Impfquote in Deutschland: Die Wut muss politisch werden
Die Politik trägt die Verantwortung für die Impfquote in der Bevölkerung. Auch die katastrophale Lage in den Krankenhäusern ist ihr Versagen.
A lle sind wütend auf die Ungeimpften. Das ist verständlich, aber unpolitisch. Ähnlich wie bei SUV-Fahrern und Vielfliegern hat der Argwohn Berechtigung, aber er schafft in einer gesellschaftlichen Notlage ein Narrativ von individueller Verantwortung, statt kollektive Lösungsansätze zu fordern. SUV-Shaming kann funktionieren – besser wäre eine Politik, die gemeinschaftsschädigendes Verhalten gar nicht erst zulässt.
So ist, erstens, das Durchimpfen der Bevölkerung als eine politische Aufgabe zu sehen – ob mit Impfpflicht oder anders. Es ist wohlfeil, das Scheitern auf Impfgegner*innen abzuwälzen, die vor allem eins sind: Eine kleine Minderheit. Befragungen der TU München und der Universität Göttingen zeigen, dass etwa die Hälfte der Ungeimpften nicht gegen Impfen ist, sondern keine Informationen hat oder bloß skeptisch ist. Es braucht institutionelle Strukturen, die diese Menschen erreichen.
Zweitens sind überlastete Krankenhäuser, unterbezahltes und ausgebranntes Personal sowie profitorientierte Fallpauschalen ein Problem, das es nicht erst seit Corona gibt – das jetzt aber in potenzierter Dringlichkeit zutage tritt. Als am Berliner Vivantes-Krankenhaus im September ein wochenlanger Streik stattfand, gab es dafür nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die es für Imfgegner*innen immer wieder gibt.
Dass im Pandemiejahr 2021 wegen Kündigungswellen rund 4.000 Intensivbetten abgeschafft wurden, ist ein Versagen der Politik. Die käme allzu leicht davon, wenn die Schuld nur bei Ungeimpften gesucht würde. Das Problem ist grundsätzlicher Natur: Gesundheit als öffentliches Interesse und Allgemeinwohl muss auch öffentlich finanziert werden, und zwar mit ordentlichen Gehältern für ausreichend Personal – jetzt und nach Corona.
Drittens mutiert das Coronavirus vor allem da, wo es kaum Impfstoffe gibt, und geht dann schlimmstenfalls in impfresistenter Form erneut um die Welt. Um aus dieser Endlosschleife herauszukommen, müssten Patente aufgehoben werden, Impfstoffe global verteilt und möglichst zeitgleich gespritzt werden – gegen die Profitlogik der Pharmakonzerne. Statt sich in einer unbestimmten Wut auf einige wenige zu suhlen, ist es die Aufgabe der gesellschaftlichen Linken, all das zu fordern und die Aufmerksamkeit auf systemische Fragen zu lenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers