Gewalt in Haiti: „Taliban“ kontrollieren das Land
Die Menschen Haitis leiden unter Brutalität von Banden. Hinter den Gangs stehen Politiker - und eine gescheiterte, ausländische Intervention.
In Haiti standen ab 2004 13 Jahre lang UN-Truppen, um das Land sicherer zu machen. Damals wurden zwei Gangs im Elendsviertel Cité Soleil bekämpft. 20 Jahre später reden wir von mehreren hundert bewaffneten Gruppen. Das Ziel der UN-Mission, Haiti nach dem Erdbeben 2010 besser wieder aufzubauen, ist genauso wenig erreicht worden wie die Befreiung der Frauen in Afghanistan.
Der zweite Grund für die erstaunliche Namenswahl der Bewaffneten dürfte in der Tatsache liegen, dass sie genauso wie die echten Taliban zu den Parias der Welt gehören. Sie sind sich dessen, wie man sieht, wohl bewusst. Sie fordern nicht nur die Haitianer*innen, sondern die ganze Welt heraus.
UN-Sicherheitsrat sanktioniert Gang-Mitglieder
Die Welt tagte in Gestalt des Sicherheitsrats der UNO im Oktober letzten Jahres zu Haiti. Damals waren eine akute Hungersnot, ein Cholera-Ausbruch und die Besetzung der zwei Häfen durch Gangs der Ausgangspunkt, die damit die gesamte Einfuhr von Öl, der einzigen Energiequelle des Landes, unter ihrer Kontrolle hatten. Nach vielen Debatten beschloss der UN-Sicherheitsrat die Sanktionierung von Gang-Mitgliedern und haitianischen Politiker*innen, die mit ihnen in Verbindung stehen. Tatsächlich haben seither ehemalige politische Vertraute der USA Schwierigkeiten, an ihre Gelder im Ausland zu gelangen oder in die USA auszureisen.
Eine von UN-Generalsekretär António Guterres geforderte Interventionstruppe kam nicht zustande. Das lag nicht nur an den Bedenken von Russland und China. Es findet sich einfach kein Land, das bereit wäre, noch einmal eine von der UNO gedeckte Interventionstruppe in Haiti anzuführen. Die USA verweigern sich und bitten seit Monaten inständig Kanada, das Unternehmen zu beginnen. Aber auch Kanada will nicht. Zu gefährlich und zu langwierig. Trotzdem forderte Guterres angesichts der jüngsten Meldungen aus Haiti wieder eine internationale Militärintervention.
Gewaltspirale in Haiti seit Januar
Die jüngsten Ereignisse zeigen, warum niemand daran glaubt, dass eine von außen geführte Militärintervention erfolgreich sein könnte. Vor wenigen Tagen verübten Bewohner in Canapé-Vert, einem bessere Viertel in der Region Port-au-Prince, einen Lynchmord an 13 mutmaßlichen Gang-Mitgliedern. Die Polizei hatte die bewaffneten Männer zuvor festgenommen und der aufgebrachten Bevölkerung überlassen. Sie steinigten sie und zündeten sie mit brennenden Autoreifen an.
Nach Angaben der UNO sind im vergangenen April mehr als 600 Menschen in einer neuen Welle der Gewalt in Haiti getötet worden – von Anfang Januar bis Ende März wurden mindestens 846 Menschen ermordet. Zudem seien Hunderte Menschen entführt und verletzt worden. Auch die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH führt akribisch Buch über die jüngsten Gewaltereignisse. In ihrem April-Dossier spricht sie von mehreren hundert Toten durch die Gang-Gewalt und mehreren Dutzend vergewaltigten Frauen und Mädchen. Die Liste der Grausamkeiten ist endlos. Nach einem Massaker mit 72 Toten in Source Matelas (Gemeinde Cabaret) errichteten die Bewohner*innen Barrikaden gegen einen erneuten Einmarsch der Gangs: Als Strafaktion wurden sie in ihren Häusern verbrannt oder kamen bei der Flucht übers Meer ums Leben. In Bel-Air wurden bei Gang-Auseinandersetzungen Ende Februar 148 Personen umgebracht. (km, epd)
Der haitianische Menschenrechtsanwalt Gédéon Jean sieht darin ein Zeichen: „Heute hast du eine Bevölkerung, die sich selbst organisiert, um Recht auszuüben – aber auch Gangs, die Rache üben wollen und die Bevölkerung angreifen werden.“ Auch die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH (Reseau National de Défense des Droits Humains) berichtet, dass Bewohner*innen immer wieder versuchen, ihre Viertel zu verteidigen. Das aber führt zu schlimmsten Reaktionen der Gangs.
Wie sehr diese Gewalt vollends außer Kontrolle geraten ist oder es doch politische Kräfte in der haitianischen Elite gibt, die sie nach wie vor gezielt fördern, ist die große Streitfrage in Haiti. RNDDH schreibt in seinem Bericht, dass die Regierung unter Ariel Henry keinerlei Maßnahmen unternehme und eine „Politik des Schweigens“ betreibe. Sie habe sogar polizeilich Maßnahmen zur Eingrenzung der Gangs auf bestimmte Viertel aufgegeben und zugelassen, dass es nirgendwo mehr sichere Zonen gebe.
Dass haitianische Politiker mit Gangs verknüpft sind, ist seit Diktator François Duvalier keine Neuigkeit. Er betrieb mit Toton Macoutes eine furchterregende paramilitärische Gruppierung gegen die Opposition und regierte mit derer Hilfe als Dynastie 50 Jahre. Auch unter dem linken Befreiungstheologen Jean-Bertrand Aristide kamen Gangs zum Einsatz.
Unter dem mittlerweile ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse begann eine neue Form von gewalttätigen Massakern. Sie brachten eine große transnationale Bewegung zur Beendigung der Korruption 2018 zum Schweigen. Mit dem Ende dieser Bewegung verschwand der Bericht des Parlaments, der einzelnen Politikern Misswirtschaft mit Erdbebengeldern nachwies. Es kam nie zur Gerichtsverhandlung.
Die Flucht als letzte Überlebensmöglichkeit
Mittlerweile hat der Oberste Gerichtshof keine Richter mehr. Das Parlament ist aufgelöst, weil keine Neuwahlen stattfanden. Dasselbe gilt für den Senat. Bis auf den Ministerpräsidenten Ariel Henry, der nach der Ermordung von Moïse mit Zustimmung der für Haiti entscheidenden Core-Group aus UNO, USA, Kanada, EU, Frankreich und Deutschland eingesetzt wurde, gibt es keine legale staatliche Repräsentanz.
Henry wiederum genießt keine Unterstützung im Land und ruft jedoch nach einer ausländischen Militärintervention, die ihn offenkundig an der Macht halten soll. Deutlich ist, dass es keine Idee gibt, wie man solche Polykrisen wie in Haiti befrieden kann. Die Idee, man könne solche No-go-Zonen von ferne verwalten und einhegen, wird jedenfalls nicht funktionieren. Finanzielle, politische und militärische Interventionen sind an der ausweglosen Lage Haitis beteiligt.
Haitianer*innen versuchen auf allen möglichen Wegen zu fliehen. Es ist die letzte verbliebene Überlebensmöglichkeit. Doch auch das wird immer schwieriger. US-Präsident Biden hatte zu Beginn seiner Amtszeit mit zweifelhafter rechtlicher Begründung Tausende Haitianer*innen, die es in die USA geschafft hatten, zurückdeportiert. Das Nachbarland Dominikanische Republik plant eine Mauer von mehreren Metern Höhe entlang der 300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze und will den Zuzug völlig unterbinden. Das wird die Migration nicht stoppen, aber ihre Bedingungen noch gefährlicher machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz