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Interview zum Film „Afwaah“„Ich sehe das Feminine in mir“

Der indische Regisseur Sudhir Mishra über ethnoreligiöse Gewalt in Indien, Filmzensur und das Monster der sozialen Medien in seinem Film „Afwaah“.

Filmstill aus dem Film „Afwaah“ Foto: Benaras Media Works/Netflix
Sven Hansen
Interview von Sven Hansen

wochentaz: Herr Mishra, Ihr jüngster Film „Afwaah“ zeigt einen hindunationalistischen Jungpolitiker, der soziale Medien missbraucht, um Muslime für das Ende der Beziehung zu seiner Verlobten verantwortlich zu machen, und so Unruhen auslöst. Wie waren die Reaktionen auf den Film?

Sudhir Mishra: Die meisten haben sich gefragt, wie es der Film durch die Zensur geschafft hat, und wundern sich, dass ich nicht verprügelt wurde. Nur wenige hätten das Risiko dieses Films auf sich genommen. Doch scheint Indien freier zu sein als gedacht.

Der Film beweist das?

Zweifellos haben manche Filmproduzenten politische Probleme. Aber Indiens Kino zeigt doch ein treffenderes Bild des Landes. Wir haben Rechtsextremisten, doch auch die Rechten sind nicht homogen. Der Film zeigt einen Politiker, der seiner Partei gefallen will, und dabei geraten Dinge außer Kontrolle. Ich zeige eine Gefahr, die in allen Parteien besteht und die zum Beispiel religiöse oder auch geschlechtsspezifische Gründe haben kann. Frauen leiden unter sozialen Medien wie unter ethnoreligiöser Gewalt am meisten. Sind Gefühle stärker als der Verstand, wird es gefährlich und kann als Bumerang auf die Urheber zurückfallen wie im Film. Auch rechte Parteien leiden, wenn das von ihnen losgelassene Monster auf sie zurückschlägt.

Ist in Indien ethnoreligiöse Gewalt alltäglich?

Bild: Sven Hansen
Im Interview: Sudhir Mishra

64, ist einer der bekanntesten linken Regisseure, Filmemacher und Drehbuchautoren in Mumbai. Er hat seit 1982 rund 20 Filme produziert, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und schreckt nicht vor politisch heiklen Themen zurück.

Afwaah“ (Gerücht) ist Mishras neuester Film. In dem Politthriller gerät ein muslimischer Werbeguru in den Familienkrach eines ehrgeizigen hindunationalistischen Jungpolitikers. Dessen Social-Media-Team erfindet darauf eine Entführungsversion, die zum Flächenbrand wird. (HAN)

Sie passiert gelegentlich, ausgelöst von gefährlichen Elementen am rechten Rand. Für mich zählen Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz. Mein Film ist kein Realismus, sondern mischt Satire, Thriller, Dokumentarfilm und Moralgeschichte. Am Ende stirbt derjenige, der das Gerücht verbreitet hat, als Folge des Gerüchts. Auch zeige ich, dass wir in Blasen leben und nicht mit Menschen aus anderen Blasen reden. Auch die Hauptperson, zufällig ein Muslim, lebt in so einer Blase. Er glaubt, dass sie ihn schützt, doch sperrt sie ihn aus. Und der Killer denkt, er dient seinem Herren, wird aber von ihm verlassen. Soziale Medien agieren dabei als Monster, das außer Kontrolle gerät.

Warum hatten Sie keine Zensurprobleme?

Ich habe den Zensoren Fakten präsentiert und sie aufgefordert, mir Fehler nachzuweisen. Das konnten sie nicht.

Und warum lief der Film in Indien nur in wenigen Kinos?

Das ist normal, wenn man keinen Film für Indiens breite Massen mit viel Tanz und Gesang macht. Auch mögen beim Vertrieb Ängste mitgespielt haben. Es gab sehr viele Rezensionen.

Wie macht sich der Film finanziell?

Der Produzent hat die Kosten wieder reinbekommen, und jetzt läuft der Film sehr gut auf Netflix. Ich bin froh, dass ich den Film gemacht habe, dass er erscheinen konnte und jetzt gestreamt wird. Es geht ja nicht nur um mich, sondern darum, dass junge Filmemacher ermuntert werden, dass auch sie in Indien so einen Film machen können.

Die Beschränkungen unter der hindunationalistischen Regierung sind nicht so schlimm?

Indien ist sehr kompliziert, es gibt sehr unterschiedliche Kräfte und viele Widersprüche. Ich liebe die Idee von Indien. Es ist wie Europa, bevor Europa als Europa geschaffen wurde. Wir haben viele gute wie schlechte Dinge. Ich habe keine Hemmungen, schlechte Dinge anzusprechen. Aber ich bin kein Sensationalist, kein Pessimist und ich will Indien auch nicht verlassen. Wir haben brillante Leute und auch Phasen, deren Ende wir herbeisehnen. Manchmal ist das Licht am Ende des Tunnels ein entgegenkommender Zug, manchmal das Tageslicht. Ich habe 2004 den einzigen Politfilm über den Ausnahmezustand in den 1970er Jahren gemacht. Mir wurde vorgeworfen, ich sei gegen die Kongresspartei, dabei war ich gegen die Diktatur.

Sie sind Enkel eines früheren Ministerpräsidenten von Madhya Pradesh. Erklärt das Ihr Interesse an Politik?

Mein Großvater mütterlicherseits kämpfte für Indiens Unabhängigkeit, war später kurz Ministerpräsident und wandte sich beim Ausnahmezustand in den 1970er Jahren frustriert von der Kongresspartei ab. Ich sah aus der Nähe, wie ekelhaft Macht funktioniert. Mein Vater war Mathematikprofessor und brachte mir Kinofilme nahe.

Wie wirkt sich Ihr Psychologiestudium auf Ihre Filme aus?

Ich verstehe Frauen wohl besser als andere Filmemacher. Auch sehe ich das Feminine in mir. Viele teilen die Welt in Schwarz und Weiß. Ich sehe, dass auch ein guter Mensch ein schlechter werden kann und umgekehrt. Niemand ist ein Held auf Dauer, sondern nur für begrenzte Zeit.

Sie bezeichnen sich als Außenseiter mit guten Beziehungen zu mächtigen Leuten. Verhilft das zu mehr künstlerischer Freiheit?

Ich bin das Produkt der Gnade einiger Leute. Als ich als 22-Jähriger nach Bombay kam, gaben mir verschiedene Leute einschließlich solche mit rechten Einstellungen eine Chance, ohne meine Herkunft zu kennen. Ich vertraue Menschen und weise sie nicht von vornherein zurück.

Aus Protest gegen die hindunationalistische Kulturpolitik haben manche Autoren und Künstler ihre Auszeichnungen zurückgegeben. Sie auch?

Mich haben Freunde auch dazu aufgefordert, darunter derjenige, der mir den ersten Job gab. Aber ich lehne das ab. Es ist mangelnder Respekt gegenüber der Jury, die mich ausgezeichnet hat. Regierungen und Parteien mögen sich ändern, aber ich habe der Organisation vertraut, die mich auszeichnete. Durch die Auszeichnung kam ich mit anderen ins Gespräch. Warum sollte ich darauf verzichten?

Ist die Zurückgabe einer Auszeichnung kein wichtiges Symbol?

Das stoppt nur die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Als Filmemacher hören mir Menschen zu, indem sie meine Filme sehen und hinterher vielleicht sagen, ich habe einen Punkt getroffen. Als Vollzeitaktivist hören sie mir nicht zu, sondern stecken mich in eine Schublade.

Haben antimuslimische Filme wie „The Kashmir Files“ das politische Klima in Bollywood verändert?

Liberale Linke machen den Fehler, manche Probleme anderen politischen Kräften zu überlassen, die diese dann übertrieben darstellen wie im Film „The Kashmir Files“. Der zeigt die Vertreibung von Hindus durch Muslime in Kaschmir. Ich mag den Film nicht. Aber die Antwort darauf können nur andere Filme dazu sein. Die Linke reagiert manchmal zu arrogant wie gegenüber einer niederen Kaste. Jemand mit anderen Ansichten wird abgelehnt, Ende der Diskussion. So drückt sich die Linke oft um wichtige Debatten.

Pusht die hindunationalistische Regierung in Bollywood ihre Ansichten und unterdrückt andere?

Es gab eine solche Phase, die ist aber vorbei. Denn es hat nicht funktioniert. Propaganda wird schnell langweilig. Man braucht eine gute Geschichte mit verschiedenen Positionen, sodass es einen interessanten Konflikt gibt.

Es gibt auch smarte Propaganda, die nicht gleich zu erkennen ist.

Manchmal hat Propaganda im Film auch funktioniert, aber in 90 Prozent der Fälle nicht. Das liegt auch an Indiens Komplexität.

Werden kritische Filmemacher oder Kinos, die deren Filme zeigen, bedroht?

Ich habe denen beigestanden, aber es passiert doch eher selten. Ich wurde noch nie bedroht und habe auch keine Absagen aus politischen Gründen bekommen.

Im Frühjahr gab es Boykottaufrufe gegen den Agententhriller „Pathaan“ von Superstar Shah Ruk Khan.

Der Boykott hat nicht funktioniert. Boykottaufrufe gibt es zu vielen Filmen, aber sie funktionieren oft nicht. „Pathaan“ wurde ein Superhit und hat alle Rekorde gebrochen. Vielleicht halfen die Boykottaufrufe sogar dabei.

Gibt es rote Linien?

Sie sind sehr weit weg. Bisher brodelt es am Rand der Gesellschaft. Der Rechtsstaat muss gestärkt werden, es ist alles sehr komplex und widersprüchlich. Das ist der Preis für Demokratie. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, in China zu leben. Bei uns gibt es Diskussionen über alles.

Gibt es Selbstzensur?

Unsere schlimmste Zensur sind der Markt und kommerzielle Interessen. Der Staat sollte die Kultur nicht komplett dem Kommerz ausliefern.

Derzeit hofieren westliche Regierungen Indien aus Sorge vor China, sprechen aber Menschenrechtsprobleme nicht mehr an. Kann Kritik aus dem Westen Indiens demokratische Kräfte stärken, ohne gleich antikoloniale Reflexe auszulösen?

Westliche Regierungen sollten die Demokratie im eigenen Land stärken und so ihre eigene Glaubwürdigkeit stärken. Wie kann London Indien wegen Menschenrechten kritisieren, wenn Tony Blair beim völkerrechtswidrigen Krieg im Irak für den Tod vieler Menschen verantwortlich ist? Menschenrechte werden oft nicht angesprochen, wenn es wirtschaftliche Interessen gibt. Manche Regierungen sollten die Welt besser in Ruhe lassen, weil sie sonst noch mehr Probleme verursachen. So sollten westliche Länder keine Waffen mehr exportieren.

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