Geflüchtete in Belarus: An die Grenze für 300 Euro
In Minsk warten Hunderte Migranten darauf, in Richtung Polen weiterreisen zu können. Nicht nur für Taxifahrer ist das ein lukratives Geschäft.
Unabhängige Journalisten werden nicht ins Grenzgebiet gelassen. Akkreditieren können sich nur Mitarbeiter der Staatsmedien, die so berichten, wie es dem sogenannten Präsidenten Alexander Lukaschenko nützt.
Ein junger Mann erzählt in gebrochenem Englisch: „Ich bin schon seit zwanzig Tagen hier. Mit meinem Bruder. Wir warten darauf, dass wir zur Grenze gebracht werden. Wir wollen nach Deutschland. Hier ist es sehr kalt, in Polen und Deutschland ist das Wetter besser.“ Auf die Frage, was sie in Deutschland tun wollen, sagt er, das wisse er nicht. Aber er müsse trotzdem nach Deutschland. Bei dem Wort „Deutschland“ nicken die anderen Männer, die kein Englisch sprechen, zustimmend und schnalzen mit den Zungen.
Gefragt, ob sie Deutsch können, verneinen sie. „Vielleicht wollt ihr lieber in Belarus bleiben? Für euch ist es hier sicher. Man kann Arbeit finden und eine Wohnung, vielleicht eine Familie gründen“ – solche Vorschläge machen die Minsker den vermutlich kurdischen Flüchtlingen. „Nein, nein, nein!“ Eine Rückkehr nach Irak ziehen sie nicht einmal in Betracht.
Für die einen ist es Krieg, für die anderen ein gutes Geschäft
Das Angebot, ihnen Wasser und etwas zu essen zu kaufen. lehnen sie ab: „Wir haben alles.“ Dann klingelt ein Handy. Der Angerufene zieht ein Modell aus der Tasche, das sich viele Belarussen nicht leisten könnten.
In den Handyläden des Einkaufszentrums erzählen die Verkäufer, dass die „Touristen“ oft Ladegeräte kauften. Sie zeigten mit dem Finger auf die Kabel, Englisch sprächen sie nicht. „Sie kaufen gezielt SIM-Karten für internationales Roaming.“ Während des Gesprächs vor dem Einkaufszentrum gehen Promoter eines belarussischen Mobilfunkanbieters auf die Migranten zu und sprechen sie an.
Für die einen ist das, was gerade passiert, ein Krieg. Für die anderen ein lukratives Geschäft, zum Beispiel für die Taxifahrer. Sie freuen sich über die Migranten. Eine Fahrt von Minsk zur Grenze bei Grodno kostet mindestens 300 Euro. Für manche Belarussen ist das ein Monatsgehalt.
Anna, die in der Nähe des Einkaufszentrums wohnt, erzählt: „Soweit ich von meinen Nachbarn weiß, sitzen die Leute bis nachts um drei in unserem Innenhof, dann holt man sie ab und bringt sie an die Grenze. Ich selbst habe noch nicht mit ihnen geredet, denn sie sprechen nur Arabisch oder Kurdisch. Sie wissen, warum sie hier sind, und interessieren sich nicht für uns Belarussen. Ich glaube, man hat sie angewiesen, mit niemandem zu reden und sich einfach dumm zu stellen.“ Einige von ihnen lebten hier in der Nähe im Hotel. Andere schliefen in Schlafsäcken in den Durchgängen und sogar auf der Straße. Es seien gerade ziemlich viele. „Mir scheint, dass diese Woche eine Rekordzahl an Menschen hergebracht wird. Aber das Lager hier in der Nachbarschaft bleibt immer gleich groß. Das bedeutet, dass einige dazukommen und andere wegfahren“, sagt Anna.
Auf Tiktok kursieren etliche Videos der „Touristen“
In der Zwischenzeit kommen kontinuierlich weitere Migranten nach Belarus. Auf dem Videoportal Tiktok kursieren viele aktuelle Videos dieser „Touristen“. Zum Beispiel, wie sie in Flugzeugen der staatlichen Fluggesellschaft Belavia posieren. Auf Facebook posten sie Videos aus dem Einkaufszentrum „Galereja“, einige davon haben schon 6.400 Likes und 3.000 Kommentare, die meisten in arabischer Schrift.
Auf einem Telegram-Kanal mit 6.000 Mitgliedern gibt es eine lebhafte Diskussion, vor allem auf Arabisch oder Kurdisch. Aber ab und zu tauchen dazwischen auch warnende Kommentare auf Englisch auf: „No need to fly to Belarus. You will lose money, and you will never get to Europe.“ Als Antwort gibt es dann Äußerungen wie: „If f you want to help, then go to the borders and offer aid to the poor immigrants and not telling lies … just get out … this is our kurdish room.“
Es ist ein offenes Geheimnis, dass an der Grenze auf belarussischer Seite jetzt viele bewaffnete Soldaten sind. Es wird erzählt, dass diese Soldaten die Menschen in die Wälder jagten, damit sie illegal die Grenze passierten. An den offiziellen Grenzübergängen, wo man legal um politisches Asyl bitten könnte, seien bislang nach Aussagen der polnischen Seite so gut wie keine Menschen aufgetaucht.
Interessant ist Artikel 371 des belarussischen Strafgesetzbuches. Dieser Vorschrift zufolge wird das vorsätzliche illegale Übertreten der Staatsgrenze einer organisierten Personengruppe mit Freiheitsentzug von drei bis sieben Jahren bestraft.
Während des Zweiten Weltkriegs hatte die UdSSR so genannte Sperrabteilungen. Das waren NKWD-Mitarbeiter (das NKWD war das sowjetische Innenministerium, das neben klassischer Ministeriumsarbeit auch Aufgaben der Geheimpolizei und des Geheimdienstes übernahm; Anm. d. Redaktion).
Sie wissen noch nicht, dass sie Kanonenfutter sind
Die verzweifelten Iraker haben noch nicht begriffen, dass sie Kanonenfutter sind. Für Lukaschenko wäre es besser, wenn sie in den belarussischen Wäldern erfrieren würden. Dann könnte man Europa für ihren Tod verantwortlich machen.
Die bewaffneten Sicherheitskräfte lassen kranke Menschen nicht aus den Wäldern in die Städte zurückkehren, um dort auf besseres Wetter zu warten. Ein Migrant erklärte gegenüber der Redaktion eines Telegram-Kanals, dass es in Belarus als extremistisch angesehen werde, dass sie nicht „über die Grenzzäune klettern“ wollten. Wortwörtlich sagt er dort: „Wir warten, dass die Europäische Union uns die Grenze öffnet und wir nach Deutschland können.“
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch