Kiesabbau in Deutschland: Jede Menge Kies
Bauen, bauen, bauen heißt, dass für den Beton massenhaft Kies aus der Erde geholt wird. Die Gier bedroht die Natur. Der Widerstand gegen den Abbau wächst.
M atthias Schrack ist ein Mensch, der sich für Moore begeistert. Seit über 50 Jahren erforscht der pensionierte Beamte die Flora und Fauna der umliegenden Feuchtgebiete in seiner Heimat im sächsischen Großdittmannsdorf. 29 Kreuzottern habe er einmal bei einer Zählung entdeckt, erzählt er bei einem Treffen in seinem Büro. Er holt ein Buch mit dem Titel „Reptilien in Sachsen“ aus dem Bücherregal und schlägt eine Tabelle mit vergleichbaren Zählungen auf. „Absolut außergewöhnlich“, sagt Schrack. Dabei seien Kreuzottern in Sachsen stark gefährdet.
Doch die guten Zeiten für die Kreuzotter könnten in dieser Gegend bald vorbei sein, fürchtet Schrack. Denn das Kieswerk im benachbarten Ottendorf-Okrilla möchte seine Abbauflächen im großen Stil erweitern. Die Hügel, aus denen die Moore ihr Wasser speisen und in denen Kreuzottern ihr Winterquartier aufschlagen, bestehen hauptsächlich aus Kies. „Moore sind die empfindlichsten Ökosysteme überhaupt“, erklärt Schrack. Baggert man die anliegenden Kieshügel ab, fallen die Moore trocken, fürchtet Schrack.
Noch vor Braunkohle sind Kies und Sand der am intensivsten abgebaute Rohstoff in Deutschland. Über 300 Millionen Tonnen werden jedes Jahr vor allem in Tagebauen aus der Erde gefördert. Die Folge ist ein enormer Flächenverbrauch. Über drei Hektar pro Tag wurden im Jahr 2021 durchschnittlich für den Abbau beansprucht – beinahe doppelt so viel Fläche wie für den Braunkohleabbau.
Vor allem in der Bauindustrie ist der Rohstoff begehrt. Der Bauboom in den Städten wäre ohne Sand und Kies undenkbar. Sie sind die Hauptzutaten für Beton – den mit Abstand beliebtesten Baustoff in der Branche. Aber auch staatliche Infrastrukturprojekte, insbesondere Autobahnen, benötigen Unmengen des Rohstoffs. Sand und Kies sind günstige Massenrohstoffe. Schon für sechs Euro ist eine Tonne Kies in Sachsen zu haben. Aufgrund der hohen Transportkosten ist der Abbau nur regional wirtschaftlich sinnvoll. Dementsprechend gibt es über 2.200 Sand- und Kiestagebaue in Deutschland, die wenigsten liefern weiter als 30 Kilometer vom Abbauort entfernt.
Der Kiestagebau in Ottendorf-Okrilla vermittelt einen Eindruck davon, welche Folgen der Kieshunger hat. Mit über 290 Hektar Fläche ist die Abbaufläche des Kieswerks eine der größeren in Deutschland. Seit 1949 wird hier Kies abgebaut, nicht nur für den Wiederaufbau des nur 20 Kilometer entfernten kriegszerstörten Dresdens, sondern für die gesamte DDR. Im diesigen Winterwetter ist die Baumreihe am anderen Ende der Grube kaum zu erkennen. Über Hunderte Meter erstrecken sich die Förderbänder, die den Kies von der 20 Meter hohen Abbruchkante zu den Wasch- und Siebanlagen transportieren.
Lieferengpässe befürchtet
Julia Schönfeld ist Projektleiterin im Kieswerk und führt über das Gelände. Im Winter steht die Förderung größtenteils still, trotzdem fahren Laster ein und aus. „In ein paar Jahren ist diese Grube ausgekiest“, erklärt die studierte Geologin. Die Nachfrage aus Dresden sei enorm hoch, das Werk arbeite am Rande seiner Kapazität. Die Situation in den zwei weiteren Kieswerken, die den Großraum Dresden versorgen, sei ähnlich. „Bricht ein Werk weg, dann drohen Lieferengpässe“, erklärt Schönfeld.
Um die Produktion aufrechtzuerhalten, braucht das Kieswerk neue Abbauflächen. Eine Grube von 120 Hektar in der Nähe des Dorfes Würschnitz ist bereits seit 1998 genehmigt, 135 weitere Hektar befinden sich im Genehmigungsverfahren. Trotz der ökologischen Bedenken Matthias Schracks und von Naturschutzgruppen stehen für das Werk die Chancen gut, dass auch die zweite Erweiterung genehmigt wird.
Sand und Kies entstehen durch die Verwitterung von Gestein. Vor allem Flüsse und Gletscher zerkleinern das Felsmaterial aus den Bergen immer feiner und transportieren es hunderte von Kilometern. Der Rohstoff findet sich daher vor allem an Flussläufen, im Norden Deutschlands und im Alpenvorland. Gebiete, die in der Eiszeit mit Gletschern bedeckt waren. „Wir sind geologisch reich gesegnet“, erklärt Harald Elsner von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe gegenüber der taz am Telefon. Eine Aufgabe der Bundesbehörde ist es, die Rohstoffversorgung Deutschlands sicherzustellen. „Doch die für den Abbau verfügbare Fläche wird immer kleiner.“
Ähnlich wie in Ottendorf-Okrilla werden in den kommenden Jahren zahlreiche Kiesgruben erschöpft sein. Doch die Erschließung neuer Abbauflächen gestaltet sich schwierig. Im dichtbesiedelten Deutschland sind fast alle Flächen bebaut, werden land- oder forstwirtschaftlich genutzt oder sind Schutzgebiete. Siedlungsbau, Autobahnen und nicht zuletzt das ambitionierte Ziel, zwei Prozent der Landesfläche für den Ausbau von Windkraft zu reservieren, beanspruchen dazu immer neue Flächen. „Wir haben einen enormen Flächendruck“, sagt Elsner.
Meist geht der Flächenfraß auf Kosten der Landwirte. Seit Jahren sinkt die agrarwirtschaftliche Fläche in Deutschland. Boden aber ist ein teures Gut – und Landwirte sind immer weniger bereit, ihre Ackerfläche zu verkaufen. Da sie gern in der Nähe von Flussläufen vorkommen, handelt es sich bei den für den Kiesabbau geeigneten Flächen oft um besonders fruchtbare Auenböden.
In seinem Kampf gegen die Erweiterung der Kiesgrube in Ottendorf-Okrilla ist Matthias Schrack nicht allein. Im August 2021 besetzten Klimaaktivist:innen ein von der Rodung bedrohtes Waldstück in der Nähe der Grube. In Anlehnung an den Landschaftsverbund des Dresdener Heidebogens wird die Besetzung liebevoll „Heibo“ genannt. Unterstützt werden die Besetzer:innen von der Bürgerinitiative Contra Kies aus dem benachbarten Würschnitz.
An einem Mittwochvormittag Mitte Januar sind die etwa ein Dutzend Baumhäuser schneebedeckt, Barrikaden und Gräben auf den Wegen deuten auf die angekündigte Räumung hin.
Seit der Räumung Lützeraths vor wenigen Tagen haben sie vor lauter Presseanfragen kaum Zeit, sich weiter auf die Räumung hier an der Kiesgrube vorzubereiten, scherzen zwei Aktivist:innen, die sich mit den Tarnnamen Efeu und Kies vorstellen, während sie durch das Baumhausdorf führen. „Es gibt keinen anderen Weg, als es mit der Besetzung zu versuchen“, sagt Efeu, „ansonsten werden immer weiter Wälder abgeholzt.“
Auch an anderen Orten wächst der Widerstand gegen den Abbau. Es gibt kaum noch Erweiterungspläne, die nicht von Protesten einer Bürgerinitiative begleitet sind. Oft ist es die Beeinträchtigung der Lebensqualität, die Bürger:innen auf die Barrikaden treibt. Eine Kiesgrube bedeutet Lärm, Staub und Hunderte Lkws, die täglich durch die Ortschaften donnern. Zudem rücken die Kiesgruben immer näher an die Wohnbebauung heran. Großzügige Mindestabstände wie bei Windkraftanlagen gibt es in vielen Fällen nicht. So plant ein Kieswerkbetreiber im Leipziger Vorort Rückmarsdorf eine Kiesgrube in nur 70 Meter Entfernung zur nächsten Wohnbebauung.
Der Abbau von Sand und Kies ohne eine Auseinandersetzung mit betroffenen Bürger:innen ist heute praktisch unmöglich. Wenn es aber ohnehin Konflikte gibt, steigt scheinbar die Bereitschaft, auch ökologisch wertvollere Flächen in der Nähe von Natur- und Artenschutzgebieten für den Abbau auszuweisen – wie etwa um die Moorlandschaften von Großdittmannsdorf. „Es wird nach Erreichbarkeit und nach Verfügbarkeit der Lagerstätten geguckt, und nicht nach der ökologischen Wertigkeit“, kritisiert Magnus Wessel, Leiter Naturschutzpolitik bei der Naturschutzorganisation BUND gegenüber der taz. „Im Zweifel genießt die Rohstoffsicherheit in Deutschland oberste Priorität.“
Eine Frage des Bergrechts
Schon seit Jahren fordern Umweltverbände eine Reform des Bergrechts. Viele der dort enthaltenen Regelungen stammen noch aus den 1930er Jahren, Umweltbelange und ökologische Interessen seien nur ungenügend repräsentiert, kritisiert Wessel. Tatsächlich obliegt die Entscheidung über die Genehmigung neuer Abbauflächen in fast allen Bundesländern den Bergämtern, die wiederum dem jeweiligen Wirtschaftsministerium unterstellt sind. Zwar müssen sich auch die Bergämter an strenge Vorlagen halten und Gutachten über die Auswirkung auf Natur und Wasserhaushalt einholen, doch werden die Behörden oft für ihr intransparentes Handeln kritisiert und stehen bei den Umweltverbänden in Verdacht, im Zweifel im Sinne des Rohstoffabbaus zu entscheiden. „Die Gutachten werden oft unter Druck ihrer Auftraggeber erstellt“, sagt Naturschützer Schrack. Diese seien in der Regel die Tagebaubetreiber. Im Falle des Kieswerks in Ottendorf-Okrilla spricht Schrack sogar von einem „Einknicken des Umweltministeriums vor der Kieslobby“.
Darauf, dass Schracks Verdacht nicht ganz unbegründet ist, deuten die zum Teil schweren Bedenken hin, die sieben untergeordnete Behörden bereits 2016 gegen eine Erweiterung des Kieswerks äußerten. Im Rahmen des Planungsverfahrens wurden die Behörden um Stellungnahmen gebeten. „Es muss mit erheblichen Auswirkungen auf die Natur, Tiere und Pflanzen, das Wasser, den Boden und das Klima gerechnet werden“, urteilte zum Beispiel die Abteilung Umweltschutz der Landesdirektion Sachsen. Rechtliche Auswirkungen haben diese Bewertungen keine, die Entscheidung liegt letztlich beim sächsischen Oberbergamt, das „keine grundsätzlichen Bedenken“ äußerte.
Auch in anderen Teilen Deutschlands werden wertvolle Ökosysteme durch den Sand- und Kiesabbau gefährdet. So schlagen Umweltschützer:innen in Oberschwaben Alarm, weil dort 60 Hektar des Altdorfer Walds für eine Kiesgrube gerodet werden sollen. Bei dem Altdorfer Wald handelt es sich um das größte zusammenhängende Waldgebiet der Region. Kritiker:innen fürchten eine Störung der komplexen, artenreichen Ökosysteme und Auswirkungen auf den Wasserhaushalt der Region. Eine ähnliche Situation zeigt sich im Langener Wald in Hessen und im bayrischen Vilshofen an der Donau, wo ebenfalls Wälder für den Kiesabbau gerodet werden sollen.
Für den Klimaschutz und den Erhalt der Biodiversität ist die Zerstörung solch wertvoller Ökosysteme fatal. „Böden von Auen, Wäldern und Mooren sind die wichtigsten Speicher von Kohlenstoff, die wir haben“, sagt Wessel. Knapp die Hälfte des in den Wäldern gebundenen Kohlenstoffs befindet sich in dem an Humus- und Mikroorganismen reichen Boden. Auch wirken die Kiesschichten wie natürliche Schwämme, die Wasser aufsaugen. Aufgrund ihrer Durchlässigkeit dienen sie als Wasserreservoir in Dürrezeiten, als auch als Puffer bei Starkregen und Hochwasser – in Zeiten der Klimakrise eine immer wichtiger werdende Funktion.
Geht es um das Thema Naturschutz, wird die Rohstoffbranche nicht müde zu betonen, dass in den Bergbaufolgelandschaften durch Renaturierungsmaßnahmen artenreiche Ökosysteme entstehen. Auch Teile der Kiesgrube in Ottendorf-Okrilla sind bereits renaturiert. Projektleiterin Schönfeld deutet sichtbar stolz auf eine Fläche mit jungen Fichten, zwischen denen große Haufen aus Baumwurzeln stehen. „Das sind Brutstätten für den Steinschmätzer“, erklärt Schönfeld, einer in Deutschland bedrohten Vogelart. „Was sich immer wieder zeigt, ist, dass Tagebaue wunderbare Habitate sind für Lebewesen, die Rohböden lieben.“
Klimakiller Bauindustrie
Die Bau- und Rohstoffindustrie ist für 10 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Die Energie, die für Produktion und Transport der Baustoffe und Rohmaterialien benötigt wird, wird als „graue Energie“ in den Gebäuden gespeichert. Beton gilt als besonders klimaschädlich, da bei der Zementproduktion große Mengen an CO2 freigesetzt werden. Um die Klimaziele des Paris-Abkommens einzuhalten, wird in der Klimabewegung die Forderung nach einer Bauwende lauter.
Weniger ist mehr
Eine der wichtigsten Maßnahmen ist dabei das Prinzip der Suffizienz. Das bedeutet, so wenig wie möglich neu zu bauen. Anstatt sie abzureißen, müssten Bestandsgebäude besser genutzt werden – etwa durch Umbau. Im vergangenen September forderten Architects for Future und andere Gruppen ein „Abrissmoratorium“.
Nachhaltige Materialien
An vielen Stellen lässt sich Beton mit nachhaltigeren Rohstoffen ersetzten, wie zum Beispiel Lehmziegeln oder Holz, das in den letzten Jahren trotz hoher Preise als Baustoff immer beliebter wird.
Kreislaufwirtschaft
Durch Wiederverwendung ließen sich viele Ressourcen einsparen. Derzeit landet ein Großteil der Abbruchmaterialien ungenutzt auf der Halde. Recyclingbeton erreicht eine ähnliche hohe Qualität. Theoretisch ist es möglich, den gesamten Zuschlag durch Betonbruch zu ersetzen. Aufgrund rechtlicher Vorgaben sind derzeit nur maximal 50 Prozent möglich. Eine weitere Idee ist, beim Bau wiederverwendbare Fertigteile zu verwenden, die bei einem Abriss rückgebaut und wiederverwendet werden können.
Bei landwirtschaftlich intensiv genutzten Äckern könne es sogar sein, dass in ausgekiesten Tagebauen höherwertigere Ökosysteme entstehen als vorher, bestätigt BUND-Referent Wessel. Doch selbst dann brauche die Renaturierung Jahrzehnte, im Falle von Waldböden sogar Jahrhunderte. Zeit, die angesichts der Klimakrise nicht bleibt.
Ein effektiver Lösungsansatz wäre es, den Bedarf an Sand und Kies drastisch zu verringern. „Der große Hebel ist die Nachfrage zu senken“, sagt Judith Ottich von Architects for Future. Mit ihrer Gruppe setzt sich die Heidelberger Architektin für mehr Nachhaltigkeit in der Baubranche ein. „Genauso wie eine Energie- oder Verkehrswende brauchen wir eine Bauwende.“ Bauen nur, wenn es nötig ist, nachhaltige Materialien, Kreislaufwirtschaft – all diese Konzepte gibt es, berücksichtigt werden sie in den seltensten Fällen. „Die Auftragsbücher sind gut gefüllt, niemand in der Branche hat Veränderungsdruck“, so Ottich.
Ressourcenschonung spielt in der Baubranche bislang kaum eine Rolle. Da Immobilien als sichere und renditestarke Geldanlage gelten, kommen Bauunternehmer in Großstädten kaum noch der Nachfrage hinterher. Der Abriss von funktionalen Bestandsgebäuden zugunsten von profitablen Neubauten ist gängige Praxis in der Immobilienbranche.
Doch auch der Staat scheint die Problemlage noch nicht begriffen zu haben. 850 Kilometer neue Autobahnen sind im aktuellen Verkehrswegeplan vorgesehen. Auch Großprojekte wie der Tiefbahnhof Stuttgart 21 oder U-Bahn-Neubauten in Berlin und Hamburg sind Zeugnis davon, dass die Endlichkeit der Rohstoffvorkommen in der Planung noch nicht berücksichtigt wird.
Trotz der Vielzahl an Konflikten, zu denen der Sand- und Kiesabbau führt, gibt es bislang kaum überregionales Problembewusstsein. Bürgerinitiativen schaffen es bestenfalls in die lokale Berichterstattung, Einwände werden meist als „Nicht in meinem Hinterhof“-Mentalität abgetan.
In Ottendorf-Okrilla ist es vor allem radikalen Klimaaktivist:innen zu verdanken, die bedrohten Moore in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit zu rücken. „Die Besetzung hat eine ganz neue Dynamik reingebracht“, sagt Elisabeth Lesche. Die Landschaftsarchitektin ist seit einigen Jahren in der lokalen Bürgerinitiative aktiv. Davor habe sich kaum jemand für die Bedenken der Bürgerinitiative, die sich seit über zwanzig Jahren gegen eine Erweiterung des Kieswerks einsetzt, interessiert. Nicht einmal die Dresdener Grünen haben ihre Veranstaltungen besucht.
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Auch wenn Lesche wenig Hoffnung für den Erhalt des besetzten Waldstücks hat, blickt sie optimistisch in die Zukunft. „Weiter-so-wie-jetzt wird es so oder so nicht gehen. Was wir versuchen ist, noch so viel zu retten, wie möglich ist.“
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