Gesine Schwan und Ralf Stegner: „Wir halten Gegenwind sehr gut aus“
Gemeinsam kandidieren sie für den SPD-Vorsitz. Gesine Schwan und Ralf Stegner über das Potenzial von Rot-Rot-Grün und über die Aktualität solidarischen Handelns.
Wir treffen Gesine Schwan und Ralf Stegner, unmittelbar nachdem sie am Freitag ihre Kandidatur in der Bundespressekonferenz erläutert haben. Beide sind aufgeräumt und guter Laune. Ralf Stegner hat eigens für diesen Tag „Conquest of Paradise“ als Musiktipp an seine Twitterfollower geschickt. Die Hymne, die den Boxer Henry Maske begleitete, wenn er in den Ring stieg, um seine Gegner zu verprügeln.
taz: Jetzt ist so richtig Bewegung in das KandidatInnenkarussell gekommen. Boris Pistorius, Petra Köpping und auch Olaf Scholz haben sich gemeldet, nachdem Sie beide Ihre Kandidatur verkündet haben. Das Ziel, für viel Wirbel zu sorgen, haben Sie jetzt schon mal erreicht.
Gesine Schwan: Das war nicht unser Ziel.
Nein?
Ralf Stegner: Man geht aufs Feld, um zu gewinnen.
Schwan: Nichts anderes.
Was können Sie denn besser als Ihre MitbewerberInnen?
Schwan: Ich muss mich gar nicht darüber definieren, was ich besser kann als die anderen. Aber ich kann formulieren, was wir beide gut können. Wir sind beide argumentative, diskursive Sozialdemokraten. Wir setzen uns auch mit ganz anderen Positionen auseinander und erschrecken darüber nicht. Wir halten beide Gegenwind sehr gut aus. Und wir wissen, wie wir es schaffen, andere für unsere Position zu gewinnen. Das brauchen wir, wenn wir eine Partei führen wollen, die in der Gesellschaft Mehrheiten gewinnen will.
Frau Schwan, zweimal BundespräsidentInnenamt, jetzt SPD-Vorsitz. Treten Sie eigentlich immer nur zu Wahlen an, bei denen Sie schon vorher wissen, dass Sie verlieren werden?
Schwan: Nein. Ich habe ja auch schon Wahlen gewonnen. Zum Beispiel bin ich zur Präsidentin der Europa-Universität Viadrina gewählt geworden. Jetzt trete ich für die SPD an. Ich würde mir Vorwürfe machen, wenn ich nicht wenigstens anböte, zur Rettung der Partei etwas beizutragen.
Stegner: Dass man von anderen unterschätzt wird, das mag keine schlechte Voraussetzung sein.
Sie sind lieber Underdog als Favorit, Herr Stegner?
Stegner: Als Fan des HSV weiß ich, wie es ist, wenn man kein Favorit ist. Damit kann ich gut leben.
Sind Sie damit zufrieden, Zweite Liga zu sein?
Stegner: Kein Stück. Der HSV gehört für mich in die Erste Liga. So wie die SPD. Die ist momentan in den Umfragen bei 13 Prozent. Gemessen an unserer Mitgliederzahl von 420.000 ist das zweitklassig. Das müssen wir ändern.
Zuletzt herrschte der Eindruck, die SPD ist vor allem damit beschäftigt, ihre Vorsitzende zu stürzen.
Schwan: Der Mangel an innerparteilicher Solidarität und Anerkennung ist offensichtlich und stößt auch viele Menschen ab. Gerade in einer Partei, die Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben hat. Aber wir treten nicht nur an, um durchzubuchstabieren, wie eine solidarische Gesellschaft aussehen sollte, sondern auch dafür, dass mehr Respekt, Anerkennung und Solidarität in dieser Partei gelten muss. Das wäre aus meiner Sicht ein wichtiges Element unseres Führungsstils.
Stegner: Solidarität ist kein Museumswert. Wenn die SPD sie nicht praktisch anwendet, dann überzeugen wir auch andere nicht davon, dass wir das ernst meinen.
Mangelnde innerparteiliche Solidarität scheint bei der SPD allerdings inzwischen zur Tradition zu gehören. Wie wollen Sie damit brechen?
Stegner: Indem wir mit gutem Beispiel vorangehen. Kollegialere Führung ist ein Punkt, der uns helfen kann, aus der Krise zu kommen. Da muss ich die drei kommissarischen Vorsitzenden loben, die machen das gut. Und auch Rolf Mützenich macht als Fraktionsvorsitzender einen guten Job.
Stephan Weil hat schon erklärt, dass er Sie nicht wählen wird. Finden Sie das kollegial?
Schwan: Stephan Weil hat die Niedersachsen-Wahl gewonnen. Darüber habe ich mich gefreut. Wenn er jetzt noch über Niedersachsen hinaus in der Partei für mehr Solidarität und Respekt sorgte, dann würde ich mich noch mehr freuen.
Herr Stegner, Sie haben als Parteisoldat alle Entscheidungen der SPD-Spitze eisern mitgetragen, selbst den Wiedereintritt in die Große Koalition trotz gegenteiliger Ankündigung nach der Bundestagswahl 2017. Wie können Sie da für einen Neuanfang stehen?
Stegner: Ich habe immer gesagt, ich bin kein Freund großer Koalitionen. Aber die Mitglieder haben das 2017 anders entschieden. Die meisten haben abgestimmt wie ich auch, nämlich mit „Ja, aber“.
Das Problem ist doch, dass die Aussage der SPD am Wahlabend, sie gehe auf jeden Fall in die Opposition, selten dumm war. Oder?
Gesine Schwan, 76 Jahre, ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Die habilitierte Politikwissenschaftlerin war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina. Seit 1972 SPD-Mitglied, nominierte ihre Partei sie 2004 und 2009 für das Bundespräsidentenamt.
Ralf Stegner, 59 Jahre, ist stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Parteimitglied seit 1982, war der promovierte Politikwissenschaftlerin von 2003 bis 2008 Finanz- und Innenminister in Schleswig-Holstein. Seit 2008 führt er dort die SPD-Landtagsfraktion an.
Stegner: Ja, wir haben etwas getan, was in der Politik selten ist, nämlich den Gegner überschätzt. Wir haben die FDP überschätzt. Wir dachten, die machen das.
Schwan: Aber zu sagen, man würde nie in eine Koalition mit Angela Merkel gehen, war ein Fehler. Das hätte man doch anders ausdrücken können.
Stegner: Allerdings, Gesine, ich erinnere mich gut an die Stimmung an dem Wahlabend im Willy-Brandt-Haus. Die Rückmeldungen aus allen Landesverbänden war: Wenn ihr heute Abend nicht klar sagt, es ist vorbei mit der Groko, dann ist hier die Hölle los.
Schwan: Na und? Als Führung muss man in solchen Fällen kühlen Kopf bewahren und langfristig denken.
Stegner: Die Niedersachsen, die standen 14 Tage später vor Landtagswahlen. Die haben uns gesagt, wenn ihr jetzt nicht die Groko ausschließt, dann können wir unseren Wahlkampf einstellen.
Schwan: Trotzdem muss ich einerseits eine Landtagswahl im Blick haben und andererseits, was ich als Führung einer Gesamtpartei sagen und womit ich reingelegt werden kann. Oder mich selbst reinlegen kann.
Stegner: Es war im Nachhinein gesehen falsch, ja. Der zweite Fehler war, sich nicht die Zeit zu nehmen, nachzudenken.
Schwan: Deshalb plädiere ich dafür, dass in den Führungsgremien sehr viel mehr längerfristige inhaltliche Fragen besprochen werden müssen. Damit man ein gemeinsames Koordinatensystem entwickelt, unter dem man dann politische Einzelentscheidungen trifft.
Nun ist im Koalitionsvertrag eine Halbzeitbilanz vorgesehen. Wie sieht denn Ihre persönliche Halbzeitbilanz aus? Würde die eher für oder gegen die Fortsetzung der Großen Koalition sprechen?
Schwan: Mein Grosso-modo-Eindruck ist, dass die Sozialdemokraten viel mehr in dieser Koalition zustande gebracht haben als die Christdemokraten. Der Verkehrsminister versagt in seiner Position. Die Landwirtschaftsministerin ebenso. Die Verteidigungsministerin hat nun wirklich kein gut bestelltes Feld überlassen. Unsere Ministerinnen und Minister haben hingegen sehr positive Bilanzen.
In der Tendenz also positiv. Und bei Ihnen, Herr Stegner?
Stegner: Wir haben Gutes erreicht, verkaufen das nicht immer so gut. Es wird jedoch nicht reichen, buchhalterisch zu bilanzieren, was wir gemacht haben. In der Halbzeitbilanz müssen wir auch feststellen, ob wir strategisch wichtige Fragen im zweiten Teil der Legislaturperiode noch gemeinsam hinkriegen: eine Grundrente, die den Namen verdient, einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, der wirklich sozialverträglich ist, und eine Friedenspolitik ohne Rüstungsexporte in Kriegsgebiete und an Diktaturen. Wenn man diese und andere großen Fragen gemeinsam lösen kann, dann kann man die Koalition bis zur Bundestagswahl zu Ende führen. Dann sind das für uns auch Erfolge, mit denen man hinterher für eine neue Mehrheit werben kann. Ansonsten muss man früher selbstbewusst in den Wahlkampf gehen.
Sie finden also, dass Ihre MitbewerberInnen Karl Lauterbach und Nina Scheer auf dem falschen Dampfer sind, wenn sie für ein Raus aus der Groko plädieren?
Schwan: Ich sage nicht, dass sie auf dem falschen Dampfer sind, sondern dass ich eine ganz andere Position habe. Ich finde es völlig falsch, einen im Grunde taktischen Schritt, nämlich raus oder rein in die Koalition, zu einem Selbstzweck zu machen. Aber genauso wenig kann man anstreben, um jeden Preis in der Regierung zu bleiben und den Eindruck zu erwecken, als sei Regieren überhaupt das Einzige, was SPD ausmacht.
Was macht die SPD denn eigentlich noch aus? Die Grünen sind fürs Klima zuständig, soziale Gerechtigkeit schreibt man eher den Linken zu, Wirtschaft ist immer noch Sache der CDU.
Scholz sucht nach Partnerin
Vizekanzler Olaf Scholz (61), der nun doch antreten will, sucht eine Partnerin für die mögliche Doppelführung der SPD.
Bereits ein Duo sind Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (58) und Petra Köpping (61), Sachsens Ministerin für Gleichstellung und Integration. Köpping zielt auf Bürokratieabbau und soziale Gerechtigkeit. Ihm sind Sicherheit und Freiheit wichtig.
Europa-Staatsminister Michael Roth (48) geht mit der früheren nordrhein-westfälischen Familienministerin Christina Kampmann (39) an den Start. Das Duo gehört zum linken SPD-Flügel.
Gegen die Große Koalition sind die beiden Bundestagsabgeordneten Nina Scheer (47) und Karl Lauterbach (56). Ihr Wahlspruch lautet: „Sozial. Ökologisch. Klar.“
Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange (42) tritt zusammen mit dem Oberbürgermeister von Bautzen, Alexander Ahrens (53), an. Lange wollte schon 2018 Parteivorsitzende werden, scheiterte jedoch an Andrea Nahles.
Der Ex-Bundestagsabgeordnete Hans Wallow (79) tritt wie Robert Maier (39), Vizepräsident des SPD-Wirtschaftsforums, allein an.
Stegner: Es ist leicht, nur für ein Thema zu werben. Unser Job als SPD ist es, das zusammenzubringen – und dafür zu sorgen, dass das Leben der Menschen besser wird. Ob das Krankheit, ob das Pflege, ob das Alterssicherung, ob das Arbeitslosigkeit ist. Der Kern ist, dass die Leute wieder mehr merken, dass auf uns Verlass ist. Dass wir in den großen Haltungsfragen nicht schwanken, wissend, dass man in kleinen Dingen Kompromisse machen muss.
Schwan: Da ist übrigens ein Unterschied zwischen der Sozialdemokratie und den Konservativen. Die SPD kann, anders als die Konservativen, nicht nur am Machterhalt interessiert sein. Wir wollen eine Verbesserung der Welt erreichen. Infolgedessen entsteht viel eher eine Diskrepanz zwischen dem, was die Partei erreichen will, und dem, was die Regierung in den Zwängen der Realität machen kann. Da gibt es die Gefahr, die ich auch akut in der Gegenwart sehe, dass manche radikalen linken Politiker der SPD, wenn sie in Regierungsverantwortung kommen, plötzlich einknicken. Wer schon ein bisschen älter ist und mehr Erfahrung hat, weiß, dass das ein ständiges Spannungsverhältnis ist.
Aber gleichzeitig fordern Sie, Frau Schwan, die SPD müsse auch wieder radikaler werden. Inwiefern passt das denn zusammen?
Schwan: Radikal heißt, die Dinge an der Wurzel zu packen. Eine von den Werten der SPD getriebene Politik, das ist für mich radikal. Und dann muss man bei konkreten Projekten gucken, welche Chancen hat man. Welche Unterstützung hat man in der Bevölkerung, in der Partei …
Da sind Sie schon wieder beim Abwägen …
Schwan: Ja, natürlich! Es gibt keine vernünftige Politik ohne Abwägen. Wer das denkt, ist pubertär und will mit dem Kopf durch die Wand. Aber entscheidend ist in der Politik die Kunst, abzuwägen und trotzdem Kurs zu halten.
Ist es nicht ein Problem, dass die SPD in ihren Programmen immer viel will, eine Vermögensteuer etwa. Aber immer weniger Menschen ihr abnehmen, dass die führenden Leute der Partei dafür real kämpfen?
Stegner: Aber deswegen haben Gesine Schwan und ich in unserem Bewerbungspapier geschrieben, was wir wichtig finden: eine Bürgerversicherung etwa, höhere Steuern für Spitzenverdiener und Reiche, mehr Investitionen in Bildung und Infrastruktur statt dem Beharren auf der schwarzen Null.
Mit der Union dürfte das kaum gelingen. Sollte die SPD jetzt offensiv für Rot-Rot-Grün werben ?
Schwan: Wenn wir sozialdemokratisch regieren wollen, dann geht das nur mit Rot-Rot-Grün. Da sehe ich überhaupt keine andere Chance.
Stegner: Ja. Im Augenblick ist eine progressive Mehrheit in Deutschland nur zu erzielen in einer Koalition mit Grünen und Linkspartei. Dafür werben wir in unserem Papier. Trotzdem macht man immer Werbung für die eigene Partei und nicht für andere.
Herr Stegner, in einen Gespräch vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein haben Sie gesagt, sie würden etwas falsch gemacht haben, wenn die Linkspartei in den Landtag kommt. Ist das eine vernünftige Herangehensweise an eine potenzielle Koalitionspartnerin?
Stegner: In Schleswig-Holstein gibt es eine linke Volkspartei SPD, die so stark, aber auch deutlich progressiv ist, dass links von ihr niemand ins Parlament kommt. Das finde ich durchaus positiv. In Deutschland insgesamt ist die Situation eine völlig andere. Im Osten allemal.
Hat die Linkspartei denn für Sie auch im Westen eine Existenzberechtigung?
Stegner: Ja, das hat sie sehr wohl. Ich bin kein Illusionär, habe keine rosaroten Brillen. Die Linkspartei ist auf Dauer da. Und im Augenblick ist eine progressive Mehrheit in Deutschland nur zu erzielen mit einer Koalition mit Grünen und Linkspartei.
Es heißt, Sie wollten ursprünglich gar nicht zusammen antreten, weil Sie sich zu ähnlich seien und nicht jugendlich genug wirkten. Wie kam es zum Sinneswandel?
Schwan: Wir waren beide im Gespräch mit jüngeren Kandidaten. Aber diese sind vor diesem Amt entweder so massiv gewarnt worden oder machten sich solche Sorgen, dass sie sich dem schließlich nicht gewachsen gefühlt haben. Das kann ich auch nachvollziehen, denn im Moment verlangt es viel Lebenserfahrung und Frustrationstoleranz, so ein Amt zu führen. Und dabei noch guter Laune zu bleiben.
Stegner: Gesine Schwan und ich kennen uns länger und haben häufiger schon in unterschiedlichen Konstellationen zusammengearbeitet. Von wegen, wir sind uns zu ähnlich und nicht jugendlich genug! Wir sind ein Powerduett.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch