Interview mit Ranga Yogeshwar: „Angst hat eine Halbwertszeit“
Der Wissenschaftsjournalist erklärt, warum Menschen sich die Corona-Wirklichkeit lieber so zurechtbiegen, dass sie ihnen erträglich scheint.
taz am wochenende: Herr Yogeshwar, aktuell kursieren zur Coronapandemie viele Verschwörungstheorien. Die Historikerin Hedwig Richter sagte kürzlich, dass Menschen besonders anfällig dafür seien, wenn sie sich nicht gut mit dem Gegebenen arrangieren können. Stimmen Sie zu?
Ranga Yogeshwar: Ich glaube, dass es ein Grundrauschen von Verschwörungstheorien gibt. Das gibt es ständig. Die Frage ist: Wie ändert sich die Rezeptionskultur im Bezug auf solche Verschwörungstheorien? Und die ist situativ abhängig von einer Stimmungs- oder Bedürfnislage des Rezipienten – sprich: von uns. In dem Moment, in dem wir mit der offiziellen Meinung nicht klarkommen oder wo uns Verschwörungstheorien im Grunde genommen in einem tiefen Bedürfnis nach Erklärungen bestärken, sind wir eher bereit, zumindest hinzuhören und sie mitunter zu akzeptieren.
Dieses Bedürfnis scheint gerade stark zu sein.
Wir erleben im Moment extrem drastische Maßnahmen, müssen sie in Kauf nehmen, wenn man das auch mal grundrechtlich betrachtet, für ein Risiko, das gefühlt eher abstrakt und klein ist. Vor diesem Hintergrund wirkt das Ganze für uns ein bisschen abstrakt, zumal draußen schönes Wetter ist, der Mai steht in der Blüte. Das führt zu einem Paradoxon: Dass wir nämlich eine Gefahr nicht rational, sondern emotional wahrnehmen oder nicht wahrnehmen. Diese Diskrepanz haben wir überall. Niemand hat Angst vor einer Haushaltsleiter, auch wenn sie eigentlich der Killer in Haushalten ist, wenn man sich die Statistik anguckt.
Alles scheint momentan im Niedergang zu sein, aber mit der Debatte über sogenannte Lockerungen füllen sich die Straßenbilder wieder, überall, besonders aber in Berlin. Womit hat das zu tun – die Pandemie ist ja nicht vorüber?
Ich habe mir die Mobilitätsdaten der vergangenen Wochen angeschaut. Was man dann sieht: Wir haben quasi die erste Phase gehabt, als die ersten Nachrichten über Covid-19 kamen. Mit den Bildern aus Italien ging diese Mobilitätskurve dramatisch nach unten. Das war diese Phase, in der es noch keine Kontaktsperre gab, wo aber einfach die Bilder übers Fernsehen dazu führten, dass wir alle Angst bekamen. Die Städte waren bereits Mitte März wirklich leer, obwohl es noch keine Kontaktsperre gab. Nachdem diese Kontaktsperre ganz offiziell verkündet wurde, das ist das Interessante, ging dies fast mit einem Schwinden der Angst einher. Und was man dann sieht, ist, dass mit der Kontaktsperre das Mobilitätsverhalten wieder hochgeht und wir inzwischen in einem Zustand sind, der sich immer mehr einer Normalität – auch wenn wir das vielleicht gar nicht so sehr glauben – nähert. Das heißt: Das Motiv allen Handelns ist Angst. Und diese Angst hat immer eine Halbwertszeit.
Was meinen Sie damit?
Wir können nicht jeden Morgen aufstehen und diese Panik, diese Angst haben. Irgendwann gewöhnt man sich dran, und diese Gewöhnung führt dazu, dass eine gewisse Nachlässigkeit beginnt. Das beobachtet man eigentlich immer. Wenn Menschen mit Maschinen arbeiten, die gefährlich sind. Ich habe zum Beispiel in dieser Phase viel Zeit in meiner Werkstatt verbracht. Ich besitze eine Tischkreissäge, und es gibt in Deutschland, glaube ich, etwa 5.000 Unfälle jedes Jahr mit Kreissägen. Die betreffen nicht Menschen, die eine solche Säge zum ersten Mal verwenden, sondern solche, die in ihrer Routine irgendwann sagen: Ach, passiert schon nichts, und dann zu nah mit den Fingern an das Sägeblatt kommen. Mit der Zeit wächst die Nachlässigkeit, und dieser Gewöhnungseffekt, der tritt auch jetzt in Coronazeiten ein. Inzwischen gibt es das Gefühl: Es wird schon nichts passieren.
Die Bilder, die wir jetzt sehen, sind solche des freudigen Ausschwärmens nach dem Ausgangsverbot: in China, Italien, Spanien … Nun wagen sich die Menschen wieder aus ihren Gehäusen, oder?
Dieses Phänomen des Einigelns kennen wir sogar ganz individuell. Wenn irgendetwas passiert, sieht man, wie Menschen, die plötzlich Angst haben, sich in eine sich selbst schützende Körperhaltung zurückziehen. Sie sehen es sogar auf nationaler Basis, wo Nationen ganz schnell Grenzen zumachen – in der Annahme, dass die Gefahr von außen kommt. Aber dann gibt es irgendwann dieses relaxing auf der individuellen Ebene. In dieser Phase befinden wir uns. Wir haben eben ein tiefes Bedürfnis nach Normalität, nach Gemeinsamkeit. Soziale Kontakte sind kein Luxus, sie sind etwas sehr Elementares! Wir erleben derzeit einen wunderbaren Mai, und ich frage mich: Was machen junge Leute, die sich im Frühjahr verlieben sollten, wenn sie jetzt ständig mit Abstandspflicht und Mundschutz unterwegs sind? Das ist kein guter Frühling für Liebhaber.
Es gibt offenbar starke Bedürfnisse, und die zu befriedigen soll wieder möglich werden.
Das ist verständlich. Aber das Absurde dabei ist, dass es eben auch die rationale Ebene gibt, die einem ganz klar sagt: Du musst aufpassen, musst dich schützen und darfst dich nicht anstecken. Wir erleben somit eine Dissonanz zwischen dem Verstand und dem Herzen. Und auch die ist altbegründet. Goethe schrieb irgendwann mal einen wunderbaren Satz, der besagte: „Aber ganz abscheulich ist’s, auf dem Weg der Liebe Schlangen zu fürchten unter den Rosen der Lust, wenn im schönsten Moment der sich hingebenden Freude deinem sinkenden Haupt lispelnde Sorge sich naht.“ Er fürchtete die Syphilis. Genau das: Wenn im schönsten Moment lispelnde Sorge, hier wäre es die virale Sorge, dem sinkenden Haupt naht. Wenn man genau in sich hinein fühlt, merkt man: Andere Menschen, Bekannte, Freunde werden zur latenten Gefahr. Der Kontakt mit ihnen ist gleichermaßen anziehend wie gefährlich. Man sieht die Schwiegermutter oder Freunde irgendwo in der Stadt, möchte sie eigentlich umarmen, und dann kommt dieses Memento, dass sie vielleicht doch genau die Überträger sein könnten. Das nervt, und irgendwann halten wir diese Dissonanz nicht mehr aus.
Wir werden uns irgendwann wieder zu umarmen beginnen.
Das will ich schwer hoffen! Das sollten wir auch irgendwann. Aber momentan ist es eben so, dass wir noch an dieser Minimierung der Ausbreitung des Virus arbeiten müssen. Was mich dabei wirklich anfasst, ist, dass wir uns in Deutschland, vielleicht sogar in Europa, im Grunde genommen weit weniger gut verhalten als zum Beispiel in südostasiatischen Ländern.
Sie meinen Taiwan, China oder Südkorea.
Diese Länder nutzen zudem eine App, um in der Pandemie mögliche Infizierte rasch zu erkennen.
Nun gab es an einer App, einer, die Daten zentral speichert, massive Kritik.
Inzwischen fange ich an, rotzig zu werden. Da reden wir über ein ungelegtes Ei. Bis heute existiert hierzulande keine funktionierende App. Da offenbart sich, dass wir in Sachen Digitalisierung ziemlich rückständig sind, und wir vernebeln unsere technische Unfähigkeit mit einer Diskussion über Datenschutz. Es muss langsam ein Bewusstsein wachsen, dass wir in Deutschland, was diese Techniken angeht, nicht gut aufgestellt sind. Wir sind ein digitales Entwicklungsland! Während der Kontaktsperre nutzen wir eine Vielzahl digitaler Tools, doch keines dieser Programme stammt aus Deutschland. Wir nutzen amerikanische oder chinesische Software. Als ehemalige großartige Industrienation sind wir in diesem Bereich schlecht aufgestellt. Und wir sind immer noch zu hochnäsig, um einfach mal zu sagen: Hey, liebe Südkoreaner, helft uns! Gebt uns doch eure App, wir adaptieren die dann für uns.
Die Kritik dreht sich um Datenschutzfragen.
Ich habe eine sehr hohe Sensibilität, was den Datenschutz betrifft. Es gibt jedoch Momente, in denen es auch eine plausible Notwendigkeit des Handelns gibt. Wenn wir uns noch einmal diese Kontaktsperre anschauen, ist sie im Grunde genommen nicht Ausdruck einer aufgeklärten, vorausschauenden Politik gewesen. Die Politik hat am 23. März populistisch gehandelt, weil der größte Teil der Menschen, das kann man wie gesagt an den Mobilitätsdaten sehen, sich schon zurückgezogen hatte. Und wenn die Politik dann eine Kontaktsperre verhängt, handelt sie konform zur existenten Stimmung im Land. Hierfür braucht es keine besondere Führungsqualität. Das ist so ähnlich, wie wenn das Haus brennt und man den Bewohnern befiehlt, das Haus zu verlassen. Im Kern fast überflüssig, da die Menschen es ohnehin tun.
Und jetzt wollen die Menschen wieder raus, in ihre Normalität zurück. Das haben Sie auch bei Ihren Recherchen in Fukushima festgestellt: Dass die Leute dorthin zurück wollten, obwohl es dort weitflächig jenseits der Wege hochkontaminiert ist. War das so eine Art Sehnsucht nach dem, was man die alte Ordnung nennen könnte?
Es sind dort drei Dinge passiert, die auch für ein Verständnis dessen, was wir momentan erleben, entscheidend sind. Der erste Punkt ist: Die Menschen wurden entwurzelt. Betroffen waren viele Dörfer, die nordwestlich der Reaktoranlage lagen, die durch den radioaktiven Fallout kontaminiert waren. Diese Dörfer und kleinen Städte mussten verlassen werden. Da stehen Häuser, da sind Gärten, da sieht man Autos – alles ist da und nicht zerstört. Aber kontaminiert. Es war eine furchtbare Situation für die Menschen, denn anders als bei einem Brand, wo danach das Haus nicht mehr steht, blieb hier alles scheinbar beim Alten. Wie ein Stachel, der sich ständig meldete und sagte: Da gibt es immer noch mein Haus, in das ich viele Jahre viel Arbeit und Mühe hineingesteckt habe.
61, ist Wissenschaftsjournalist und Moderator.
Traurig.
Das Zweite ist, dass die sozialen Vernetzungen dieser Dörfer sich komplett auflösten. Freunde und Nachbarn wurden ja auseinandergerissen. Dann gab es das ökonomische Argument, es bedurfte nämlich großer Summen, um die umgesiedelten Bewohner zu entschädigen. In Japan wurden die Steuern erhöht. Und auch die lokale Wirtschaft, Ackerbaubetriebe etwa, wollten zurück. Im Kern gab es also von vielen Seiten eine hohe Motivation, zur Normalität zurückzukehren.
Fukushima ist ja immer noch nicht frei von Kontamination.
In der Tat, aber es setzte ein kollektiver Verdrängungsmechanismus ein. Man bestärkte sich gegenseitig in dem Ziel, wieder zurückzukehren. Und fing an, die Böden abzutragen. Das sind die Bilder, die wir alle gesehen haben, die Erde in den schwarzen Säcken. Und dann kehrten die Menschen zurück in ihre Heimat.
Und das reicht dann?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Nein. Ich erinnere mich zum Beispiel an Fukushima-Stadt, da gibt es einen Park, und ich habe dort die Radioaktivität mit einem Messgerät überprüft. Der Weg selbst war okay. Doch ging man zwei Meter ins Gebüsch, stieg die Radioaktivität massiv an. Diese Region ist eben nach wie vor kontaminiert, doch das will man nicht mehr wissen. Die Bewohner sagen sich: Wir haben doch geputzt und saniert, jetzt dürfen wir auch wieder dahin. Ein kollektiver Verdrängungsprozess. Die Menschen kaufen sehr bewusst das Obst und Gemüse aus der Region und bestärken sich gegenseitig, dass doch alles wieder in Ordnung ist. Ich selbst habe in einem Supermarkt einer Genossenschaft Honig gekauft. Honig aus Fukushima. Und bei uns setzt jetzt ein ähnlicher Prozess ein.
