Verfassungsgericht zum Wahlrecht: Generalabrechnung in Karlsruhe
Grüne, Linke und FDP klagten gegen das aktuelle Bundestagswahlgesetz. Das Bundesverfassungsgericht nutzte das Verfahren für Grundsatzkritik.

Eigentlich ging es um das bislang noch geltende Bundeswahlgesetz, auf dessen Grundlage der derzeitige Bundestag gewählt wurde und das bald wohl noch einmal für eine Wiederholungswahl in Berliner Wahlkreisen zum Einsatz kommt.
Das Gesetz war 2020 von der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD beschlossen worden. 216 Abgeordnete von Grünen, Linken und FDP klagten damals per Normenkontrolle dagegen, weil es die CDU/CSU leicht bevorzuge, indem drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Juristisches Hauptargument der damaligen Opposition war, das Gesetz sei nicht „normenklar“. So sei uneindeutig, ob es um drei Mandate bundesweit oder pro Bundesland gehe.
Grundsatzurteil möglich
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat aus dieser Klage nun eine Generalabrechnung mit allen bestehenden und künftigen Wahlgesetzen gemacht. Der federführende Richter Peter Müller erinnerte daran, dass Karlsruhe schon oft verständlichere Wahlgesetze angemahnt hat.
Jetzt plant er wohl ein Grundsatzurteil, wonach Wahlgesetze immer dann gegen das Demokratieprinzip verstoßen, wenn Bürger:innen sie beim Lesen nicht verstehen. Schließlich verwirkliche sich im Demokratieprinzip die Menschenwürde, weil es Selbstbestimmung ermögliche. „Aber wo ist die Selbstbestimmung, wenn ich mir das Wahlrecht erst von einem Anwalt erklären lassen muss?“, fragte Richter Müller.
Viele hatten sich von der Karlsruher Verhandlung über das Wahlgesetz offene oder versteckte Randbemerkungen zum neuen, im März beschlossene Wahlgesetz erhofft. Dort war der Bundestag auf Kosten von Direktmandaten verkleinert worden und außerdem zu Lasten der Linken und der CSU die Grundmandateklausel gestrichen worden. Doch in den ersten Stunden spielte das keine Rolle. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht mit Müllers Ansatz Ernst macht, dann ist kein Wahlgesetz in Bund und Ländern mehr verfassungskonform. Alle Wahlgesetze müssten neu beschlossen werden.
Rechtsprofessor Bernd Grzeszick, der den Bundestag vertrat, zeigte sich erstaunt. Die Bundestagswahl 2021 sei doch problemlos verlaufen (außer in Berlin, doch das hatte andere Gründe). Alle hätten grob gewusst, wie die Wahl funktioniert: dass es Stimmen für die Partei gibt und Stimmen für die Wahlkreisbewerber:innen. Alle technischen Details, wie die Stimmen dann im Mandate umgerechnet werden, interessierten die meisten Bürger:innen doch überhaupt nicht. Solche Normen richteten sich nur an die Wahlbehörden.
Warnung vor „populistischen Missverständnis“
Für die Bundesregierung stimmte Rechtsprofessor Heinrich Lang zu. „Wer liest schon Paragraf 6 des Bundeswahlgesetzes, bevor er wählen geht?“ Auch er hielt es für ausreichend, wenn die Bürger:innen die Grundzüge des Wahlrechts verstehen.
Die geladenen Sachverständigen warnten das Verfassungsgericht ebenfalls. „Die Laienperspektive ist im Wahlrecht wenig geeignet“, sagte Martin Morlok, der jahrzehntelang führende deutsche Wahlrechtler. Die Umsetzung von Millionen Stimmen in konkrete Mandate setze nun mal komplizierte mathematische Verfahren voraus.
Rechtsprofessor Emanuel V. Towfigh wurde grundsätzlich: „Die Rechtslage ist in einer modernen Gesellschaft notwendigerweise komplex.“ Die Gesetzgebung könne nicht so simpel sein, dass alle Bürger:innen sie verstehen. Wenn es darauf ankomme, müsse man sich eben beraten lassen. Er warnte vor dem „populistischen Missverständnis“, dass eine abgehobene Juristenkaste die Bürger:innen an den Rand schiebe.
Im Lauf der Verhandlung zeigte sich jedoch, dass Richter Müller im Zweiten Senat breit unterstützt wird. Das Urteil wird in einigen Wochen verkündet.
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