Israelisches Krankenhaus an der Front: Retten, trauern, warten
Die Ärzte im Barzilai-Krankenhaus in Aschkelon behandeln die Opfer der Hamas-Massaker. Und sie warten auf Verwundete der Bodenoffensive.
Hier im Krankenhaus werden dann die Verwundeten ankommen. Darauf will die 35-Jährige vorbereitet sein. „Wir gehen immer wieder den Ablauf durch, was bei welchen Verletzungen zu tun ist“, sagt sie.
Diesmal soll es besser laufen als am Samstagmorgen vor rund zwei Wochen. Sie habe gerade nach der Nachtschicht an einen Kollegen übergeben, als plötzlich die Sirenen heulten und ein Krankenwagen nach dem anderen Verletzte brachte: Kopfschüsse, klaffende Wunden, Kugeln in Lunge, Leber, Milz, abgerissene Gliedmaßen. Ein „Meer aus Verletzten“, erinnert sich die Chirurgin. „Alle waren extrem unter Stress“, sagt Ilena Markmann, der die Müdigkeit anzusehen ist. Und noch immer beschäftige sie, ob sie für die Verwundeten richtig entschieden habe. „Wir alle haben traumatische Szenen erlebt.“
An Durchatmen oder Verarbeiten ist jedoch kaum zu denken: Noch immer fliegen Raketen aus Gaza auf israelische Städte, heulen die Sirenen, bombardiert die israelische Luftwaffe Ziele in dem Küstenstreifen. 360.000 Reservisten hat die israelische Armee mobilisiert und scheint entschlossen zu sein, die Verstecke der Hamas in Gaza mit einer Bodenoffensive auszuheben. Mehr als 200 Israelis befinden sich als Geiseln in der Gewalt der radikalislamistischen Gruppe und ihrer Verbündeten. Die Folge könnte eine Eskalation des Konfliktes mit der Hisbollah im Libanon oder sogar darüber hinaus sein.
Die Hamas-Kämpfer gesehen
„Ich bin unter Schock“, sagt Markmann. „Ich verstehe noch nicht, in was wir da geraten sind.“ Ob es Psychologen für sie im Krankenhaus gibt? „Viele, aber keine Zeit“, sagt sie und lächelt müde. „Ich weiß, jetzt ist nicht der Moment, darüber nachzudenken.“
Neben ihr in der Eingangshalle der Notaufnahme steht ihr Kollege, der Assistenzarzt Assaf Osan. Er schläft wie viele im Krankenhaus, seit er vor zwei Wochen bewaffnete Hamas-Kämpfer aus dem Fenster seiner Wohnung im nahen Sderot sah und Schüsse hörte. Zwei Tage lang versteckte er sich mit seiner Familie zu Hause.
Ilena Markmann, Chirurgin
Jetzt wohnen seine Frau und seine drei Kinder im Norden Haifas. Fast zwei Wochen sind seit dem Angriff vergangen, doch die Bilder aus der Notaufnahme verfolgen ihn. „Ich war zwölf Jahre lang Sanitäter, bevor ich Arzt wurde. Ich habe viele Terroranschläge gesehen“, sagt er. „Aber diese Brutalität noch nie.“
Im Barzilai-Krankenhaus ist der nahe Krieg überall sichtbar: Zweimal haben Raketen den Komplex direkt getroffen und eine Abteilung komplett, eine andere zum Teil zerstört. Ein Geschoss zerstörte das Kinderrehabilitationszentrum, das zu diesem Zeitpunkt bereits geräumt war. Im Innenhof liegen Schutt und Spielsachen, die Wände sind von Kratern und Löchern gezeichnet. Zwei Menschen überlebten im Schutzraum des Hauses. Die zweite Rakete traf einen Innenhof des Hauptgebäudes. Die Glasfassade des mehrstöckigen Krankenhauses ist von Schrapnellen weiterer Raketen gezeichnet, die in der Nähe einschlugen.
Auf den Sofas im Eingangsbereich sitzen junge Soldatinnen und Soldaten, die Waffen griffbereit neben sich. Der Assistenzarzt Osan sagt, er hoffe, dass die Armee nach Gaza gehe. Es müsse eine Lösung her für diesen Ort. Seine sechs und zehn Jahre alten Kinder wüssten genau, was bei einem Luftalarm zu tun sei. „Es ist unmöglich, weiter so zu leben.“ Wie die Lösung aussehen könnte? Osan zuckt die Schultern.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Abseits der Rettungswagen haben Freiwillige ein Buffet für das Personal aufgebaut. Kostenlos geben sie Mittagessen, Sandwiches und Kaffee aus. „Viele können einfach nicht mehr zu Hause sitzen, sie wollen etwas tun“, sagt Tal Ovadia, auf dessen blauer Weste in großen Buchstaben „Sozialarbeiter“ steht. „Wir hören die Sirenen und die Explosionen der Bomben drüben in Gaza. Wir sind im Überlebensmodus.“ Sein Team sei für alle ansprechbar, egal ob Patienten oder Personal. Die Arbeit sei nötig: Viele Menschen hätten Angehörige oder ihr Zuhause verloren oder kämen mit Angstreaktionen. Außerdem hätten sie eine Vermisstenstelle eingerichtet. „Es ist gar nicht die Menge der Menschen, die uns zu schaffen macht, sondern was sie uns erzählen“, sagt Ovadia. Es gebe Geschichten wie aus Horrorfilmen. Zusätzlich seien alle in seinem Team selbst betroffen oder hätten Freunde, die jemanden vermissen oder verloren haben, sagt der 43-Jährige. Gemeinsam seien sie bei der Beerdigung des Sohnes einer Mitarbeiterin gewesen. Eine andere, die in einem Kibbuz nahe Gaza lebt, habe mit anhören müssen, wie Hamas-Terroristen im Nachbarhaus eine ganze Familie erschossen. „Und trotzdem arbeiten alle weiter.“
Die Bodenoffensive nach Gaza mache ihn nervös, sagt Ovadia, auch weil sie noch mehr Arbeit bedeuten werde. Viele Kollegen hätten Kinder und Angehörige in der Armee. Viele hätten Angst und wüssten nicht, was sie tun könnten. „Aber wir sind hier, was auch immer kommt.“
Angst haben in Israel derzeit auch viele arabische Israelis. Sie machen etwa 18 Prozent der Bevölkerung aus und viele sehen sich selbst als Palästinenser. Dass jüdische Stimmen angesichts des Hamas-Terrors von einem neuen Holocaust und palästinensische angesichts der israelischen Reaktion in Gaza von einer neuen Nakba sprechen, wie Palästinenser die Massenvertreibung im Krieg nach der Staatsgründung Israels nennen, bereitet vielen Sorge.
Was die Hamas getan hat, könnte verändern, wie manche Leute arabische Menschen in Zukunft sehen würden, glaubt auch Mohammed Abu Hammed, arabisch-israelischer Medizinstudent und Praktikant in der Anästhesie am Barzilai-Klinikum. „Das gilt besonders für Menschen um Gaza, die am schlimmsten getroffen worden sind.“
Bisher habe er davon im Krankenhaus aber zum Glück noch nichts gemerkt, sagt der 26-Jährige. Stattdessen habe er sich schon am Sonntag nach dem Angriff gegen den Willen seiner Eltern ins Auto gesetzt und sei die 90 Kilometer von Arad nach Aschkelon zur Arbeit gefahren, bewaffnete Terroristen und Raketen hin oder her. „Sie brauchten Leute hier, also habe ich seitdem jeden Tag gearbeitet.“
Jetzt sitzt er mit zwei arabischen Kollegen auf der Terrasse im ersten Stock des Krankenhauses, nahe der Türe nach drinnen. Die Anspannung ist spürbar. Immer wieder heulen die Sirenen, manchmal kämen die Explosionen der Raketen sogar vor dem Alarm.
Was sie über die angekündigte Bodenoffensive denken? „Sie ist schrecklich“, sagt Mohammed Abu Hammed, „aber sie ist auch eine Reaktion auf das, was vorher geschehen ist. Ich wünschte, wir hätten alles früher verhindern können.“ Jetzt gebe es keinen Weg mehr zurück. Sonst sei Politik bei der Arbeit aber kaum ein Thema. Auch über den tödlichen Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza am Dienstagabend habe er bisher mit niemandem gesprochen.
„Persönlich denke ich, es ist traurig, dass Ärzte solchen Gefahren ausgesetzt sind, egal von welcher Seite“, sagt Abu Hammed. Egal ob in Gaza oder Aschkelon sei es seine Aufgabe, Menschen zu helfen und Leben zu retten. Unter den Kollegen seien sie sich einig, dass die Gewalt aufhören müsse.
Zwei Stockwerke tiefer geht Ilena Markmann Regeln zur Triage durch, das Sortieren von Verletzten, wenn nicht ausreichend Personal für alle verfügbar ist. Auch für sie ist ihre Verpflichtung als Ärztin klar: „Wir müssen jeden behandeln, da gibt es keine Wahl.“ Bis vor dem Krieg galt das im Barzilai-Krankenhaus regelmäßig auch für Palästinenser aus Gaza, die wegen schwerer Krankheiten eine seltene Sondererlaubnis bekommen hatten.
Ob das in Zukunft noch einmal der Fall sein könnte, nach allem, was passiert ist? Zukunft sei jetzt nicht die Frage, sagt sie. „Wir müssen jetzt im Moment sein und unser Bestes tun.“ Aber sie wünsche sich, dass ihre Kinder den Krieg nicht mehr erleben müssen. „Dass sie nie erfahren müssen, wie viele Tote wir gesehen haben. Und dafür werde ich alles tun.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen