Jüdische Community in Sachsen-Anhalt: Aufbruch trotz Sorgen
Mit zwei neuen Synagogen blickt die jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt in die Zukunft. Doch der offene Antisemitismus und die AfD verunsichern.
Inhaltsverzeichnis
Matviyets kandidiert zur Landtagswahl für die SPD und ist Jude. Mit sieben Jahren kam der junge Mann aus der Ukraine nach Deutschland, lebt heute in Halle. Zwar sind seine Chancen eher gering, doch zöge er tatsächlich in den Landtag ein, wäre Matviyets dort einer der sehr wenigen Migranten. Gesellschaftliche Vielfalt ist ihm wichtig, er wirbt für bessere Bildungspolitik, einen günstigen öffentlichen Nahverkehr.
Jetzt eilt Matviyets zu einer Menschenkette, die hunderte Aktivist*innen unter dem Motto „Unteilbar“ für mehr Solidarität formen wollen. Vor ihm läuft seine Parteivorsitzende Saskia Esken, auch sie ist nach Halle gekommen. „Igor, ich hab' ein Anliegen“, ruft da eine Passantin Matviyets zu. Und der nimmt sich wieder die Zeit – Esken ist mittlerweile sowieso kaum noch einzuholen.
Die Passantin beklagt den Zustand der ehemaligen Trauerhalle am jüdischen Friedhof in Halle. Die Nazis zerstörten die Davidstern-Fassade des in den 1920ern gebauten Hauses, heute zerfällt das Gebäude. Das müsse sich ändern, findet die Bürgerin. „Genau dafür kämpfe ich!“, reagiert Matviyets begeistert.
„Brücken bauen, von Halle in die Welt“
Das Haus solle restauriert, die lange jüdische Geschichte der Stadt wieder sichtbarer werden. Matviyets kommt ins Schwärmen: Der Architekt des Hauses, Wilhelm Haller, zog nach seiner Flucht vor den Nazis 1933 in das noch junge Tel Aviv, baute die Mittelmeermetropole mit auf. Die restaurierte Trauerhalle wäre ein Zeichen der Vielfalt in der Stadt und würde Verbindungen schaffen, ist Matviyets überzeugt. „Ich will Brücken bauen, von Halle in die Welt.“
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind indes komplizierter, das weiß Matviyets auch. Der Antisemitismus grassiert. Das treibt in Sachsen-Anhalt, und darüber hinaus, alle jüdischen Gemeinden um. Erst vor einer Woche wurde ein Kippa-Träger in Magdeburg auf offener Straße angegriffen. Zuvor gab es in Halle Demonstrationen gegen Israel. Teilnehmer versuchten eine Israel-Flagge zu verbrennen, die Polizei konnte es verhindern.
Und es ist nicht die erste Krise. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist zu Jom Kippur die Synagoge in Halle zu stürmen. Er scheiterte an der Eingangstür, erschoss daraufhin eine Passantin und einen Gast in einem nahen Imbiss. Es war ein Schock, der international Wellen schlug.
Max Privorozki, Gemeindevorsteher in Halle, war am Tag des Anschlags in der Synagoge. „Die Tat wird hier niemand vergessen“, erzählt er. Und dennoch sei das bestimmende Thema in der Gemeinde zuletzt ein anderes gewesen: die Coronapandemie. Mehrere Feiertage hätten nur digital stattfinden können, acht Gemeindemitglieder seien an der Krankheit gestorben, klagt Privorozki. „Das hat uns heftig getroffen.“
Land unterstützt Sicherheitsmaßnahmen
Dabei wird jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt gerade wieder sichtbarer. Gut 1.200 Gemeindemitglieder zählt das Land, viele von ihnen kamen aus Osteuropa. Momentan begeht auch Sachsen-Anhalt das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Noch wichtiger: In Dessau und Magdeburg entstehen zwei neue Synagogen. Zudem schloss das Land Ende 2020 eine Sicherheitsvereinbarung mit den jüdischen Gemeinden: Das Land übernimmt nun für die nächsten fünf Jahre komplett deren Sicherheitsmaßnahmen, zahlt für Wachpersonal und Umbauten.
Privorozki lobt den Schritt: „Das ist ein sehr guter Vertrag. Aber wir haben auch sehr viel nachzuholen an Sicherheitsmaßnahmen. Seit der Wende ist da im Grunde nichts passiert.“ Auch Matviyets betont, wie wichtig solche Konzepte sind. „So gerne ich offene Synagogen in Deutschland hätte: Die Tür der Synagoge in Halle ist verschlossen, und wir haben gesehen, wie gut das war.“
Das Land will zudem den Kampf gegen den Antisemitismus stärken. Ein entsprechendes Landesprogramm wurde initiiert, Recherchestellen gefördert, Bildungsprogramme sollen folgen. Matviyets freut das, ein überfälliger Schritt sei es. Aber all zu große Illusionen macht sich der SPD-Kandidat nicht: „Da, wo es diese Programme gibt, ist der Antisemitismus sicher nicht verschwunden.“
In Dessau soll es über Sicherheitsmaßnahmen hinausgehen. Dort wird in Kürze das Fundament für die neue Synagoge gegossen, ein lichtdurchfluteter Rundbau, der 90 Gläubigen Platz bieten soll. 1,7 Millionen Euro soll der Bau kosten und bereits im Mai 2022 eröffnet werden. „Es ist unser Traum, dass das klappt“, sagt Gemeindevorsteher Alexander Wassermann.
Zwei neue Synagogen
Noch etwas größer soll die Synagoge in Magdeburg werden. Hier erhielt die Gemeinde vor drei Wochen den Zuwendungsbescheid des Landes über 2,8 Millionen Euro. Die Vorplanungen stehen, bis 2023 soll die Synagoge in der Innenstadt stehen – nahe des Standorts des früheren Gebetshauses, das 1938 von den Nationalsozialisten zerstört wurde und das die Gemeinde danach auf eigene Kosten abreißen musste. Auch hier sagt Gemeindevorsteher Wadim Laiter, seine Gemeinde sei „unendlich dankbar“ für die Förderung: „Der Synagogenbau ist eine Anerkennung, dass wir hier sein dürfen.“
Die Spitzenkandidat*innen in Sachsen-Anhalt
Mit der Landespolitik zeigen sich Laiter, Wassermann und Privorozski denn auch zufrieden. „Das jüdische Leben wird in Sachsen-Anhalt gefördert, es gibt einen engen Draht zur Landesregierung“, sagt Laiter.
Doch es bleiben auch Probleme. Eines weist ebenfalls in die Zukunft: Den Gemeinden fehlt der Nachwuchs. Viele Gläubige sind Senior*innen, die Jungen wandern ab – so wie andere Sachsen-Anhalter*innen auch. Würde es bessere Arbeit in Sachsen-Anhalt geben, würden auch die jungen Gläubigen bleiben, sagt Gemeindevorsteher Laiter. Er sei aber optimistisch, dass sich die Gemeindegrößen durch Zuzüge hielten.
Andere Probleme kommen von außen. Nicht vergessen ist der frühere Innenminister Holger Stahlknecht, der öffentlich aufrechnete, dass die Arbeitsstunden der Polizei für den Schutz jüdischer Einrichtungen im Land anderswo fehlten. Und Larissa Korshevnyuk, Vorsitzende der liberalen Gemeinde in Magdeburg, beklagt, dass ihre Gemeinde nicht am neuen Synagogenbau in der Stadt beteiligt wurde und die Stadt keine Kosten für Beerdigungen von mittellosen, alleinstehenden Gläubigen auf dem jüdischen Friedhof übernehme. „Hier haben die Stadt und das Land Probleme nicht gelöst.“
„Eine Anerkennung, dass wir hier sein dürfen“
Die größte Sorge aber ist der Antisemitismus. 87 antisemitische Straftaten zählte Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr – auch nach dem Schock des Halle-Anschlags. Mit den jetzigen Anti-Israel-Protesten verschärfe sich die Lage erneut, klagt der Hallenser Gemeindevorsteher Max Privorozki. „Das Sicherheitsgefühl ist wieder angeschlagen.“ Der Konflikt Israels mit der Hamas sei dabei aber nicht die Ursache, sondern nur der Katalysator für den bestehenden Antisemitismus in der Stadt und im Land.
Privorozki kritisiert hier auch die Politik: Deren Integrationspolitik versage, die Foren gegen Antisemitismus blieben wirkungslos. Dabei gefährde der Hass die gesamte Demokratie. „Die Politik sollte weniger sagen und mehr tun“, findet Privorozki. „Es ist ganz einfach: Alle bestehenden Mittel gegen den Antisemitismus müssen voll ausgeschöpft werden.“
Diese Probleme kennt auch Zohar Lioz Aviv. Auch der junge Israeli steht auf der Unteilbar-Demo am Samstag in Halle. Der trans Mann kam vor einigen Jahren aus Tel Aviv in die Stadt. In der alternativen Szene hier fühlt er sich wohl – sie ist wie er.
Doch auch hier spürt Aviv immer wieder Konflikte. „Manchmal fühle ich mich wie der Botschafter Israels“, erzählt er. Und das als Linker. Als jemand, der sich stets einen politischen Wechsel in seiner Heimat wünschte, weg von der Netanjahu-Regierung. Aber die Einseitigkeit, mit der viele den Konflikt in Israel wahrnehmen, auch unter Linken, ärgert ihn. „Wieso sind die vielen Raketen, die auf meine Familie geschossen werden, für viele nicht relevant?“
„Ich habe Angst, dass die Leute merken, dass ich Israeli bin“
In den letzten Wochen fühlt Aviv sich immer wieder unsicher, die antiisraelischen Proteste besorgen ihn. „Ich habe Angst, dass die Leute merken, dass ich Israeli bin“, erzählt er. Wenn er heute durch Halle läuft und Nachrichten auf hebräisch liest, achtet er darauf, dass niemand seinen Handy-Bildschirm sehen kann. „Ich glaube nicht, dass Menschen mit anderer Nationalität ihre Sprache verstecken müssen, wenn sie durch die Stadt laufen“, bedauert Aviv nachdenklich.
Ganz neu sei das Gefühl der Unsicherheit leider nicht. In seinem Sprachkurs, wo er vor allem mit syrischen Geflüchteten saß, verheimlichte er seine geschlechtliche Identität, wegen seines Herkunftslands war die Stimmung zumindest anfangs etwas angespannt. Trotz allem fühlt Aviv sich in Halle weitestgehend wohl, er kann sich vorstellen zu bleiben. Erstmal, zumindest.
Empfohlener externer Inhalt
Die Parteien versprechen der jüdischen Community vor der Landtagswahl ihre Unterstützung, sagen dem Antisemitismus den Kampf an. SPD und Grüne wollen den Ansprechpartner der Landesregierung für die jüdischen Gemeinde zu einem Antisemitismusbeauftragten aufwerten, die SPD zudem landesweite jüdische Kulturtage einführen. Die CDU betont ihre Unterstützung für die Synagogenbauten. Einzig die AfD äußert sich in ihrem Wahlprogramm gar nicht zur jüdischen Community.
Die Gemeindevorsteher halten ohnehin Abstand zu der Rechtsaußen-Partei. Wadim Laiter erinnert an die Relativierung der NS-Gräuel als „Vogelschiss“ oder verharmlosende Äußerungen zum Halle-Anschlag. „Das haben wir genau registriert. Ich kann die AfD beim besten Willen nicht als demokratische Partei beschreiben.“ Bei der Wahl hoffe er deshalb auf „Vernunft“, sagt Laiter. Sollte die AfD aber tatsächlich einmal an die Macht kommen, könne er sich keine Zukunft mehr in diesem Land vorstellen.
Auch Matviyets beunruhigen die Wahlumfragen, der absehbare Erfolg der AfD. Er könne jeden verstehen, den es verunsichere, wenn ein Viertel der Wähler*innen die Stimme für Rechtsextreme abgebe. Aber aufgeben will er keineswegs. „Mein Ventil ist der Kampf nach vorne“, sagt er.
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