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Journalist Dirk GieselmannSchönschreiberitis

Ein Journalist pfuscht bei Reportagen, drei große Medienhäuser beenden die Zusammenarbeit. Der Fall spielt aber nicht in der Liga „Relotius“.

Autor*innen wählen zwischen Aufnahmen aus – aber das Motiv können sie nicht erfinden Foto: Mihaela Ninic/plainpicture

„Begreifen Sie sich als Kamera“, heißt es in der Journalismusschule, wenn es um die Reportage geht. Film-Metaphern sind beliebt bei Dozent*innen, die diese anspruchsvolle Textform unterrichten. Das Bild von der Kamera hilft auch beim Nachdenken über den Wahrheitsanspruch. Die Kamera ist nicht objektiv, sie ist subjektiv, weil sie geführt wird – und kann doch nur aufnehmen, was da ist.

Denn es geht wieder ein Fälschungs-Gespenst um im Qualitätsjournalismus. Ende Februar kam heraus, dass das SZ-Magazin die Zusammenarbeit mit dem freien Journalisten Dirk Gieselmann beendet (die taz berichtete). Gieselmann hatte in einem Text eine wichtige Protagonistin erfunden. Das flog auf, als man die Frau fotografieren wollte. Inzwischen haben auch Spiegel Online und nun auch die Zeit Unstimmigkeiten bei Texten des Autors festgestellt. Darüber berichtete am Mittwoch das Branchenportal Meedia – und rückt den Fall begrifflich in die Nähe des Relotius-Skandals, spricht von einem „offensichtlich gestörten Verhältnis zur Wahrheit“ bei Gieselmann. Was hat er also getan?

Der Journalist hat offenbar immer wieder mal Szenen ausgeschmückt, sie angereichert durch Aspekte, die so nicht stimmen. Im Einstieg zu einer umfangreichen Recherche, die auf Zeit Online erschienen ist, hat die Redaktion inzwischen einzelne Sätze entfernt. So wurde eine zeitliche Abfolge korrigiert, die Szene spielt statt „Im Februar“ nun „Ende März“. Die Beschreibung einer Fensterscheibe, an der das Wort „Happy“ geschrieben steht – gelöscht.

Schwerer wiegt eine Stelle, wo Zitate eines Geflüchteten aus Bautzen offenbar korrigiert werden mussten. Früher sagte der junge Mann dort den Satz „Wir sind den Nazis ausgeliefert“. Das sagt er nun nicht mehr. In der Stellungnahme unter dem Text spricht die Redaktion von „Trans­kriptionsfehlern“.

Absurder Vergleich

Die Liste von Korrekturen geht weiter, immer wurden Szenen ein wenig zurechtgebogen. Eine Änderung der Zeitfolge hier, ein „Verdichten“ da, ein Dazudichten eines Requisits dort. Es sind aber auch Nichtigkeiten dabei: In einer Restaurantkritik wurde die „Pfauenfeder“, die dort die Wand zieren soll, zu einer schlichten „Feder“ herabgestuft.

Gieselmann war am Mittwoch nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Die Zeit schreibt in ihrem Blog „Der Autor hat uns selbst kontaktiert, um auf den Vorfall bei der Süddeutschen Zeitung hinzuweisen, und uns bei der Überprüfung aktiv unterstützt.“ Er beteuere, die Fehler seien „ohne Täuschungsabsicht entstanden“.

Die Art der Federist unerheblich,die erfundene Protagonistin nicht

Was Gieselmann getan hat, reicht fraglos aus, um das Vertrauen zu verspielen, das man als Autor genießt. Kein Redakteur und keine Factcheckerin wird einen Text bis auf die Pfauenfeder hin prüfen oder sechzehnjährige Geflüchtete ausfindig machen können. Deshalb müssen Redaktionen sich darauf verlassen können, dass alles, was in journalistischen Texten steht, auch stimmt. Die Art der Feder ist unerheblich, die erfundene Protagonistin nicht. Deswegen ist richtig, dass sich die Medien hier distanzieren und die Zusammenarbeit aufkündigen.

Gleichzeitig ist jeder Vergleich mit dem Fall Relotius absurd. Dort ging es um systematisches Ausdenken ganzer Landschaftsformationen, Gebäude und Menschen, und das über Jahre. Das Beschönigen, das Ausschmücken und „Verdichten“ von Realität hingegen ist eine schlechte Angewohnheit allgemein. Im Dienste der Schönschreiberei werden derlei Kniffe verteidigt, auch von denen, die Reportage unterrichten.

Dabei ist den Leser*innen mehr geholfen, wenn man Schwierigkeiten bei der Wahrheitssuche offenlegt, anstatt kunstvoll über sie hinwegzutäuschen – im Sinne der Kamera, die zwar den Blick führt, aber keine Menschen verdichtet. Diese Debatte ist von unschätzbarem Wert für den Journalismus. Aber sie muss sich an der Branche insgesamt abarbeiten, statt Einzelpersonen zu Bösewichten hochzustilisieren.

In einer früheren Version dieses Textes stand, dass der Medienwissenschaftler Michael Haller das Verschmelzen von Personen in der Reportage gutheiße. Das ist nicht der Fall. Der Autor hat eine entsprechende Äußerung in einem taz-Interview mit Haller missverstanden.

In der taz ist 2017 ein kurzer Text von Dirk Gieselmann erschienen. Dieser wurde überprüft und ist unbedenklich.

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