Denn in Wahrheit bestätigt die Affäre Relotius nicht jene Leute, die für ihre Ressentiments sowieso keine Argumente brauchen – sie widerlegt sie. Wären nämlich Erfindungen und andere Lügen an der Tagesordnung, dann hätte es keinen Grund für den Spiegel gegeben, den Vorgang im eigenen Haus zu skandalisieren. So viel dazu.
Natürlich muss darüber geredet werden, was genau passiert ist und welche Kontrollmechanismen möglicherweise versagt haben. Allerdings liegt die Betonung auf möglicherweise. Für Kontrolle gibt es nämlich Grenzen, will man ein halbwegs freies Arbeitsumfeld bewahren.
Die Forderung, man möge bei jedem Interview ein Aufnahmegerät einschalten oder einen zweiten Kollegen mitnehmen, ist weltfremd. Manche Zitate fallen eben erst nachts um elf in einer Bar, nachdem man fünf Stunden mit einem Interviewpartner verbracht hat. Sollen wir künftig solche Zitate weglassen? Auch das wäre ein Verzicht auf Abbildung der Realität.
Keine internen Ermittlungsbehörden
Die Debatte nimmt mittlerweile hysterische Züge an. Alle Preise abschaffen, sofort. Nicht mehr „schön“ schreiben. Vielleicht ganz auf Auslandsreportagen verzichten, weil die sich so schwer überprüfen lassen. Alle Interviewpartner von der Redaktion aus noch einmal anrufen, um sicherzustellen, dass ein Gespräch tatsächlich stattgefunden hat.
Wenn ein Heiratsschwindler entlarvt wird, dann steht doch deshalb nicht die Institution Ehe insgesamt auf dem Prüfstand. Auf den Abwehrkampf gegen systematischen Betrug können – und sollten – sich zivile Unternehmen in ihren Arbeitsabläufen nicht einstellen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Eine Ärztin, die einem Patienten aufgrund eines Laborberichts bestimmte Medikamente verschreibt, verlässt sich darauf, dass das Labor tatsächlich Proben untersucht und ihr keine Fantasiedaten übermittelt hat. Soll sie jedes Mal ein zweites Labor zur Kontrolle beauftragen? Im Journalismus sind Abteilungen wie Dokumentation, Archiv oder Korrektur keine internen Ermittlungsbehörden, sondern zunächst einmal dafür da, Texte zu verbessern. Nicht mehr, nicht weniger.
Hätte Claas Relotius nicht immer dreister gefälscht, am Ende sogar bei einer gemeinsamen Recherche mit einem Kollegen – dieser Kollege, Juan Moreno, ist übrigens der Held in der Affäre, er hätte einen Preis verdient! –, vielleicht wäre er nie aufgeflogen. Der Eindruck drängt sich auf, dass Relotius am Ende enttarnt werden wollte, dass er die inneren Widersprüche nicht mehr ausgehalten hat.
Das müssen Fachleute klären. Gegenüber seinen Vorgesetzten soll er gesagt haben, dass er sich selbst für krank hält und Hilfe in Anspruch nehmen will. Ferndiagnosen, noch dazu von Laien, verbieten sich. Befremdlich aber ist die Gnadenlosigkeit, mit der sein ehemaliger Arbeitgeber ihn an den Pranger gestellt hat.
Überhaupt, der Spiegel. Wenn an dieser ganzen, traurigen Geschichte irgendetwas lustig ist, dann die Hybris des Magazins. Allen kann so etwas passieren, aber uns doch nicht. Uuuuuns doch nicht.
Doch, auch euch. Uns allen eben. Es hat Medienskandale in der Vergangenheit gegeben, es wird sie in der Zukunft geben. Und wenn alle mal wieder von den Bäumen runterkommen, auf die sie in den letzten Tagen geklettert sind, dann können wir uns vielleicht sogar sachlich darüber austauschen, wie sich Risiken verringern lassen. Es wäre der Mühe wert.
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