Gewerkschaften in der Coronapandemie: „Feind der Mitgliederwerbung“
Die Gewerkschaften sehen sich von der Coronapandemie schwer gebeutelt. Erstmals verzeichnet Verdi weniger als 1,9 Millionen Mitglieder.
Bei ihren Jahrespressekonferenzen in der vergangenen und in dieser Woche führten der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann und sein Verdi-Pendant Frank Werneke den Schwund vor allem auf die erschwerten Bedingungen für gewerkschaftliches Engagement unter Corona zurück. „Gewerkschaft bedeutet Ansprache und Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen“, sagte Hofmann. Das seit „mit Kurzarbeit, Kontaktbeschränkungen, Home-Office-Pflicht und ohne digitales Zugangsrecht auch für uns als Gewerkschaft weiter schwierig“.
Werneke argumentierte in die gleiche Richtung: „Die Ansprache im betrieblichen Alltag durch gewerkschaftliche Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte haben unter den Bedingungen der Pandemie nur unzureichend funktioniert“, sagte er. „Corona ist der Feind der Mitgliederwerbung.“
Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist nichts Statisches. Eine Fluktuation in der Mitgliedschaft ist daher zwangsläufig. Allein schon so viele neue Mitglieder zu gewinnen, dass „natürliche“ Abgänge durch Ruhestand oder Tod ausgeglichen werden können, bedeutet einen enormen Kraftakt.
„Wir müssen richtig rackern, um unsere Mitgliederzahl stabil zu halten, was mit der Altersstruktur von Verdi wie allen anderen DGB-Gewerkschaften zu tun hat“, konstatiert Werneke. Im vergangenen Jahr standen bei Verdi 113.150 Austritten, 16.000 Sterbefällen und 7.000 Ausschlüssen wegen fehlender Beitragszahlungen jedoch nur 93.340 Neueintritte gegenüber.
Probleme der Gewerkschaften sind tiefgreifender
Corona hat für den aktuellen Mitgliederschwund sicherlich eine große Bedeutung. Doch die Probleme der Gewerkschaften sind tiefgreifender. Auch wenn es die mittlerweile nur noch acht Einzelgewerkschaften im DGB nicht immer im gleichen Maße und zur selben Zeit trifft, ist der allgemeine Abwärtstrend doch unübersehbar: 1991 gehörten noch mehr als 11,8 Millionen Menschen einer DGB-Gewerkschaft an, mittlerweile verzeichnet der Dachverband weniger als 5,8 Millionen – und das bei insgesamt steigenden Beschäftigtenzahlen.
Ein Grund dafür liegt in den Umbruchprozessen in der Arbeitswelt. Wenn die Metall- und Elektroindustrie wie im vergangenen Jahr knapp 2,4 Prozent der Stellen abbaut, dann geht das auch nicht spurlos an der IG Metall vorbei. Wesentlich kritischer wird es bei weitaus tieferen Einschnitten. Ein Beispiel: In der Druckindustrie, die zum Organisationsbereich von Verdi gehört, gab es 2001 noch 220.723 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, zwanzig Jahre später waren es nur noch 119.150
Dieser massive Arbeitsplatzabbau hat heftige Auswirkungen auf die Gewerkschaft. Zum einen beenden viele Beschäftigte ihre Mitgliedschaft, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Zum anderen sind Arbeitskämpfe in einer Branche in der Krise nur schwer zu führen, entsprechend schlecht fallen in der Regel die Abschlüsse aus, was sich dann negativ auf Neueintrittszahlen auswirkt.
In der aktuellen Tarifrunde für die Druckindustrie fordert Verdi eine fünfprozentige Lohnerhöhung, was die Arbeitgeberseite unter Verweis auf die schwierige wirtschaftliche Situation brüsk zurückweist. Die Verhandlungen stecken fest. Die Friedenspflicht endet am 28. Februar. Ob Verdi in dieser Branche noch streikbereit und -fähig ist?
Kahlschlag in der Luftfahrtbranche
Ganz bitter sieht es aktuell in der Luftfahrtbranche aus, besonders beim Bodenpersonal an den Flughäfen. Hier hat es infolge der Coronapandemie einen dramatischen Aderlass gegeben. Mehr als 30 Prozent der Beschäftigten haben mittlerweile die Branche verlassen müssen, vielfach mittels Abfindungsprogrammen. „Das schlägt voll auf uns durch“, sagte Werneke auf der Jahrespressekonferenz. Ganze Tarifkommissionen hätten sich faktisch aufgelöst, „weil sich unsere Mitglieder beruflich neu orientieren“.
Andere Branchen boomen hingegen, aber sind nur schwer gewerkschaftlich zu organisieren. Das gilt besonders für den Versandhandel und auch für Paket- und Zustelldienste, wo Verdi zwar kontinuierlich zulegen kann, aber der Organisationsgrad trotzdem überschaubar bleibt.
Bestes Beispiel ist der Onlinekonzern Amazon, wo Verdi seit nunmehr rund achteinhalb Jahren versucht, mit einer Strategie der Nadelstiche tarifvertraglich geschützte Einkommens- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Immer wieder ruft die Gewerkschaft an einzelnen oder mehreren Amazon-Standorten zu temporären Streiks auf, an denen sich jedoch nur ein Bruchteil der Beschäftigten beteiligt. Bisher hat Verdi nicht einmal die Aufnahme von Gesprächen durchsetzen können.
„Differenzierte Lohnpolitik“
Mit einer „differenzierten Lohnpolitik“ will Verdi die diversen Tarifrunden in diesem Jahr bestreiten. „Wer glänzende Geschäfte auch aufgrund der Pandemie gemacht hat, wie zum Beispiel Versicherungen, Banken oder die Deutsche Telekom, muss die Beschäftigten entsprechend an den Gewinnen beteiligen“, gab die stellvertretende Vorsitzende Andrea Kocsis auf der Verdi-Jahrespressekonferenz als Linie vor. „Wo es schlechter läuft, wie in Teilen der Luftfahrtbranche, werden wir das dementsprechend berücksichtigen.“
Die Forderungsspanne reicht je nach Branche oder Unternehmen von einem Euro pro Stunde bis zu einer Lohnerhöhung von sechs Prozent. Eindeutiges Ziel seien aber Reallohnzuwächse. Das dürfte nur schwer zu erreichen sein. Schon beim Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst der Länder im vergangenen Jahr reichte es dafür nicht.
Die Tarifverhandlungen in diesem Jahr würden „knackig“, kündigte Verdi-Chef Werneke an. Eine coronabedingte Streikzurückhaltung werde es nicht geben. Was er nicht sagte: Trotzdem wird Verdi nicht überall streiken, wo sich die Arbeitgeberseite hartleibig zeigt. Denn dazu müsste die Gewerkschaft stärker sein, als sie es in etlichen Bereichen ist. Das ist die Krux: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist entscheidend für die Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht. Fehlt es daran, sind die Arbeitskampfmöglichkeiten beschränkt – und fallen die Tarifergebnisse mager aus.
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