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Karlsruhe urteilt zu Corona-AuflagenAusgangssperren bleiben

Das Bundesverfassungsgericht lehnt eine einstweilige Anordnung gegen die Coronanotbremse ab. Öffentliches Nachtleben ist weiterhin untersagt.

Unnötiger Polizeieinsatz: Innenstadt in Hannover ist ist nachts menschenleer Foto: Ole Spata/dpa

Karlsruhe taz | Das Bundesverfassungsgericht hat Eilanträge gegen die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen der Coronanotbremse abgelehnt. Die umstrittene Maßnahme sei „nicht offensichtlich verfassungswidrig“. Eine Folgenabwägung spreche gegen ein sofortiges Außerkraftsetzen des Gesetzes.

Um ein einheitliches Vorgehen gegen die Covidpandemie sicherzustellen, hat der Bundestag Ende April eine Bundesnotbremse ins Infektionsschutzgesetz eingefügt. Sobald in einem Stadt- oder Landkreis der Inzidenzwert drei Tage lang über 100 liegt, treten automatisch strenge Beschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens in Kraft.

Am umstrittensten war die nächtliche Ausgangssperre von 22 Uhr bis fünf Uhr. Nur auf diesen Teil der Bundesnotbremse bezieht sich nun auch der aktuelle Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Geklagt hatten unter anderem die grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram und die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Sie hielten die Ausgangssperre für unverhältnismäßig. Insgesamt entschied der Erste Senat am Mittwochabend über vier Eilanträge.

Die Rich­te­r:in­nen stellten nun fest, dass die Ausgangssperre einen legitimen Zweck verfolge. Sie sei ein „nicht unplausibles“ Mittel, um abendliche private Zusammenkünfte zu unterbinden. Die Kontrolle des Straßenraums sei dabei ein schonenderes Mittel, als wenn die Polizei die Privatwohnungen der Bür­ge­r:in­nen kontrollieren würde.

Ob die Ausgangsbeschränkung geeignet ist, sei zwar umstritten, so Karlsruhe, aber sie sei auch nicht offensichtlich ungeeignet. Außerdem habe der Gesetzgeber hier einen „weiten Einschätzungsspielraum“. Eine genauere Prüfung wollen die Rich­te­r:in­nen im Hauptsacheverfahren vornehmen, das aber Jahre dauern kann.

Auch der zugrundeliegende Inzidenzwert von 100 (Infektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r:in­nen in der Woche) sei nicht offensichtlich ungeeignet, fanden die Richter:innen. Er könne als Indikator für eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems dienen. Das alleinige Abstellen auf den Inzidenzwert sei angesichts der bisherigen Erfahrungen „nachvollziehbar“.

Über den Eilantrag entschied das Gericht nun anhand einer Folgen-abwägung. Die Ausgangsbeschränkungen griffen zwar tief in die Lebensverhältnisse der Bür­ge­r:in­nen ein, seien jedoch durch zahlreiche Ausnahmen gemildert. So sei es möglich, bis 24 Uhr allein zu joggen. Außerdem habe die nächtliche Mobilität auch „keine ganz erhebliche quantitative Bedeutung“. Und schließlich seien die Beschränkungen nicht auf Dauer angelegt. Dagegen sei die Ausgangssperre ein für die Pandemiebekämpfung „bedeutsames“ Instrument.

295 Landkreise über 100er-Inzidenz

Dass das Bundesverfassungsgericht die Eilanträge gegen die Ausgangsbeschränkungen ablehnt, kommt nicht überraschend. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Gericht nur in einer Handvoll Fällen ein Gesetz per Eilantrag vorläufig gestoppt. Allerdings hat die vorgezogene Prüfung der Ausgangsbeschränkungen doch auch gewisse Erwartungen an einen erfolgreichen Ausgang der Anträge geschürt. (Az.: 1 BvR 889/21 u.a.)

Derzeit liegen noch 295 von 412 Stadt- und Landkreisen über dem Inzidenzwert von 100, allerdings bei fallender Tendenz. Wenn ein Kreis fünf Tage lang unter dem Wert von 100 liegt, treten die Ausgangsbeschränkungen automatisch außer Kraft.

Weitere Eilanträge gegen die Bundesnotbremse werden vermutlich schon nächste Woche entschieden. Dann geht es unter anderem um die Frage, ob die Bundesnotbremse verfassungswidrig war, weil sie zunächst ohne Ausnahmen für Geimpfte und Genesene beschlossen wurde. Dabei wird das Bundesverfassungsgericht wohl auch über den Eilantrag von 80 FDP-Abgeordneten entscheiden. Die Chancen stehen aber auch dort nicht gut, weil die Bundesregierung (mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat) bereits in dieser Woche eine Verordnung mit Ausnahmen für Geimpfte beschließt. Das Karlsruher Verfahren hat die Bundesregierung offensichtlich zur Eile angehalten.

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3 Kommentare

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  • Pragmatisch begründet, aber verfassungsrechtlich nicht überzeugend. Karlsruhe bestätigt unfreiwillig mit seiner Begründung die Unverhältnismäßigkeit der nächtlichen Ausgangssperre. Das Gericht stellt fest, dass „die nächtliche Mobilität keine ganz erhebliche quantitative Bedeutung“ habe. Was soll denn dann so eine Maßnahme? Genau. Sie soll „abendliche private Zusammenkünfte unterbinden“. Diese sind allerdings schon durch die Maßnahme der Kontaktbeschränkungen durchgeregelt. Die Ausgangssperre soll also aus einer praktisch unkontrollierbaren Kontaktbeschränkung irgendwie noch eine halbwegs kontrollierbare machen. Damit öffnet man doch die Büchse der Pandora, denn damit werden im Prinzip beliebige Grundrechtseinschränkungen möglich, so sie denn nur in der Praxis die staatlichen Kontrollmöglichkeiten erleichtern. „Der Zweck heiligt die Mittel“ taugt nach meiner bescheidenen Kenntnis nicht zum Verfassungsgrundsatz.

  • Es wäre besser, wenn der Staat so etwas wie eine Ausgangssperre gar nicht implementieren könnte; ob das von Fakten oder Rechte verhindert wird, ist dabei eigentlich egal.

    • @Shaftoe:

      In diesem Sinne ist es völlig angemessen - der Staat versucht hier, die Schwachen (Alte/Kranke) vor möglichen (indirekten) Ansteckungen zu schützen.



      Ihr Vorschlag ist meines Erachtens etwas zynisch angesichts der Vorgänge auf den Intensivstationen in diesem Land.