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taz FUTURZWEI

Identität in turbulenten Zeiten Wer kann ich sein?

Ich hielt mich für einen Post-68er-Nonkonformisten, der die Welt im Widerstand gegen Staat, Militär, Gesellschaft, Unternehmen und Heino voranbringt. Das war zu kurz gedacht.

Wer kann ich sein? Wer will ich sein? Im Angesicht der Weltlage geht es Peter Unfried wie diesem Emoticon Illustration: taz/OpenAi

taz FUTURZWEI | Ich war beim Bund. Damit das schon mal gleich klar ist. Meine Geschichte ist also nicht die übliche Story von unsereins, die da lautet: Ich habe damals verweigert, aus guten Gewissensgründen, aber heute würde ich das schweren Herzens nicht mehr tun und so weiter.

Für mich schien auch in den 80ern klar: Wenn ich nur noch die Wahl habe, der oder ich, dann schieße ich und zwar hoffentlich schneller.

Außerdem ging ich davon aus – fälschlicherweise, wie sich herausstellte –, dass ich eh ausgemustert würde. Das Jahr als Sanitätssoldat war relativ zivil, ich war morgens zwei Stunden Sprechstundenhilfe vom Stabsarzt, rief die Patienten ins Behandlungszimmer und gab dann Mobilat-Salbe für den Rücken raus.

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?

Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?

Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.

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Den Rest der Tage hörte ich Radio und schrieb die aktuellen Hitparaden mit. Ansonsten machte ich, was alle anderen machten: gar nichts. Es war sicher die gechillteste Zeit meines Lebens, vom frühen Aufstehen mal abgesehen.

Ich war aber immer und speziell während meines Wehrdiensts gegen Kriege, Waffen, Imperialismus, Marschieren, Stillstehen und nach dem Realitätscheck in der Grundausbildung gegen sadistische Unteroffiziere.

Der Widerspruch in mir

Ich war und bin offensichtlich ein widersprüchlicher Mensch, also ganz normal. Der Unterschied zu anderen könnte höchstens sein, dass mir das inzwischen klar ist.

Weshalb es mich auch nicht wundert, dass ich seit Kurzem volle Pulle dafür bin, dass die freie Gesellschaft der Bundesrepublik eine so starke Armee hat, dass sie sich gegen Angriffskriege verteidigen kann beziehungsweise deshalb nicht angegriffen wird.

Ein Erlebnis, das ich rückblickend als denkverändernd betrachte: Ich war bei einer Uni-Party, ging an die Bar und wurde nach einem kurzen Wortwechsel – es war wohl Alkohol im Spiel – von dem Typen, der neben mir stand, mit einem Faustschlag umgehauen.

Ich rappelte mich hoch, versuchte zu argumentieren (oder zu provozieren), er haute mich wieder unter die Bar. Ein Freund zog mich kurz vor dem endgültigen K. o. weg.

Der Punkt war: Selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte gar nicht zurückschlagen, ich hatte es nie gelernt, wozu, das war doch unser emanzipatorischer Fortschritt, nicht und niemals Gewalt anzuwenden! Ist es auch, solange kein anderer zuschlägt. Dann freilich muss man zumindest die Möglichkeit haben, zurückzuschlagen.

Mein Freund Harald sagt, das sei doch eine superlahme Geschichte und wenn schon, dann würde er sich rausquatschen. Nun ist er ein großer Redner, aber meine Erkenntnis lautet: Da gerät er spätestens bei Putin an den Falschen. Ich möchte also, dass die Bundesrepublik sich verteidigen kann, mit Waffen und Pipapo.

Was sollten die Kinder im Ernstfall tun?

Ich möchte aber auf keinen Fall, dass meine Kinder das machen müssen. Ein anderer Freund sagte mir, als wir darüber sprachen: „Paulina würde bestimmt eine tolle Scharfschützin.“ Ich lachte, aber es ist ein furchtbarer Gedanke.

Darüber sprach ich dann mit Daniel Cohn-Bendit, und er sagte, so was habe Joschka Fischer vor dreißig Jahren zu ihm gesagt, als er im Jugoslawien-Krieg Waffen und Interventionen zum Schutz der Bosnier forderte.

„Unsere Logik damals war: Wenn die Verursacher von zwei Weltkriegen nicht angriffsbereit sind, dann kann auch nichts passieren.“

„Joschka sagt: Dany, du hast einen Sohn, würdest du ihn kämpfen lassen für Bosnien? Sag ich, Joschka, du hast einen Sohn, der ist Feuerwehrmann, es brennt im 27. Stock des Hochhauses, verbietest du ihm, hochzugehen, um die Menschen oben zu retten?“

Ich sagte zu Cohn-Bendit, das sei aber ein fieser Vergleich und er sagte: Nein, das sei genau die Auseinandersetzung. „Und dann habe ich zu Joschka gesagt: Das wird mein Sohn entscheiden. Ich will niemanden zwingen, aber die Bundeswehr ist dafür da, Menschen zu schützen. Und wir schützen Menschen in Europa vor der Vernichtung.“

Der „Deutsche“ und die Anderen

Das war in den frühen 90ern und noch nicht mal Fischer wollte damals Cohn-Bendit folgen. Vor dem Hintergrund der unauslöschlichen deutschen Schuld schien nicht nur vielen der von 1968 geprägten Milieus lange Zeit der kategorische Pazifismus die einzige Lösung zu sein, zumindest für Bundesdeutsche, denen sie auf eine erstaunlich Blut-und-Boden-theoretische Art unterstellten, dass „der Schoß noch fruchtbar“ sei.

Überspitzt gesagt lief das darauf hinaus: Sobald der Deutsche ein Gewehr oder einen Panzer hat, dann legt er alles in Schutt und Asche. „Der Deutsche“ war selbstverständlich ein Synonym für die anderen, vom Angriffskrieger über den Gartenzwergspießer bis zum schwäbischen Kehrwochenfetischisten.

Unsere Logik damals war: Wenn die Verursacher von zwei Weltkriegen nicht angriffsbereit sind, dann kann auch nichts passieren.

Erst durch Putins Überfall auf die Ukraine sickerte in die Hirne ein, dass auch andere angreifen können und das sogar tun.

„Autos waren grundsätzlich scheiße (außer das eigene Auto, das man ja leider brauchte). Gas war scheiße (außer das Gas im eigenen Haus, gegen das man ja leider nichts machen konnte, wenn man überhaupt wusste, dass man mit Gas heizte). “

Weshalb es heute so ist, dass die Bundeswehr uns schützen können muss. Der Unterschied zwischen meinem alten und meinem neuen Ich besteht darin, dass mein altes Ich spätestens nach 1989 niemals auf die Idee gekommen wäre, dass Deutschland angegriffen werden könnte, Russengerede der 80er hin oder her.

Geoökonomie und Identitätsbedürfnis

Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen oder wusste das zu verdrängen, dass wir, dass der Status quo von Wirtschaft und Gesellschaft, zu einem nicht kleinen Teil von billigem russischem Gas abhängen. Ganz zu schweigen von der Wichtigkeit des chinesischen Automarkts. Das interessierte mich so sehr, wie wenn in China ein Sack Reis umfällt.

„Und die Amis? Politisch und ethisch indiskutabel.“

Das war lange eine sehr gängige Redewendung und sie bringt vermutlich auf den Punkt, wie wenig uns – wenn ich das verallgemeinern darf – die großen Zusammenhänge beschäftigten, während wir davon redeten, die schlimme Welt verbessern zu wollen. Autos waren grundsätzlich scheiße (außer das eigene Auto, das man ja leider brauchte). Gas war scheiße (außer das Gas im eigenen Haus, gegen das man ja leider nichts machen konnte, wenn man überhaupt wusste, dass man mit Gas heizte). Und die Amis? Politisch und ethisch indiskutabel. Da brauchte es keinen Trump. Das war vor George W. Bush so und mit ihm erst recht.

Herbert Grönemeyer brachte unser Identitätsbedürfnis Mitte der 80er auf den Punkt, als er Amerika im gleichnamigen Song aufforderte, gefälligst seine Raketen aus Europa abzuziehen („Was sollen sie hier?“) und sich im eigenen Land zu „prügeln“. Also genau das forderte, was Trump nun anzugehen bereit ist: amerikanischer Isolationismus, Ende des Westens, Deutschland und Europa ohne amerikanischen Schutz sich selbst überlassen. Und damit jedem, der stark und brutal genug ist, sich uns zu holen.

Letzteres kam in unserem Denken nicht vor. Wir sahen den Westen und seine liberalen Demokratien nicht als verteidigungswert, sondern definierten ihn über imperiale Interessen und koloniale Ausbeutung der Vergangenheit.

Nachholender Widerstand?

Das lagerten wir, wie alles, schön aus an die anderen, an die USA und die Bösen und Reichen bei uns, wir hatten damit nichts zu tun. Wir waren Opfer und im Widerstand. Zum einen im „nachholenden Widerstand“ (Harald Welzer) gegen Hitler, Nazis und alle imperialen Verbrecher der Vergangenheit, zum anderen in der Gegenwart antistaatlich, antigesellschaftlich, anti-Schule, anti-Kohl, anti-Heino, anti-FC-Bayern.

„Überhaupt pflegten wir unsere Identität in Abgrenzung mit den übelsten Ressentiments, die uns heute die Rechtspopulisten geklaut haben.“

Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat das „Parasitäre“ dieser vermeintlich kritischen Position im vermeintlichen Off der Gesellschaft auf den Punkt gebracht: Man nimmt alles mit und tut so, als habe man damit nichts zu tun.

Überhaupt pflegten wir unsere Identität in Abgrenzung mit den übelsten Ressentiments, die uns heute die Rechtspopulisten geklaut haben. „Die da oben“ waren schlimme, alte Männer, der Staat war ein evil Geflecht aus korrupten Politikern, geldgeilen Unternehmern, fragwürdigen Institutionen, die „Eliten“ verfolgten ausschließlich eigene Interessen, die EU ojemine und so weiter.

In der Schule waren wir alle Nonkonformisten, außer einem pro Jahrgang. Der war in der „Schüler Union“. Ein uncooler Typ, ganz anders als wir. Weshalb er völlig zu Recht verhöhnt und geächtet wurde.

Ich sehe ihn heute noch als Inkarnation eines Schlappschwanzes vor mir, Tischtennisspieler und null Schlag bei den Frauen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es ganz schön was brauchte, um in so einem engen Milieu auch nur leicht abweichende politische und weltanschauliche Positionen zu vertreten.

Aber die Erinnerung ist grundsätzlich fragwürdig. War das denn wirklich so, wie ich mich zu erinnern glaube? Bin ich wirklich so, wie ich denke, dass ich bin oder es mir wünsche, gewesen zu sein? Einmal sprach ich bei einem Klassentreffen mit der schönen und naiven N. (so hatte ich sie abgespeichert).

Bild: Paulina Unfried
Peter Unfried

Peter Unfried ist Chefreporter der taz und Chefredakteur von taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik. Außerdem Kolumnist und Autor. Spezialinteresse: Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen ernsthafte Klimapolitik möglich wird. Unfried lebt in Berlin-Kreuzberg und wuchs in Stimpfach, Baden-Württemberg, auf.

Ich skizzierte in der gebotenen Ernsthaftigkeit die Weltlage, und sie kicherte ständig vor sich hin. Irgendwann sagte sie: „Du bist immer noch der alte Spaßvogel, Peter.“ Da verstand ich: Während ich dachte, ich sei in der Oberstufe eine Art James Dean oder Dylan McKay (Beverly Hills 90210) gewesen, also der Beatliteratur lesende Rebell, hatte sie mich als Klassenkasper abgespeichert.

Woraus sich für mich die Frage ergibt: Sollte ich regelmäßig Leute fragen, wie sie mich sehen – oder besser nicht? Zweiteres wäre klug, aber unangenehm.

Wenn ich heute so brückenbauend und milde daherrede, so muss ich doch noch mal sagen, dass ich lange für das Gegenteil stand; dafür, den anderen von meiner Kanzel herab zu sagen, wie scheiße sie sind. Insofern war ich ein ordentlicher Epigone von ’68, der den Fortschritt im Widerstand und Dagegensein zu vollziehen hoffte oder sich zumindest gut dabei fühlen wollte.

Nicht „wie die anderen“ zu sein. Es war bei mir sogar noch schlimmer: Ich wollte keinem Club angehören, aber nicht, wie Groucho Marx sagte, „der mich als Mitglied aufnimmt“, sondern ich wollte nicht und nirgends Mitglied sein und damit Teil einer Gemeinschaft von Ähnlichen oder gar Gleichen.

„Die gesellschaftlichen Strömungen waren alle nicht dafür ausgerichtet, einen produktiven Umgang mit Erderhitzung und Artensterben zu entwickeln.“

Andreas Reckwitz hat die Theorie dazu abgeliefert (Die Gesellschaft der Singularitäten). Nichts erschütterte mich mehr als Parteitage, egal welcher Partei. Ich stand in den Hallen rum und dachte: Was sind das nur für Leute? Mit denen hast du doch überhaupt nichts zu tun. Besonders schlimm war es lange bei den Grünen. Die einzige Ausnahme war das Fußballstadion, wo ich Teil von etwas sein konnte und gleichzeitig ganz für mich bleiben.

Im Jahr 2007 wurde ich völlig überraschend für mich selbst zum Öko. Ich war in Kalifornien im Kino, hatte Al Gores An Inconvenient Truth gesehen und nachdem ich zuvor jahrelang den Klimawandel ignoriert hatte (weil er nicht in mein kulturelles Beuteschema passte), erreichte mich plötzlich der Inhalt.

Warum? Weil er nicht im üblichen Graubart- und Birkenstock-Ambiente daherkam. Sondern an einem Ort der Kultur und in einem Medium, das mir identitär angemessen schien. Was ich nicht verstand: Die gesellschaftlichen Strömungen waren alle nicht dafür ausgerichtet, einen produktiven Umgang mit Erderhitzung und Artensterben zu entwickeln.

Klimawandel und Post-68-Kultur

Die 68ff.-Kultur basiert komplett auf der gesellschaftlichen Realität und ist – verständlicherweise – konzentriert auf Freiheits- und Gleichstellungsgewinne. Klimawandel dagegen vollzieht sich in der physikalischen und planetarischen Realität. Auch die beiden anderen großen Strömungen der gesellschaftlichen Emanzipation – Konservative und Bürger, sozialdemokratische Linke und Arbeiter – können damit nicht umgehen.

Noch schlimmer: Beide Ideologien haben ihre Schutzbefohlenen in den letzten Jahren als Opfer positioniert.

Leider las ich erst viele Jahre zu spät Ökologische Kommunikation von Luhmann. Unsere von ’68 kommende Bewegung und ihre Kultur können zwar das Problem und die Gesellschaft kritisch beschreiben, aber sie seien ohne „normative Sinngebung“.

Es werde groß gedacht, Problem sei der „Kapitalismus“ und „die Gesellschaft“, das müsse man überwinden und so weiter. Unsere Kultur, donnerte Luhmann weiter, bestehe aus Postulaten, Verdammungen, moralischer Gut-Böse-Einsortierung, aber was komplett fehle: Eine Methode, um die postulierten Ziele zu erreichen – außer eskapistisches Anti-Kapitalismusgerede und die Beschwörung, dass „die Menschen“, also die anderen, es einsehen müssten und so werden wie wir.

Aber eigentlich sollten sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Denn wenn wir eines nicht wollten, dann Teil einer Mehrheit sein. Wir brauchten weder Mehrheit noch Methode, denn wir hatten ja Moral.

Anti-Politik und Selbstverständlichkeiten

Heinz Bude hat im Kontext des Rechtspopulismus auf dessen Strategie der Anti-Politik hingewiesen. Das ist Rhetorik gegen die Politik, die damit eben nicht Probleme lösen will, sondern dramatisieren und so liberaldemokratische Politik als kompromisslerisch und korrupt und lösungsunfähig hinstellen. Das ist auch traditioneller Teil der 68ff.-Kultur, der etwa gegen die Grünen angewendet wird, wenn sie regieren.

Die liberaldemokratische Selbstverständlichkeit, Kompromisse mit Koalitionspartnern zu machen, wird als Haltungsschwäche, Angepasstheit, Karrierismus und so weiter verurteilt, der Hinweis auf Mehrheitsverhältnisse mit einem forschen „Ach was, wenn man will, dann geht das auch“ abgewiegelt.

Da schwingt sehr viel mit von unserer illusionären Politikvorstellung, dass man eben Politik gegen die gewählten Institutionen mache und nicht mit ihnen und in ihnen.

Was ja gipfelt in der Verdammung des „Marsches durch die Institutionen“ als Kapitulation. Statt es endlich als Machtstrategie zu nutzen, so wie alle anderen auch.

Obama als Höhepunkt und Ende

Die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten 2008 war der Höhepunkt unserer 68ff.-Kultur. Obama schien „unser“ Präsident zu sein, endlich.

Ich war so begeistert vom Style dieses Politikers, dass ich ein paar Tage ernsthaft dachte, nun würde die Welt atomwaffenfrei und die freiheitlich-emanzipatorische Kultur sich global durchsetzen.

„Obama war nicht nur der Höhepunkt, er war auch das Ende unserer schönen Geschichte.“

Das lag eben daran, dass ich eine Überdosis Post-68er-Kultur intus hatte, die von Geringschätzung der parlamentarischen Politik und demokratischen Mehrheiten geprägt war, und die Lösungen stets im Gegenmodell suchte, Politiker, die „anders“ sein sollten und übernatürlichen Kräften, die alles irgendwie möglich machen, wenn die Guten der Zivilgesellschaft sich zusammenfinden und „Solidarität“ und „Nazis raus“ rufen.

Obama war nicht nur der Höhepunkt, er war auch das Ende unserer schönen Geschichte. Mit ihm und nach ihm kam die Gegenreaktion, kam Donald Trump.

Mit Armin Nassehi begann ich dann immerhin zu akzeptieren, dass es keine moralische Leitstelle gibt in einer heterogenen und funktional differenzierten Gesellschaft, sondern Systeme (Politik, Wirtschaft, Medien), die ihre eigenen Logiken haben: Der Politiker muss wiedergewählt werden, der Unternehmer muss Gewinne machen, Zeitungen müssen sich verkaufen.

Zukunftspolitik kann also weder durch autoritäre Anweisung von oben noch durch massenhafte Einsicht kommen, sondern muss innerhalb der Logik eines Systems entwickelt werden.

Aber auch hier war es in meinem Umfeld nun aber so, dass Leute sich teilweise einredeten, eine sich schlecht verkaufende Zeitung sei eine bessere Zeitung, eine sich besser verkaufende Zeitung müsse minderwertig und boulevardesk sein.

Die Insel der Ideale

Ich erzähle das, weil hier eine sehr bequeme, weil komplett entlastende Logik zugrunde liegt: Wenn wir unter uns bleiben und keinerlei Nachfrage bei anderen haben, die nicht zur Kleingruppe gehören, dann ist alles gut. Mit der gleichen Logik wehren sich manche gegen mehr Wähler, dafür müsse man seine „Ideale“ korrumpieren. Womit es eben nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder Theorie-Ideale intakt, aber keinerlei Wirkung in der richtigen Welt oder mehrheitsfähig und damit schuldig der „Mitververwaltung der Herrschaftsverhältnisse“, wie die sozialistischen Grünen der frühen Jahre predigten.

Ich hatte lange nicht verstanden, dass Demokratie bedeutet, dass man Kompromisse mit Anderstickenden aushandelt, die im besseren Fall das Ganze voranbringen.

Ich dachte halt auch wie jeder Honk, die CDU muss weg, und dann regieren wir Guten durch. Die Wende kam eben durch die Priorisierung der politischen Bearbeitung der Erderhitzung: Wer das ernsthaft möchte, muss als Basis Allianzen mit allen für möglich halten, ohne Ausschlusskriterien und auch mit dem Teufel. In der linksemanzipatorischen Kultur ist aber schon Schluss, wenn jemand ein Wort ausspricht, das diese Kultur für tabu erklärt hat. Die Nichtbenutzung von als diskriminierend empfundenen Worten ist richtig. Der Umgang mit denen, die sich nicht daran halten wollen, nicht.

Die Frage für Sozialökologen muss lauten: Was kriege ich mit jemandem hin, auch wenn ich einige oder sogar viele seiner Positionen nicht teile oder sogar verurteile? Daher sehe ich Boris Palmer als herausragenden sozialökologischen Politiker, während er in der linksemanzipatorischen Kultur ausschließlich über das R-Wort einsortiert wird.

Wer will ich sein?

Die Aufbruchsbewegung von 1968 und damit auch 1968 ff. kann man als Identitätsprojekt verstehen, sagt der Sozialpsychologe Christian Schneider. Die Frage laute: Wer will ich sein? Also nicht: Wer bin ich? Eher schon: Wer bin ich nicht? Aber entscheidend ist, dass es weniger um das reale Ich geht und mehr um das ideale Ich.

Wenn man das versteht, dann wird unsere ganze Zögerlichkeit verständlich, jemand zu „sein“, etwa Teil einer Regierung. Denn wer jemand ist, der ist dafür verantwortlich zu machen, als Wirtschaftsminister, als Waffenlieferant, aber auch als Waffen-Nichtlieferant.

Wer dagegen jemand sein will, der ist auf der sicheren Seite. Was gibt es dagegen zu sagen, wenn jemand gut sein möchte, seine „Solidarität“ erklärt, fordert, dass alles gerechter werden muss, die Renten und die Welt der Jungen, Gegenwart und Zukunft?

So gesehen sind unsere empörten Verurteilungen oder Verhöhnungen anderer, die etwas sind, auch Projektionen der eigenen Angst, dass man sich kompromittieren könnte, wenn man von Idealen zum Realen wechselt.

Es hatte sicher mehrere Aspekte, warum der Grünen-Politiker Anton Hofreiter zum Experten für militärische Belange wurde. Doch die Reaktionen von unsereins und die Verhöhnung als „Waffen-Toni“ waren auch Versuche, seine politische Realitätsannäherung als Idiosynkrasie, Übersprungshandlung oder Moralverlust abzuwerten, um sich damit unangenehme Realität vom Leib zu halten.

Die Frage in dieser Kultur lautet nicht, was in der Realität passiert, sondern wie man seine ideale Welt schützt. Es ist insofern auch nicht verwunderlich, dass die Bewahrung der idealen Welt der Linkspartei bei der Bundestagswahl ein paar Hunderttausend Wähler gebracht hat, die bitter enttäuscht waren, dass Robert Habeck sie in die reale Welt führen wollte. Das war – zumindest für dieses Mal noch – zu viel verlangt.

Die Gefahr der Täuschung

Nun ist es nicht so, dass ich nicht regelmäßig daran zweifle, ob ich mit meinem neuen Ansatz richtig liege.

Was wenn ich auf Kriegstreiber und Waffenlobbyisten reinfalle, was wenn Putin niemals ein NATO-Land angreifen würde, was wenn Klimapolitik auf Höhe der Problemlage eben doch durch zivilgesellschaftlichen Widerstand kommt, was wenn mir am Ende doch die moralische Sicherheit des Dagegenseins fehlt? Tja.

Ich denke ständig darüber nach und bin achtzig Prozent der Zeit sicher, dass der Wechsel notwendig ist.

„Ich bin jetzt also ein Mann mit schmutzigen Händen.“

Der Kernfehler meines Denkens und die Grundlage des Scheiterns von individueller und gesellschaftlicher Klimakultur als Grundlage für sozialökologische Mehrheiten war die Annahme, dass es sich dabei um eine Weiterentwicklung der 68ff.-Kultur handeln würde.

Ich dachte, diese Kultur des langsamen, aber unaufhaltsamen liberalemanzipatorischen Fortschritts würde zu ökoliberal-emanzipatorisch erweitert und dann würde das hinhauen. Ich sah schon, wie schwer sich die liberale Demokratie mit dieser Erweiterung tat, aber dass sie grundsätzlich in Gefahr geraten könnte, hatte ich nie ernsthaft erwogen.

Seit die Kollateralschäden der bundesrepublikanischen und der 68ff.-Kultur sichtbar geworden sind, musste ich zwei Grundannahmen räumen: Erstens hat Klimapolitik und damit die physikalische Realität nicht absolute Priorität, sondern kann nur innerhalb der gesellschaftlichen Realität vorangebracht werden, und das heißt, sie muss die liberale Demokratie stärken und darf sie nicht erodieren.

Und zweitens ist die Grundlage dafür keine 68ff.-Kultur. So leid mir das für mich tut. Klimapolitik wird nur dann reale Mehrheiten gewinnen, wenn sie nicht als linksemanzipatorisch verstanden wird und damit als teilgesellschaftlich und polarisierend, sondern als gesamtgesellschaftlicher heißer Scheiß.

Das mit dem „heißen Scheiß“ ist auch wichtig, es wird nicht als Opfer- und soziale Elendsgeschichte funktionieren und nicht als postkoloniale Büßerstory.

„When they go low, we go lower.“

Anti-Klimapolitik ist ein Kern populistischer Untergangsbeschwörung (der andere ist Einwanderung), und es ist eine Brücke zwischen AfD und abdriftenden Unionspolitikern. Dagegen braucht es keine andere Untergangsgeschichte, sondern eine gute.

Und dann ist da noch etwas Unangenehmes: Es ist ja nicht so, dass Adorno keinen Punkt hätte mit seinem Diktum: Zur Macht gelangte Aufklärung verstrickt sich in den Mechanismen der Macht. Das gehört auch zur Wahrheit, wie man gern sagt.

Aber wenn man immer nur „fassungslos“ ist, was Donald Trump und andere machen, dann sieht man, wie wenig Machtlosigkeit bringt. Fassungslosigkeit ist in diesen Monaten das vorherrschende Gefühl von (uns) Machtlosen. Es darf nicht zum prägenden Gefühl dieser Zeit werden und wir dürfen uns nicht mehr damit begnügen, zu jammern oder klugzuscheißen oder zu sagen, dass ein Linker, Linksliberaler, Konservativer, Deutscher, Europäer so und so zu sein hat. Wer ich künftig bin und sein muss, misst sich nicht an Ideologien oder Illusionen der Vergangenheit, sondern an der Notwendigkeit der Gegenwart.

Zukunft geht nur über Macht, und Macht ist das, was im Kern der Zukunftskultur stehen muss. Noch schlimmer: In einem Parteien-Hintergrund zur Lage nach der Bundestagswahl fragte man mich, was die Strategie sein könne, um aus dem Schlamassel rauszukommen.

Meine Antwort: „When they go low, we go lower.“ Da lachten alle und erklärten mir beflissen, warum das mit den ethischen Grundsätzen der Partei nicht vereinbar sei. Sie wollten es lieber mit Michelle Obama halten und „higher“ gehen.

Aber das ist ja genau das Problem: Was gerade die Welt zu unseren Ungunsten verändert, ist überhaupt nicht mit unseren Grundsätzen vereinbar. Deshalb brauchen wir neue Grundsätze. Und wir brauchen schmutzige Hände.

Ich bin jetzt also ein Mann mit schmutzigen Händen. Das klingt nicht gut. Aber es hilft.

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