Inwiefern?
Wir tragen Masken, vielleicht selbst genäht, und damit legitimieren wir, dass Restaurants oder Klamottenläden wieder öffnen. Wir verdrängen die latente Gefahr, wollen von ihr nichts mehr hören. Genau wie noch vor wenigen Jahren in Japan. Ich erinnere mich noch an die Situation, als ich meinem lokalen Begleiter die Daten des Messgeräts zeigte. Hier ist die Radioaktivität hoch – und er nickte and that was it. Und so ähnlich läuft es auch hierzulande ab. Wir wollen die Zahlen der Pandemie nicht mehr sehen und lehnen die Statistiken ab. Das sagen wir nicht direkt, sondern das läuft dann über ein tieferes Narrativ.
Und das geht wie?
Die Leute zweifeln zunehmend an den wissenschaftlichen Fakten: Na ja, es gibt ja Zahlen, die sich widersprechen. Oder man sagt: Jeder Virologe behauptet etwas anderes. Man relativiert die Opferzahlen. Was tun wir? Wir entmündigen die Wissenschaft, damit wir beruhigt wieder in unsere Normalität zurückkönnen. Dieser Mechanismus ist Teil des einsetzenden Verdrängungsprozesses. Ich verurteile dieses Verhalten nicht, denn es ist ein tiefer Mechanismus, den wir Menschen auch aus anderen Situationen kennen. Nehmen Sie die Kriege. Es ist unvorstellbar. Wir haben in einem Jahrhundert zwei zerstörerische Weltkriege in diesem Land erlebt. Normalerweise würde man denken, dass nach dieser Erfahrung nie wieder Krieg sein dürfte. Doch inzwischen marschiert Deutschland vor, und die Rüstungsexporte steigen.
In Deutschland scheint man fast angststolz darauf, dass an der Coronapandemie hierzulande vergleichsweise wenige Menschen gestorben sind.
Im Kern hatten wir bislang Glück, doch wir interpretieren das als besonderen Erfolg und meinen dabei, wir hätten weit besser reagiert als andere Länder. Wir fühlen uns als Klassenbester bei der Bewältigung der Krise – typisch deutsch. Entweder sind wir ganz schlimm oder wir sind ganz toll. Das Dazwischen gibt es nicht. Das sieht man überall. Wo man es fulminant erlebte, war während der letzten Fußball-WM. Da wurde das deutsche Team am Anfang als der Weltmeister gefeiert. Doch dann, als die Mannschaft früh ausschied, waren wir die Allerletzten. Bei Corona ist es ähnlich. Wir meinen, dass wir die Besten sind. Der Vergleich ist eine sehr deutsche Art, auf die Welt zu blicken: Sind die Klos dort sauberer als die Klos in Deutschland? Sind die Supermarktregale voller als anderswo? Sind die Mortalitätsraten bei uns niedriger als anderswo? Dabei übersehen wir gerne, dass andere Länder womöglich konsequenter handeln. Da wünsche ich mir mehr Bescheidenheit hierzulande.
Andere Länder haben ähnliche Maßnahmen ergriffen wie Deutschland – nur oft konsequenter.
Länder wie Taiwan, Südkorea oder Singapur haben die ersten Botschaften aus Wuhan korrekt interpretiert und haben frühzeitig einen Shutdown eingeleitet und die Grenzen zu China geschlossen. Niemand hat jedoch gesagt: die bösen Chinesen. Singapur hat geholfen und aktiv mit den chinesischen Institutionen in Wuhan kooperiert. Diese Länder haben sich, finde ich, besser und klüger verhalten als wir. Deutschland war da gerade am Anfang der Pandemie nicht besonders empathisch. Als in Italien die Fallzahlen stiegen, haben wir die Grenzen geschlossen und uns zurückgezogen, anstatt sofort den Italienern unsere Hilfe anzubieten. Im Gegenteil, Italien wurde stigmatisiert. Wir hätten viel stärker unseren Nachbarn helfen müssen. Die Chinesen hingegen haben Italien in dieser Zeit unterstützt.
Was bringt uns die Zukunft?
Ich hoffe, dass wir bald wieder unsere Grenzen öffnen, weil es zumindest aus wissenschaftlicher Sicht völlig absurd war, etwa eine Grenze zwischen Deutschland und Luxemburg so lange geschlossen zu halten. Die benachbarten Regionen dieser Länder haben kaum noch Infektionen zu verzeichnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen