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Geflüchtete in der Corona-KriseGrüne im Ermittlungsfieber

Jeder dritte Geflüchtete in der Bremer Erstaufnahme ist mit Corona infiziert. Nun soll die Senatorin zurücktreten. Lob bekommt sie von ganz rechts.

Flüchtlingsinitiativen fordern seit langem die Schließung des Lagers – vergebens Foto: Hannes von der Fecht

Bremen taz | Der Streit um die Bremer Erstaufnahme für Geflüchtete eskaliert. In der für 750 Menschen ausgelegten Massenunterkunft leben derzeit 374 Menschen – 133 wurden positiv auf Corona getestet. Mindestens ein Geflüchteter ist in stationärer Behandlung, das ganze Lager steht unter Quarantäne.

Das Netzwerk Afrique-Europe-Interact fordert nun den Rücktritt der grünen Sozialsenatorin Anja Stahmann, weil sie mit dem Krisenmanagement „politisch und persönlich überfordert“ sei. Der Flüchtlingsrat wirft ihr Rassismus vor – und fordert eine Entschuldigung. Auch in den eigenen Reihen gibt es offene Kritik am Kurs der Grünen-Politikerin: Die ehemalige Landesvorsitzende Kai Wargalla stellte sich auf die Seite der zahlreichen Flüchtlingsinitiativen, die seit langem eine Räumung des Lagers fordern.

Das Sozialressort habe „zu spät“ und nicht entschlossen genug gehandelt, so ihr Vorwurf auf Facebook: „Viel zu lange“ sei „viel zu wenig“ getan worden. „Es ist im derzeitigen Zustand keine Unterbringung dem Infektionsschutz entsprechend möglich“, so Wargalla. Das bestreitet die Sozialbehörde. Seit Ende März sind 250 Menschen aus der Unterkunft ausgezogen.

Anja Stahmann hatte sich gleichwohl wiederholt gegen eine Schließung der Einrichtung und gegen die von Flüchtlingsinitiativen geforderte dezentrale Unterbringung der Geflüchteten ausgesprochen. Bringe man die Menschen wie gefordert etwa in leerstehenden Hotels unter, so die Behörde, „wird das Problem nur verlagert“.

Umstrittener Gastkommentar

Ihren zahlreichen KritikerInnen hielt Stahmann in einem Gastkommentar im Weser-Kurier vor, es handele sich um „eine kleine, lautstarke Gruppe“, die eine „vornehmlich ideologisch begründete Kontroverse“ führe. „Diese Proteste sind legitim. Sie sollten ernst genommen werden“, sagt dagegen die frühere Landesvorsitzende und Bürgerschaftsabgeordnete Wargalla. Sie wirft Stahmann eine „anmaßende Fehleinschätzung“ der Proteste vor. Und die Grünen-Fraktionsvorsitzende Henrike Müller, lobte auf Facebook die „kritische Zivilgesellschaft“.

Stahmann macht unterdessen den InsassInnen des Lagers schwere, indes unbelegte strafrechtlich relevante Vorwürfe. Nachdem dort wiederholt Papierkörbe in den Sanitäranlagen in Brand gerieten, verbreitete die Behörde eine Pressemitteilung mit dem Titel: „Senatorin Stahmann mahnt dringend Rückkehr zu legitimen Formen des Protests an“. Nur: Bislang gibt es weder Belege dafür, dass es überhaupt Brandstiftung war, noch dafür, dass eine solche von den Geflüchteten ausging, noch dafür, dass diese gegebenenfalls ein Form des Protestes war.

Es gebe „keine Beweise“ für die Anschuldigungen, räumt der Sprecher der Sozialsenatorin ein – aber die Sicht der Behörde sei die „wahrscheinlichste Erklärung“. Eine andere könne er aber „nicht ausschließen“, so der Behördensprecher.

„Die Brandstiftungen wurden offenbar in voller Absicht so abgepasst, dass die Sicherheitskräfte bei ihren regelmäßigen Rundgängen den jeweiligen Bereich gerade verlassen hatten“, mutmaßt seine Presseerklärung. Wegen „mehrfacher schwerer Brandstiftung“ sei nun Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet worden. Die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit“ lobt, dass Stahmann nun „gegen randalierende Asylsuchende“ vorgehe.

Die Rücktrittsforderungen und Rassismus-Vorwürfe der Flüchtlingsinitiativen will die Behörde indes nicht kommentieren, auf die Kritik aus der eigenen Partei reagiert die Behörde mit Hinweisen auf „Gespräche auf allen Ebenen“.

Ausschlaggebend für die Rücktrittsforderung sei nicht, dass es der Sozialbehörde nicht gelungen sei, den massenhaften Corona-Ausbruch zu verhindern, so Afrique-Europe-Interact. Da trage Stahmann „nicht die alleinige Verantwortung“ – die mit zuständige Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard kommt von der Linken.

Die linke Parlamentsfraktion hatte schon im März die sofortige Auflösung der Massenunterkunft gefordert, ihre Fraktionschefin kritisiert das Krisenmanagement. Dennoch trägt Bernhard das Vorgehen ihrer Kollegin Stahmann bisher mit. Mit Hilfe der von der rot-grün-roten Koalition gerade vereinbarten „Maßnahmen zur Belegungsreduzierung wird eine Situation herzustellen sein, in der der Infektionsschutz gewährleistet werden kann“, heißt es von der Gesundheitssenatorin.

Die Grünen-Senatorin behauptet, die Geflüchteten zünden aus Protest ihre Unterkunft an. Belegen kann sie das aber nicht

Afrique-Europe-Interact begründet seine Forderung mit der Art und Weise, wie Anja Stahmann über das von ihr „maßgeblich mitverantwortete Infektionsgeschehen“ spreche. „Am dramatischsten“ sei ihr „völliges Unverständnis für die persönliche und psychologische Situation der Geflüchteten und Migrant*innen“. Diese hätten in der Vergangenheit „extrem belastende Erfahrungen“ gemacht – die aktuelle Situation könne posttraumatischen Belastungsstörungen „erheblich Vorschub leisten“.

Stahmanns Worte über die hohe Zahl an Corona-Infektionen waren „verantwortungslos“, so der Flüchtlingsrat: Ihre Aussage, die Lage in der Einrichtung sei für Virologen interessant, sei „rassistisch“ und degradiere Betroffene zu „Forschungsobjekten“. Stahmann solle sich davon distanzieren.

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20 Kommentare

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  • Die Bremer Erstaufnahme für Geflüchtete fällt doch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz (SGFV), sondern in den Bereich der Senatorin für Soziales, Jugend,Integration und Sport(SJIS).

    Näheres zu den jeweiligen Zuständigkeiten in Bremen finden Sie hier:



    backend.medien.bre...11-gv-im-senat.pdf

    • @Rainer B.:

      ging @Rudolf Fissner

  • Krankenhäuser, Pflegeheime, Gefängnisse, Flüchtlingsunterkünfte. Überall fackelte es auf und von der originär zuständigen GesundheirsSenatorin für Corona, Frau Bernhard von del Linkspartei ist nichts zu hören.

  • Massenunterkünfte waren schon immer problematisch und in Zeiten von Corona sind sie es umso mehr. Der NDR berichtete am 21. April, dass dem Robert Koch-Institut aus Heimen und Massenunterkünften mindestens 14.000 Coronafälle gemeldet wurden. Tatsächlich dürfte die Zahl aber noch viel höher liegen.

    www.tagesschau.de/...len-heime-101.html

  • Bitte schreiben Sie als JournalistInnen doch endlich "Rechts" groß, wenn es sich um die politische Rechte handelt.

    Wir reden hier nicht über ein Adjektiv, sondern wie in "das Hier und Jetzt", "das Gute oder das Schlechte", um eine Substantivierung.

    Irgendwie kapiert das fast die gesamte Zeitungslandschaft nicht.

  • Zumindest die, die (noch) nicht positiv getestet wurden, hätten durch eine Umsiedlung eine Chance, nicht zu erkranken, also sollte man es auch machen.

    Dass das Problem "nur verlagert" würde, könnte man sagen, wenn bereits alle infiziert wären. Dann würde eine Umsiedlung auch nichts mehr bringen. Kontraproduktiv wäre natürlich, wenn den Umgesiedelten keine Quarantäne verordnet würde. Aber auch das wäre ja wohl der Fall.

    Was die brennenden Papierkörbe in Sanitärräumen betrifft, da muss man ja mit gefließten Räumen rechnen, wo solche Feuer praktisch nicht außer Kontrolle geraten können. Da von "schwerer Brandstiftung" zu sprechen, ist schon sehr übertrieben - falls es denn überhaupt Brandstiftung war. Sollte es tatsächlich, entsprechend dem geäußerten Verdacht, eine Form des Protestes sein, wäre es nur zu verständlich: Die Zuständigen (wahrscheinlich noch einige mehr als nur diese Frau Stahmann) werden ihrer Verantwortung ganz offensichtlich nicht gerecht.

    • @Ein alter Kauz:

      Neuinfektionen lassen sich erst mit bis zu zwei Wochen Verzögerung erkennen, und es ist davon auszugehen, dass sich bereits weitere Personen angesteckt haben. Ein negativer Test heute schließt leider keinen positiven Test morgen aus. Die Menschen ausgerechnet in diesem Stadium weiterzuverteilen, kann im ungünstigsten Fall zu weiteren Neuinfektionen führen, und dadurch fühlen sich dann wiederum Menschen in Vorurteilen bestätigt, die niemand hören möchte. So problematisch man die Lindenstraße auch sehen mag, ich befürchte, für eine Umsiedlung ist es bereits zu spät.

      Den Umgang mit dem Thema Papierkorbbrände finde ich ja etwas abenteuerlich. Spontan und wiederholt entzünden sich Papierkörbe ja eher selten, Brandstiftung erscheint schon sehr wahrscheinlich. Aber anstatt solche Handlungen klar zu verurteilen, weil dort Hunderte Menschen auf engstem Raum leben und schnell in Gefahr geraten könnten - z. B. wegen der nicht zu öffnenden Fenster -, liegt der Fokus auf Relativierung, wird lapidar auf den fehlenden Nachweis verwiesen und zT über die Wandbeschaffenheit der Toiletten geredet. Das finde ich wirklich problematisch.

    • @Ein alter Kauz:

      Eine "schwere" Brandstiftung liegt unter anderem vor, sobald diese Tat in von Menschen bewohnten Räumen geschieht. Siehe § 306a StGB.

    • 8G
      83191 (Profil gelöscht)
      @Ein alter Kauz:

      Wie sehen denn bei Ihnen Sanitärräume denn aus?

      Seit wann sind z.B. Raumteiler / Stellwände für die einzelnen Parzellen gefliest? Wenn die in Brand geraten ist der gesamte Sanitärraum vorerst unbrauchbar. Dazu kommt die Rauchentwicklung.

      Ob das nen einzelner Papierkorb unterm Waschbecken war, oder gezielt mit Brandbeschleunigern o.ä. ganze Kabinen abgefackelt werden sollten geht ja nicht hervor. Unter Umständen ist also "Schwere Brandstiftung" durchaus möglich.

  • Ganz allgemein:



    Mit dem Verweis auf das Recht auf Gesundheit werden andere Rechte eingeschränkt.



    Nur die Geflüchteten im Asylverfahren dürfen nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit* beanspruchen, denn der Staat will sie unter seiner Kontrolle halten. Sie müssen sich anstecken.



    Warum?



    Das hat keine Logik, denn so die Kanzlerin "Das Virus kennt keine Staatsgrenzen" - und keine Personalausweise.



    (*z.B. Folgeschäden)



    Herr Fissner: zum wiederholten Mal: die Massenunterkünfte des Asylverfahrens unterstehen der Sozialsenatorin. Die Mitglieder der Linkspartei fordern seit Wochen die Evakuierung der Insassen der ZASt.

    • @nzuli sana:

      Zum wiederholten male: Für Coronamaßnahmen (Schlieung von Einrichtungen) sind in besonderen male die Gesundheitsämter zuständig.

  • Das ist eine schlimme Situation und sicherlich nicht nur in dieser einer Unterkunft.

    Viele Leute auf engem Raum sind für den Virus ein optimale Ausgangslage, egal ob in Slums, in Schulen oder in Massenunterkünften (leider auch Krankenhäuser).

    Diese Situation gilt es zu verhindern oder auf ein Minimum zu reduzieren.

    Auch wenn Asylsuchende in Deutschland keine Lobby haben muss diesen Menschen dennoch geholfen werden, egal von welcher Partei. Dass die Minster keine Lösungsvorschläge haben liegt womöglich an fehlenden finanziellen Mitteln oder fehlenden Räumlichkeiten. Dies müsste von der gesamten Regionalregierung anaylsiert und schnellstmöglich reguliert werden.

    • @Meine_Meinung:

      Gibt es denn zur Zeit besonders viele dieser Massenunterkünfte in Deutschland? Es hat mich schon in diesem Fall gewundert, von einer Unterkunft mit mehreren hundert Bewohnern zu lesen, ich hätte eigentlich damit gerechnet, dass man längst zu einer Einquartierung in kleineren Wohnheimen und normalen Wohnungen übergegangen ist. Massenunterkünfte, das kannte ich von der Berichterstattung über Libyen und Griechenland. Klar, dort ist die Situation noch mal viel schlimmer, aber über dreihundert Leute auf engem Raum, das ist auch schon heftiger, als ich in Deutschland für möglich gehalten hätte.

      • @Ein alter Kauz:

        Die Lindenstraße ist eine Erstaufnahmeeinrichtung, in der Neuangekommene ihren formellen Asylantrag stellen und (i.d.R.) 6 Monate bleiben müssen. Danach erfolgt (i.d.R.) ein Transfer in eines der Übergangswohnheime, die selten deutlich über 150 Bewohner:innen haben momentan.

  • Ähm. Was ist mit der Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Die Linke)?

    Die zentrale Aufgabe der Gesundheitsämter ist es, die Bevölkerung zu schützen und eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Warum wird Frau Bernhard im Aufruf von Afrique-Europe-Interact ( afrique-europe-int...emen-26042020.html ) mit keinem Wort erwähnt?

    Die Forderungen wirken unglaubhaft und so als ob man im "eigenen Lager" niemanden weh tun will. Schade eigentlich.

    • @Rudolf Fissner:

      Hm. Der Artikel zitiert explizit Afrique-Europe-Interact: "Da trage Stahmann 'nicht die alleinige Verantwortung' – die mit zuständige Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard kommt von der Linken".

      Ich weiss nicht, wie Sie lesen.

      • @tomás zerolo:

        Im Satz "Denn hierfür trägt Anja Stahmann nicht die alleinige Verantwortung, das hat die politische Debatte in den letzten Wochen hinreichend gezeigt" im Artikel afrique-europe-int...emen-26042020.html kommt weder das Wort Linkspartei noch das Wort Bernhard vor.

        • @Rudolf Fissner:

          Jetzt haben Sie mich aber verwirrt: worauf wollen Sie hinaus? Haben Sie Kritik an Afrique-Europe-Interact (dass die nämlich Bernhard und die Linkspartei verschonen)?

          Dann beschweren Sie sich doch dort und nicht hier.

          • @tomás zerolo:

            Ich habe Sie nicht verwirrt. Sie haben lediglich nicht realisiert, das ich mich auf die fett verlinkte Pressemitteilung von Afrique-Europe-Interact bezog.



            "im Aufruf von Afrique-Europe-Interact" ungleich taz-Artikel.

      • @tomás zerolo:

        Kommentar entfernt. Bitte bleiben Sie sachlich. Danke, die Moderation