Klimawandel im Alltag: Radikal konkret
Die Klima-Botschaft ist in diesem Jahr angekommen. Jetzt gilt es, für die Wende zu begeistern: als großartiges, gesamtgesellschaftliches Projekt.
E s fing ganz harmlos an, beim Sonntagsessen. „Was würde eigentlich passieren“, fragte meine Nichte und legte den ökologisch korrekten, regionalen Hähnchenknochen beiseite, „wenn jetzt alle auf einmal weniger Fleisch und nur noch Bio essen würden? Ich meine, volkswirtschaftlich gesehen?“ Und als niemand antwortete, gab sie selbst die Antwort: „In Westniedersachsen würden um Wiesenhof und ein paar Schweinefabriken herum jede Menge Leute arbeitslos, ein paar Landkreise in Westniedersachsen wären platt gemacht, und in Brasilien würden sie weniger roden, weil wir kein Soja mehr brauchen.“
Allerdings, warf ihr Freund ein und blickte auf sein Smartphone, werde die Ernährung etwa 75 Prozent teurer, wenn wir uns nur noch nachhaltig ernähren. Und diese Differenz – er tippte noch einmal etwas ein – betrage ungefähr so viel wie der Durchschnittsdeutsche für Haushaltsgeräte und für Kleidung ausgebe. Oder für den Urlaub. Saturn, Kik und Mallorca kämen also schwer in die Krise. „Oder Decathlon“, ergänzte mein Enkel.
Das führte uns zu der weiterführenden Frage: was aus den 165.000 Arbeitsplätzen der Catering-Industrie werde, wenn alle Schulen anfingen, selbst zu kochen – was zwar gesünder wäre, die Lust am Selberkochen und damit die sozialen Bande stärken, aber die Systemgastronomie in den Ruin treiben – und damit viele Bullshitjobs vernichten würde.
Aber da die Landwirtschaft nur 7 Prozent der Emissionen verursacht (Smartphones sind ein Segen), gingen wir beim Nachtisch vom Essen zur Mobilität über: Was würden die 114.000 überflüssigen Automobilarbeiter machen, wenn alle Autos a tempo nur noch mit Elektromotoren gebaut werden, und was ersetzt dann die Mineralölsteuer? Und so weiter und so weiter. Ich mache es kurz: Es wurde ein langer Abend, an dem wir die große Forderung einer Klima- und Umweltwende in utopischem Vorgreifen lustvoll klein gearbeitet und damit den Kapitalismus in die Krise getrieben hatten.
Natürlich war das Ganze unsystematisch und ein wenig glasperlenverspielt. Denn in Heimarbeit kann man eine gesamtgesellschaftliche Transformationsökonomie nicht entwickeln. Allerdings – das ergeben erste Recherchen – gibt es sie an den volkswirtschaftlichen Fakultäten des Landes auch nicht. Bis auf Weiteres fällt so etwas unter den Planwirtschaftsverdacht – in seiner ideologischen (zurück in den Steinzeitkommunismus) oder theoretischen (rechnerisch nicht möglich) Variante.
Aber wenn die notwendige Transformation unserer Gesellschaften technologische Großprojekte, neue Infrastrukturen, neue Antriebe für Autos, Schiffe und Flugzeuge, umgerüstete Chemie-, Zement- und Stahlindustrien, neue Agrarstrukturen, den Umbau der Städte erfordert und schließlich die Veränderung von Ess- und Mobilitätsgewohnheiten – also „alles auf einmal“, wie Jean-Uwe Heuser in einem elektrisierenden Artikel in der Zeit ausführt und begründet (36/2019) –, wenn es also um einen globalen „Moonshot“ geht, wie Geoffrey Sachs ebendort sagt, dann bräuchten „die Staaten einen Plan, was bis wann zu geschehen hat“.
„Radikal ist das neue Realistisch“ – Robert Habecks Bonmot heißt eben auch: Die Radikalität muss konkret und also: beziffert werden. Svenja Schulzes Entwurf für ein Klimaschutzgesetz ist da nur ein allererster Schritt zur Festlegung verbindlicher Ziele und Fristen, immer noch viel zu unbestimmt und unscharf, so wie der „Kohlekompromiss“.
„Unite behind the Science“ – es geht nicht nur darum, die Bedrohung realistisch zu sehen und pauschale Maßzahlen zu nennen, sondern um die Berechnung und Planung alternativer Pfade der Erneuerung: Welche Infrastrukturinvestitionen sind vordringlich, welche Subventionen könnten fallen? Und bis wann? Welche Gesetze sind notwendig für den beschleunigten Umbau der Städte, die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene? Wie werden sie finanziert?
Sommerwetter, Waldbrände, Greta Thunberg und FFF
Einstweilen schrecken sogar die Grünen vor der Forderungen einer demokratischen Planung zurück, die mit Zielgrößen, Strukturmodellen und Deadlines versehen ist, die sich des Internets, der Smartphones und der Computing Power bedient. Bis jetzt gibt es auf die veränderte Stimmung vor allem konkretistische Schnellschüsse von Mandatsträgern, die um ihre Marktanteile bangen: Steuer auf Billigflüge rauf, steuerfreie Bahntickets etc. Und den Grünen trübt das Veggieday- und Steuerdesaster immer noch die gebotene Klarheit.
Aber dank Sommerwetter, Waldbränden, Greta Thunberg und FFF stünden die Chancen besser als je zuvor, die Bürger nicht nur von der Notwendigkeit eines wirklichen Aufbruchs zu überzeugen, sondern sie – gerade wegen der Größe dieser Veränderung, gerade wegen der Zumutung – zu interessieren, vielleicht zu begeistern.
Allerdings nur, wenn es mit einer Rhetorik einhergeht, die nicht ständig die Apokalypse beschwört, sondern die Wende als beschwerliches, notwendiges, aber auch großartiges gesamtgesellschaftliches Projekt beschreiben kann. Als einen „Mondflug“, bei dem alle mitfliegen, nicht nur als Wähler, sondern als Akteure der Veränderung von Regionen, Städten, Kiezen, Betrieben und dem Leben in der eigenen Wohnung.
Die Botschaft über das Klima ist in diesem Jahr angekommen – auch über die Tausende von Aktivisten und Initiativen hinaus. Politik könnte jetzt Aufbrüche wagen. Zur Ermutigung und Ertüchtigung dafür könnten ja zum Beispiel die Lehrer der streikenden Schüler freitags mal an einem neuen Curriculum arbeiten.
An einer Arithmetik der Wende: Wie viele neue Bahntrassen braucht man, wenn die Kapazität verdoppelt wird; was bringt mehr: eine Kerosinsteuer auf Flüge oder innerstädtische Elektrobusse? An einer Sozialkunde der Wende: Wie kann man gigantische Konzerne auf das Gemeinwohl verpflichten? An einer Chemie des Lebensstils: Wenn sowohl Tüten aus Plastik als auch die aus Papier oder Baumwollbeutel schädlich sind: was dann? Menschen halten sich an Konkretes, lassen sich auf Überschaubares ein. Nicht nur beim Sonntagsessen.
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