„Kolonialismus erinnern“ im Berliner HKW: Erkämpfte Räume verteidigen
Im Haus der Kulturen der Welt wurde das Berliner Konzept „Kolonialismus erinnern“ vorgestellt. Propalästinensische Aktivisten versuchten zu kapern.
Die Opfer des deutschen Kolonialismus aus dem Schatten der Geschichte zu befreien, das hat sich das gesamtstädtische Erinnerungskonzept „Kolonialismus erinnern“ zum Anliegen gemacht. Unter der Projektleitung des Literaturwissenschaftlers Ibou Diop wurde das Grundsatzprogramm für den Berliner Senat fünf Jahre lang ausgearbeitet.
Am Prozess beteiligt waren eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen, darunter Decolonize Berlin e. V., Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt, Adefra e. V. und das Stadtmuseum Berlin. Nun wurde das Ergebnis im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) präsentiert – doch nicht ohne Störung.
Wie bedeutungsvoll der sich anschließende zweitägige Kongress sein werde, signalisierte Moderatorin Miriam Camara schon zu Beginn des Begrüßungsprogramms: für sie ein „historischer Moment für Berlin, Deutschland und auch darüber hinaus“. Worauf dieser Moment fußt, daran ließ keiner der Redner einen Zweifel: auf den Errungenschaften derer, deren Namen bewusst dem Vergessen preisgegeben wurden, um die Spuren kolonialer Gewalt zu verwischen.
„Kolonialismus erinnern“ heißt für Projektleiter Diop deshalb, in Anlehnung an den afrokaribischen Autor und Politiker Aimé Césaire, aus dem Zwang auszubrechen, die Gewalt der Vergangenheit zu wiederholen.
Stärkung der pluralen Gesellschaft
Kultursenator Joe Chialo (CDU) sieht im geschichtsphilosophischen Projekt vor allem ein „solidarisches Erinnern“, das auf die Stärkung der pluralen Gesellschaft zielt. Folgt man aber den Worten von HKW-Intendant Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, klingt das noch nach Zukunftsmusik. „Die Kolonialgeschichte hat ihren Weg noch immer nicht in die Schulbücher gefunden“, sagte er – das historische Moment schreie nach wirklichem Wandel.
Zunächst schrien am Donnerstagnachmittag aber propalästinensische Aktivisten: Als „Genozidleugner“ bezeichneten sie Claudia Roth und Joe Chialo. Mit Palästinafahnen und Protestplakaten stürmte eine Handvoll von ihnen auf die Bühne. Aufgeregt verlasen sie ein Pamphlet und riefen „Viva Palestina“.
Während Roth sich stillschweigend in den Schatten der Bühne zurückzog, griff Moderatorin Miriam Camara ruhig, aber entschlossen durch. Nach einigen vergeblichen Versuchen, in den Dialog mit den monologisierenden Protestlern zu treten, erhob sie ihre Stimme: „Das ist ein Raum Schwarzer Menschen in Deutschland. Den haben wir uns erkämpft. Hier geht es um Kolonialismus, nicht um euch.“
Zur Unterstützung eilten das Awarenessteam und Projektleiter Ibou Diop. Die Situation löste sich zunächst auf, es sollten noch vier weitere Störversuche folgen. Das Publikum wirkte zunehmend übersättigt, viele buhten, einige applaudierten.
Herzstück von Roths Kulturpolitik
Als Claudia Roth aus dem Schatten trat, lächelte sie und sagte abschließend: „Zur Demokratie gehören Kontroversen.“ Ihre Aufmerksamkeit galt nur dem Berliner Erinnerungsprojekt. Das reklamierte sie als Herzstück ihrer Kulturpolitik und betonte die Notwendigkeit der verantwortungsvollen Aufklärung deutscher Kolonialgeschichte.
Ihr Ziel: „Versöhnung und Verständnis.“ Dafür lobte sie auch die parteiübergreifende Initiative des Berliner Senats. Wenig Wohlwollen schlug Roths Kulturpolitik letztens von den Unterzeichnern eines an sie gerichteten Protestbriefs entgegen. Gedenkstättenleiter und Dachverbände üben darin Kritik an Roths kürzlich veröffentlichtem „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“. Die Befürchtung: NS-Verbrechen drohten so relativiert zu werden.
Kritik wie diese versuchte man auf der Bühne zu verhindern, bevor sie aufkam: Nachdem die Störer gescheitert waren und Claudia Roth noch vor einem sie adressierenden Beitrag der Autorin Sharon Dodua Otoo gegangen war, suchten Ibou Diop und der Autor Max Czollek in einem vorgetragenen Briefwechsel nach Gemeinsamkeiten im Verschiedensein zweier Erinnerungskulturen. Die fanden sie im Gefühl der Trauer um die Opfer, aber auch im Gefühl der Liebe, der Solidarität zwischen Betroffenen, das dem falschen Denken in „Opferkonkurrenzen“ entgegenstehe.
Lernort zum Kolonialismus
Im Spektakel aus Protest, Musik, Utopie und geschichtsgroßen Gefühlen drohte schließlich unterzugehen, dass es konkrete Forderungen an die Politik gibt. Unter anderem: die Schaffung eines zentralen Lern- und Gedenkortes Kolonialismus, der Ausbau der Forschung zur Kolonialgeschichte, die Umbenennung von Straßen und die Etablierung einer Stiftung zur Förderung der Erinnerungsarbeit.
In Berlin solle konkret etwas in der Wilhelmstraße 92 geschehen, gab Kultursenator Chialo bekannt. Er könne sich dort einen Lernort zum Kolonialismus vorstellen. Momentan betreibt das Stadtmuseum dort den Projektraum „Dekoloniale“. Die Adresse ist reichlich vorbelastet: Otto von Bismarck hatte hier seine Reichskanzlei. 1884/85 wurde in den Räumen die sogenannte Kongokonferenz abgehalten, wo die Aufteilung des afrikanischen Kontinents in Kolonien beschlossen wurde.
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