Kinotipp der Woche: Formsuche nach 1968
Die politische Filmemacherin Claudia von Alemann wird 80. Ihr Werk fand zu neuen Formen und nahm Fragen von Internationalismus und Feminismus vorweg.
Bevor Diskussion beginnt hat sich deutliche Ermattung im Publikum eingestellt. In der ersten Reihe starren die Besucher_innen vor sich hin, der Mann mit Brille eine Reihe hinter ihnen ist bereits eingenickt, andere blicken erwartungsvoll nach vorne auf das Podium, das sie vom zähen Warten erlösen möge. 1967 begleiten Claudia von Alemann und Reinold E. Thiel die vierte Ausgabe des internationalen Experimentalfilmfestivals im belgischen Knokke. Filmausschnitte ringen um Formen, Podien um die Fragen, die zu diskutieren sind, bis schließlich eine hitzige Diskussion über Film und Imperialismus, Film und Politik entsteht. „Exprmntl 4 Knokke“ ist ein Film, der das Heraufziehen all jener Themen zeigt, die heute mit der Chiffre „1968“ bezeichnet werden. Das Verdienst des Films ist, dass er dieses Heraufziehen verbindet mit der Formsuche, die in den Filmen sichtbar wird, und dem klaren Blick, dass die Diskussionen von nun an hinter klaren ideologischen Barrikaden geführt wurden.
„Exprmntl 4 Knokke“ ist Teil der Retrospektive „Claudia von Alemann und ihre Filme: ‚Das nächste Jahrhundert wird uns gehören‘“, mit der die Deutsche Kinemathek, das Zeughauskino, das Klick Kino und das Bundesplatz-Kino den 80. Geburtstag der Filmemacherin begehen.
Claudia von Alemann hatte ihr Studium in der von Alexander Kluge und Edgar Reitz gegründeten Filmabteilung der Hochschule für Gestaltung in Ulm fast schon abgeschlossen, als die Filmausbildung in der Bundesrepublik Fahrt aufnahm und kurz nacheinander die Hochschule für Film und Fernsehen in München und die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin gegründet wurden.
Claudia von Alemann und ihre Filme: „Das nächste Jahrhundert wird uns gehören“, 18. April–20. Mai, Zeughauskino, Bundesplatzkino, Klick!Kino und Deutsche Kinemathek; Programm: www.deutsche-kinemathek.de/
1968 geht von Alemann aber erst mal nach Frankreich. Ihr Dokumentarfilm „Das ist nur der Anfang – der Kampf geht weiter“ bringt Bilder des Pariser Mai 1968 nach Deutschland, zwei Jahre später besucht sie die beiden Black-Panther-Aktivist_innen Kathleen und Eldridge Cleaver im Exil in Algerien. Noch ein Jahr später (1971) widmet sie sich für das Fernsehen den Lebensbedingungen von Frauen in Vietnam. 1972 organisiert von Alemann gemeinsam mit Helke Sander das erste Frauen-Filmseminar in Kooperation mit dem Kino Arsenal und zeigt in „Es kommt drauf an, sie zu verändern“ die doppelte Belastung von Frauen in der Bundesrepublik durch Lohnarbeit und unbezahlter Hausarbeit.
In „Die Reise nach Lyon“, von Alemanns Spielfilmdebüt, fließen thematische und formale Stränge des bisherigen filmischen Werks der Regisseurin zusammen. Die junge Historikerin Elisabeth (Rebecca Pauly), befreit sich aus der Enge der eigenen Ehe und reist, geleitet von einer Spurensuche zur peruanisch-französischen Frauenrechtlerin und Frühsozialistin Flora Tristan, nach Lyon. Mit Notizbuch und Kassettenrekorder durchstreift sie die Stadt, folgt historisch-atmosphärischen Fährten und prüft ihr bisheriges Leben.
Wie so viele Filme Claudia von Alemanns ist „Die Reise nach Lyon“ ein tastender Film, der nicht auf große pathetische Akte der Befreiung setzt, stattdessen sagt sich die Protagonistin – und auch der Film – schrittweise los von Erwartungshaltungen an Rollenbilder und Filmformen.
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Das Werk Claudia von Alemanns hat an zentraler Stelle geholfen, dem politischen Dokumentarfilm der späten 1960er und frühen 1970er Jahre in Deutschland den Internationalismus beizubringen, hat versucht, feministische Fragestellungen mit anderen Formen der Politik zusammenzudenken und für all das Formen entwickelt, die den Zuschauer_innen der Filme das Denken nicht abnehmen.
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