Kipp-Punkte des Ökosystems: Fossilfreunde, hört endlich auf die Wissenschaft
Das Eisschild Grönlands droht wegen der Klimakrise zusammenzubrechen – mit fatalen Folgen für den Wasserpegel. Viele haben den Schuss nicht gehört.
W er in die Berge wandern geht, packt sich einen warmen Pullover ein, denn jeder weiß: Oben auf dem Gipfel ist es kühler als unten im Tal. Beim Grönländischen Eisschild ist dies genauso; bis zu 3.300 Meter ragt der Gletscher in die Höhe. Weshalb das gefrorene Wasser ein sogenanntes Kippsystem in der Ökologie der Erde darstellt: Beginnt der Gletscher, der übrigens fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik, einmal zu tauen, fällt seine Oberkante in immer wärmer werdende Schichten nach unten – das Tauen hört nie wieder auf. Zwar wird der Prozess etliche Jahrhunderte dauern, an seinem Ende aber wird der Pegel der weltweiten Ozeane allein aus dieser Quelle sieben Meter höher sein als heute. Emden liegt einen Meter hoch.
Alarmierend sind deshalb zwei Berichte, die jetzt vorgestellt wurden. Der erste ist der „Global Tipping Points Report 2025“: In diesem warnen 160 Experten aus 23 Ländern, dass die Eisschilde von Grönland genauso wie jener in der Westantarktis oberhalb einer globalen Erwärmung von 1 Grad irreversibel zusammenbrechen werden. Der zweite Bericht stammt von der Weltmeteorologie-Organisation WMO: Nie stieg die Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre schneller als im vergangenen Jahr; die globale Durchschnittstemperatur lag 2024 schon um 1,55 Grad über dem vorindustriellen Niveau.
Seit Jahren forscht die Wissenschaft, sie misst nach und versorgt uns mit Daten: So hat besagter grönländischer Gletscher bereits mehr als eine Billion – in Zahlen: 1.000.000.000.000 – Tonnen Eis verloren – 20 Mal so viel Wasser, wie der Bodensee enthält. Zwar wissen wir längst, dass die Kippelemente in Gefahr sind, und – ja, vielleicht manche sogar akut. Doch statt auf die Wissenschaft zu hören, halten es zu viele mit dem rheinländischen Spruch „Et hätt noch immer jot jejange“.
Dabei geht es nicht um Glauben, sondern um die Gesetze der Physik: 17 solcher Kippsysteme gibt es, viele hängen unmittelbar zusammen. Beispielsweise wird das schmelzende Süßwasser Grönlands die Salzkonzentration im Atlantik so verändern, dass der Golfstrom zusammenbrechen dürfte. Wie ein Leben in Mitteleuropa ohne dieses Wärmeband aussieht, lässt sich gut auf Neufundland studieren: Die Stadt St. John’s liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Hannover – aber Eisberge vor der Küste sind selbst im Frühsommer dort keine Seltenheit. Eines dieser Kippelemente haben die Forscher nun für unrettbar erklärt: Mitte des Jahrhunderts werden 70 Prozent aller Korallen in den wärmer werdenden Ozeanen abgetötet sein, Ende des Jahrhunderts dann 99 Prozent.

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Statt jetzt aber besorgt in den Lösungsmodus zu wechseln, diskutieren wir immer noch, ob ein Verbrenner-Aus in zehn Jahren sinnvoll ist. Von der Wärmepumpe über die Bioökonomie, der Solarthermie bis zum „Grünen Wasserstoff“ – wir kennen sehr viele Lösungen des Problems. Trotzdem gelingt es der Fossil-Lobby, uns weiter in ihrer Abhängigkeit zu halten: Die Bundesregierung will jetzt neue Erdgaskraftwerke bauen lassen.
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