Gerson Liebl streitet für deutschen Pass: Koloniales Unrecht wirkt bis heute
Gerson Liebl geht in Berufung: Ihm wird der Pass verweigert, weil seine Großeltern wegen rassistischer Gesetze der Kaiserzeit nicht heiraten durften.
„Das Urteil ist Rechtsbeugung“, sagt Liebl, der nach Jahren juristischer Auseinandersetzungen eine Art Experte für Kolonialrecht geworden ist und sich derzeit vor Gericht selbst vertritt – auch mangels Geld für einen Anwalt. Vor allem kritisiert er, dass das Verwaltungsgericht, wie andere Gerichte zuvor, seine Entscheidung letztlich mit kolonialem (Un-)Recht begründet. „Die Gesetze damals waren rassistisch. Wie kann so etwas heute noch gelten?“, fragt er.
Das Problem: „Mischehen“, wie man damals sagte, waren im Kaiserreich nicht gewollt. In den Kolonien und „Schutzgebieten“ wie Togo wurde daher keine Möglichkeit geschaffen, um nach deutschem Recht – vor einem Standesbeamten, mit Urkunde etc. – zu heiraten. Auch wenn Ehen zwischen Deutschen und „Einheimischen“ in Togo, anders als etwa in Samoa, wohl auch nicht ausdrücklich verboten waren. Dennoch konnte Liebls Großvater, Friedrich Liebl, der von 1908 bis 1911 in einem Krankenhaus in Anecho/Togo als Regierungsarzt beschäftigt war, Liebls Großmutter, Kokoé Edith Ajavon, nur nach dem sogenannten „Stammes-Recht“ heiraten.
Allerdings erkannten die deutschen Behörden solcherart geschlossene Ehen nicht an. Weshalb der Sohn der beiden, Liebls 1910 geborener Vater Jean Johann, nach deutschem Recht kein eheliches Kind war – und somit auch kein Deutscher. Denn bis 1993 konnte man die deutsche Staatsangehörigkeit per Abstammung von einem deutschen Vater nur erwerben, wenn die Eltern verheiratet waren.
Perpetuiertes Unrecht
Diese Verknüpfung von Ehe- und Staatsbürgerschaftsrecht nennt Liebl rassistisch – und sein letzter Richter, James Bews vom Berliner Verwaltungsgericht, gab ihm da sogar recht: Diese Gesetze aus der Kaiserzeit seien „selbstverständlich rassistisch“ gewesen, sagte er in der Verhandlung. „Für die Beurteilung der Rechtslage“ sei dies jedoch „nicht erheblich“. Und folgte im Urteil der Linie seiner Vorgänger: Weil Liebls Vater nach damaligem Recht kein Deutscher per Geburt war, sei er selbst es heute ebenso wenig.
Kritik an dieser Sichtweise gab es im Laufe von Liebls langem Kampf immer wieder – und es gibt sie bis heute. Es sei ein „rechtliches und politisches Problem, wenn offensichtlich rassistische Aspekte des Kolonialrechts in heutige Entscheidungen übernommen werden und sich koloniales Unrecht damit perpetuiert“, sagt der Jurist für Internationales Recht an der Universität Wiesbaden, Matthias Goldmann. Zusammen mit dem Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Ralf Michaels, hat Goldmann den „Fall Liebl“ analysiert, weil er in ihren Augen grundsätzliche Fragen zum Umgang mit Kolonialrecht aufwirft.
Für Goldmann liegt die Krux in dem grundlegenden juristischen Prinzip, dass für jeden Fall immer dasjenige Recht in Anschlag gebracht werden muss, das zur fraglichen Zeit galt. Diese „Intertemporalität“ des Rechts wird allgemein als notwendig angesehen, um Rechtssicherheit herzustellen – da man sonst ja alle Entscheidungen rückwirkend angreifen könnte, sobald sich Gesetze – etwa aufgrund neuer Werte – ändern.
Im Zusammenhang mit der Kolonialzeit führe das Prinzip der Intertemporalität aber immer wieder zu Konflikten, erklärt Goldmann. So sei in der Restitutionsdebatte lange argumentiert worden (etwa von Museen), wenn es Kaufverträge oder Schenkungsurkunden gebe, seien koloniale Objekte „rechtmäßiger“ Besitz. „Aber im kolonialen Kontext galt als Recht oder Vertrag, was wohl weder nach den damals für rein deutsche Sachverhalte geltenden Maßstäben noch nach heutigen verfassungsrechtlichen Maßstäben Bestand haben könnte.“
Experte fordert für Abwägung mit Grundrechten
Matthias Goldmann fordert daher, die Grundsätze des intertemporalen Rechts nicht als absolut zu betrachten. Stattdessen müssten sie abgewogen werden gegen die Grundrechte, etwa Artikel 3 (Gleichheitsgrundsatz, Diskriminierungsverbot) oder Artikel 6 Abs. 5 (Gleichbehandlung von unehelichen mit ehelichen Kindern). „Die Intertemporalität muss Grenzen haben“, sagt der Jurist.
In einem ähnlichen Fall hat auch das Bundesverfassungsgericht eine solche Grenze gezogen. 2020 befanden die Karlsruher Richter, dass nichteheliche Kinder von NS-Opfern nicht schlechter gestellt werden dürfen als eheliche. Geklagt hatte eine 1967 geborene US-Bürgerin, deren Vater vor den Nazis geflohen und als Jude ausgebürgert worden war. Sie berief sich auf Artikel 116 des Grundgesetzes, der die Wiedereinbürgerung von NS-Opfern und ihren „Abkömmlingen“ regelt.
Das Bundesverwaltungsamt hatte ihr die deutsche Staatsbürgerschaft verweigert mit dem Argument, zum Zeitpunkt ihrer Geburt hätte sie, selbst wenn der Vater damals Deutscher gewesen wäre, auch kein Recht gehabt, Deutsche zu sein, da ihre Eltern nicht verheiratet waren und ihre Mutter US-Bürgerin war. Nach dem Prinzip der Intertemporalität hatten sie damit wohl recht. Das BVerfG urteilte dennoch, diese Sichtweise sei eine Verletzung der Grundrechte der Klägerin nach Artikel 3 und 6.
Auch Liebl argumentierte in seinem letzten Prozess mit diesem Beschluss des BVerfG – vergeblich. Das oberste deutsche Gericht habe sich bei seiner Entscheidung nur auf „Abkömmlinge“ von NS-Verfolgten nach Artikel 116 bezogen, so der Richter. Zudem habe sich Liebl „nicht auf eine Verletzung seines eigenen Grundrechts (…) bezogen, sondern auf eine Ungleichbehandlung seines nach dem damals geltenden deutschen Recht nichtehelich geborenen Vaters“.
Geht der Fall bis nach Karlsruhe?
Für Goldmann ist das nicht überzeugend. Er sagt: „Wenn man sich die tragenden Gründe des Urteils ansieht, ist das schon mit Liebl vergleichbar. In beiden Fällen geht es um die eklatante Ungerechtigkeit der Ungleichbehandlung von nichtehelichen Kindern.“
Ob die bei „Abkömmlingen“ aus Kolonialzeiten tatsächlich Bestand haben kann, müsste letztlich wohl ebenfalls das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Goldmann hofft daher, dass Liebl mit seiner Berufung durchkommt und seinen Fall bis nach Karlsruhe bringen kann. Dies sei von den Voraussetzungen her zwar „schwierig, aber möglich“.
Wie viele Menschen außer Liebl die Problematik betrifft, kann heute nur geschätzt werden. Die Deutschen dürften aber in allen Kolonien und „Schutzgebieten“ zusammen mindestens einige hundert Kinder gezeugt haben. So seien den Behörden 1912 allein in Togo 243 „Mischlinge“ bekannt gewesen, heißt es in einem Gutachten zum „Fall Liebl“ aus dem Jahr 1999.
Hier könnte der Grund dafür liegen, dass auch die Politik bislang nicht bereit war, das Thema im Sinne der Nachfahren von Kolonisierten abschließend zu regeln, wie dies Unterstützer von Gerson Liebl immer wieder gefordert haben. Doch die Angst, damit vielleicht Hunderte neue „afrikanische“ Deutsche zu schaffen, ist kein Argument.
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